Prolog
„Mama", flüsterte das Mädchen. „Mama, ich habe Hunger. Bitte wach auf."
Die kalten Lider ihrer Mutter blieben geschlossen. Sie schimmerten lila im ersten Licht des Morgens.
Für diese Zeit war es ungewöhnlich still, nur die letzten Vögel krächzten ihre letzten Weisen.
Der Tag versprach golden zu werden. Einer von den späten im Herbst, wenn die roten und braunen Blätter die schwächer werdenden Strahlen der Sonne zurückwarfen und man meinte, ein erster, von fern heranwehender Kuss des Winters würde einem die Wange streifen.
Früher hätte man dann das Muhen einer Kuh gehört, den würzigen Duft der Ställe gerochen und einen Blick auf die vollen Scheunen geworfen, in denen die Ernte lagerte, die einen in der dunklen Zeit nähren würde. Dann hätte man gewusst, dass alles gut war und bleiben würde.
Der Arm, an den sich das Mädchen geschmiegt hatte, war kalt und wirkte hart, wie ein Stück Holz, dass man an einem eisigen Tag von draußen geholt hatte und nun in ein Feuer legen wollte.
„Mama", flüsterte sie wieder, doch die Augen der Frau öffneten sich noch immer nicht. Das Kind glitt vom Bett und deckte seine Mutter zu, damit sie nicht frieren möge.
Jetzt, wo sie keine eigene Wärme mehr zu geben hatte, sollte die dicke Wolle sie warm halten.
Es bemerkte nicht einmal, wie es weinte.
Tränen waren immer wohlfeil gewesen, aber jetzt, als zuerst das Husten und dann das Fieber sich zu den Menschen im Dorf ins Bett gelegt hatte und sie schließlich von der Hohlen Mutter in die Leere geleitet worden waren, waren sie so normal wie atmen.
Man dachte nicht mehr darüber nach.
Als sie die Decke fest um den Leichnam gesteckt hatte, kletterte das Mädchen noch einmal zu dem Körper, der ihre Mutter gewesen war und küsste ihn auf die Stirn.
„Leb' wohl. Bitte warte auf mich, Mama." Dann verließ sie das Haus, ohne einen Blick zurück.
Sie wollte zum Laden der Krautfrau, ihr sagen, dass sie heute nicht kommen brauche und sie fragen, was sie nun tun solle.
***
Maude war eine der Letzten, die nicht erkrankt waren und kümmerte sich um die, die ihre Hilfe noch benötigen konnten.
Die zurückliegenden Monate waren kräftezehrend gewesen.
Es hatte mit ein paar harmlosen Unpässlichkeiten begonnen, zuerst bei dem Priester, der im Landstrich die Dörfer und Weiher mit Gebeten versorgte, dann auch bei dem Wirt des kleinen Gasthauses. Dieser hatte noch eine lange Weile weitergearbeitet und Bier ausgeschenkt, bis er eines Abends hinter seinem Tresen zusammengebrochen war.
Er hatte über taube Glieder geklagt und zeitweise das Gefühl in ihnen verloren, dann waren dicke Knoten unter seiner Haut aufgeschwollen und die Krämpfe hatten begonnen.
Wenn diese aufhörten und der Kranke kaum noch ansprechbar einfach da lag, war die Hohle Mutter nicht mehr weit, wie Maude schnell gelernt hatte.
Diese kurze Zeit war von den Menschen bald „der kleine Frieden" genannt worden, denn auf ihn folgte unweigerlich der große und ewige. Sie hatte alles versucht, aber schließlich nicht mehr tun können, als an den Krankenlagern zu stehen und den Patienten Mixturen einzugeben, die keine Linderung brachten und sie mit Salben einzureiben, die kaum Wirkung zeigten.
Eines Tages hatte einer der Bauern seinen kleinen Sohn zu Maude gebracht, der einen bösen Husten und Fieber hatte. Der Bauer war vor kurzem allein im Dorf gewesen, um ein paar Werkzeuge beim Schmied reparieren zu lassen. Die Krankheit verzehrte ihre Opfer langsam und das Kind hatte lange gelitten, bis sein Zustand nach einigen Wochen so schmerzlich anzusehen gewesen war, dass der Vater Maude unter Tränen gebeten hatte, es seinem Sohn leicht zu machen, sich in die Umarmung der Hohlen Frau zu fügen.
Ein Nachbar, der später ins Dorf gekommen war, hatte ihr erzählt, dass die Mutter des Jungen ebenfalls krank geworden war. Nachdem man beinahe zwei Wochen nichts von ihr oder ihrem Mann gehört hatte, war man nachsehen gegangen, nur um beide tot aufzufinden.
Die Frau im Bett, mit Blumen um sich her und den Mann am Ast eines Baumes hinter dem Hof, auf dem die Familie bis dahin gelebt hatte.
Und so war es immer weitergegangen.
Einige waren fortgelaufen und hatten ihr Heil in der Flucht gesucht. Familien hatten sich getrennt und das Leben der kleinen Siedlung und auf den Weilern rings um war zum Erliegen gekommen.
Nun kniete Maude mit einem Bündel Beifuß vor der Feuerstelle und warf Stengel um Stengel auf die brennenden Scheite. Dabei sang sie eine alte, langsame Weise, die schon seit langer Zeit von den Krautfrauen benutzt wurde, um sich das Flammensehen zu erleichtern. Sie wußte nicht weiter und hoffte, einen Hinweis aus dem Feuer zu erhalten, was sie tun sollte.
Mit jedem Halm und jeder gemurmelten Strophe wurde das Bild klarer, bis es so deutlich vor ihr stand, als würde Maude einen Blick aus dem Fenster werfen.
Sie sah hoch aufragende Türme über den schneebedeckten Dächern einer verlassenen Stadt. Die Türme gehörten zu einer Burg, von deren Zinnen fahlgelbe Banner wehten. Es schneite weiße Blüten, die sanft über den Dächern niedergingen, aber sobald sie den Boden berührten, verwandelten sie sich in Asche, die von schwarzen Schwingen hinweggefegt wurde.
Holz knackte und ein Schauer kleiner Funken flog auf Maude zu. Sie legten sich erkaltet in zarten Flocken auf ihre Kleidung und Haut.
Die alte Frau begann zu zittern und trennte ihren Geist sogleich sorgfältig von den Bildern in den Flammen. Das restliche Kraut ließ sie neben sich auf die Dielen sinken. Ihr war kalt, obwohl sie direkt vor der Feuerstelle hockte und es bereitete ihr einige Schwierigkeiten, ganz in die Wirklichkeit ihrer Hütte zurückzukehren, als hätte sie keinerlei Übung in diesen Dingen. Wie oft, hatte ihr das Feuer nur Unverständliches gezeigt.
Die Tür quietschte leise. Maude drehte sich um und sah das Mädchen auf der Schwelle stehen. Es sah sehr blass aus und seine Augen waren gerötet. Die massige Frau wußte sofort Bescheid. Sie rappelte sich auf und ging zu dem Kind hinüber.
Während sie es kniend umarmte, verzogen sich die letzen Schwaden der Benommenheit, die sie nach dem Flammensehen gefangen gehalten hatten. Es gab nun Wichtigeres.
Nach einer langen Weile schien die Kleine bereit, sich aus ihrer weichen Umarmung zu lösen.
Maude nahm sie bei den Schultern und erklärte: „Nela, wir müssen fort. Der Winter ist bald hier, und ich allein kann die Toten nicht fortschaffen. Hier gibt es nichts mehr für mich - und für Dich auch nicht. Verstehst Du das?"
Nela nickte.
„Gut", sagte Maude.
Nachdem sie dem Kind Frühstück hingestellt hatte, begann sie ohne Hast einige Sachen zusammenzusuchen, die sie auf der Reise brauchen würden.
Bei einem kurzen Besuch in Nelas Geburtshaus, holte sie einige Kleidungsstücke für das Kind und eine Puppe, die dessen Mutter einst für es genäht hatte.
Gegen Mittag beluden sie zusammen einen kleinen Handkarren mit Decken, Kleidung und Proviant.
Maude verstaute sorgfältig auch einige Heilmittel und Kräuter und dann machten sie sich auf den Weg.
Die alte Heilerin wollte zu einem Dorf, ein paar Tagesreisen von hier, und hoffte, dass dort noch niemand von dem zehrenden Fieber betroffen sein würde. Falls ihre Hoffnung sie trog, wie sie es oft in ihrem Leben getan hatte, würden sie weitergehen und dann noch weiter. Sollten sie jedoch irgendwo die hohen Türme entdecken, die sie in den Flammen gesehen hatte, würden sie sich sofort umwenden und in eine andere Richtung davongehen, so schnell sie konnten.
Nela lief neben dem Karren her. Sie drehte sich nach einem Stück Weges noch einmal um, um auf ihr Dorf zurückzublicken, bevor es hinter den Sommerhügeln - so nannte man die Gegend - verschwinden würde.
Vorn am Wagen musste Maude husten.
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