8 Novalis

Sie erwachte ungewöhnlich früh am nächsten Morgen, als es kaum dämmerte.
Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden und jetzt, in dieser stillen Stunde, fühlte sie sich erstmals ganz wie sie selbst, seit sie Brückfeldingstein zurückgelassen hatte.
Die junge Gräfin streckte sich ein wenig und genoß die glatten, weichen Stoffe des Bettzeugs.
Sie glitt unter den Decken hervor und tippte mit den Zehen auf den weichen Teppich, der so dick war, dass ihre Füße einsanken, als sie sich erhob.
Über Nacht war die Kühle des aufziehenden Winters in den Raum gekrochen.
Es war unmöglich, durch das kleine Fenster in der Nische einen Blick hinaus zu werfen, weil es aus massiven, runden Glassteinen bestand. Sie tappte hinüber und öffnete es.
Kalter Wind fuhr ihr ins Gesicht. Er trieb einen feinen Nebel aus Regen und Eis über ihre Wangen.
Adhara war froh, endlich angekommen und nicht mehr unterwegs zu sein.
Sie schloss das Fenster und läutete nach einer Magd.

Kurz darauf erschienen Margie und ein Mädchen, dass sie schon gestern gesehen hatte und begannen, sie für den Tag vorzubereiten.
Ihre Freundin aus Kindertagen trug nun ebenfalls die Kleider der Dienerinnen im Palast, sah aber noch immer aus, als würde sie sich unwohl fühlen und nicht hierher gehören.
Adhara konnte es ihr nicht verübeln.
Zu ihrem Erstaunen war über Nacht bereits das erste ihrer neuen Kleider fertiggestellt worden und die Mägde kleideten sie in ein zart-rosa Gewand, dass der Farbe ihrer Haut genau so schmeichelte, wie die Baronin es ihr am Vortag versprochen hatte.
Sie strahlte, als sie sich in dem hohen Spiegel betrachtete.

Nachdem sie fertig angekleidet war, betraten weitere Mädchen den Raum und tischten ein Frühstück auf, dass den Köstlichkeiten des Vorabends in nichts nachstand. Adhara nahm sich vor, den Wein nicht anzurühren.
Ihnen folgte die Baronin von Mildsee, die ihr herzlich einen guten Morgen wünschte, ausschweifend das neue Kleid lobte und ihr dann mitteilte, was der Tag für sie bereithielt.
Noch vor dem Mittag sollte sie dem König vorgestellt werden!
Endlich konnte sie ihm gegenüberstehen und musste sich nicht länger mit einem Porträt begnügen, das die Wirklichkeit nur unzureichend abbilden konnte.
Am Nachmittag sollten dann, wie versprochen, die besten Schmuckmacher der Stadt zu ihr kommen, um ihre Waren zu präsentieren.

„Bis Ihr Euren neuen Schmuck erhaltet, erlaubt mir, Euch das zum Geschenk zu machen."
Mit diesen Worten überreichte ihr die Baronin ein kleines Kästchen.
Adhara öffnete es. Darin lag eine Kette mit einem funkelnden blauen Anhänger, der in einen Kranz aus kleinen, silbernen Flachsblüten eingefasst war.
„Ein Stein, wie in der Krone Eures zukünftigen Gemahls und die Blüten der Pflanze, die Oranborns Reichtum symbolisiert. Wenn Ihre Majestät, die Königinmutter, das sieht, wird sie es sofort als ein Zeichen Eurer Hingabe an das Land und Eure Liebe zu ihrem Sohn erkennen." Die ältere Frau strahlte sie an und Adhara brachte es nicht über das Herz, das gedankenvolle Geschenk abzulehnen.

Sie bedankte sich überschwänglich und ließ sich die Kette von der Baronin umlegen.
Der Stein betonte die Farbe ihrer Augen und das Silber harmonierte mit den Stickereien auf ihrem neuen Kleid. Der König würde beeindruckt sein.
Ihr Glück wurde allerdings empfindlich durch die Eröffnung gedämpft, dass die Hochzeitsfeierlichkeiten nur an einem kurzen Tag direkt vor Beginn des Achtmonats stattfinden würden.
Sie hatte auf ein glanzvolles Fest gehofft, dass sich über mehrere Tage hinzog, mit einem Turnier vielleicht und Tanz und Musik. Sie wollte erlesene Speisen genießen, bis sie ganz rund war und ihre Schuhe durchtanzen, wie die Prinzessinnen in ihren Sagen.
Von den Erinnerungen hatte sie den ganzen Winter zehren wollen, bis sie im Frühjahr selbst die nächsten Feste und Tänze veranstaltete.
Tatsächlich schien die Hochzeit bereits vollständig geplant zu sein.

Adhara beschloss, ihren zukünftigen Gemahl darauf anzusprechen und eine Ausweitung der Feierlichkeiten zu erwirken.
Männer hatten für so etwas oft keinen Sinn und vielleicht wußte ihr Bräutigam gar nicht, wie die Vermählung eines Königs ablaufen sollte. Sicher schlug er ihr den Wunsch nicht ab, wenn sie ihn darum bat.
Bevor sie ihre Gemächer verließ, drehte sich Adhara noch einmal vor dem hohen Spiegel und den Augen der Dame von Mildsee.
"Ihr seht strahlend aus, Hoheit. Ihr werdet die Schönste von allen sein!", rief sie verzückt und bestätigte die Gedanken, die Adhara, ein wenig verschämt, selbst gehabt hatte.
Schließlich wies die Baronin mit einem zierlichen Wink zur Tür. "Es ist Zeit, Euer Hoheit. Der König erwartet Euch sicher schon."
Adhara nahm sich noch einen Moment Zeit, um sich zu sammeln und warf einen letzten Blick auf das gemalte Antlitz ihres zukünftigen Gemahls neben dem Bett.
Dann schritt sie hinaus in den Flur.

Die Baronin führte sie wieder durch endlos scheinende Gänge, allerdings meinte Adhara zu erkennen, dass sie nicht in Richtung der Halle liefen, in der sie gestern die Königinmutter getroffen hatte.
Schließlich bogen sie um eine der zahllosen Ecken und gelangten in einen Vorraum.
Von ihm zweigten weitere Gänge und eine offene, zweiflügelige Tür ab, vor der vier schwergerüstete Burgwachen Stellung bezogen hatten. Der Raum war hell erleuchtet und Kohlebecken wärmten eine Schar Menschen, die in kleinen Gruppen zusammenstanden und ausnahmslos kostbar gekleidet waren.
Durch den Eingang tropfte ein steter Strom von Leuten, die heraus- oder hineinwollten.

Als man die zukünftige Königin bemerkte, verstummten alle Gespräche; die Damen knicksten und die hohen Herren verbeugten sich.
Adhara nahm die Höflichkeitsbezeugungen entgegen und erwiderte sie, wie sie hoffte, mit einem würdevollen Nicken. Dabei versuchte sie unauffällig einen Blick in das Innere des riesigen Saales hinter der Tür zu erhaschen.

Er war noch weit größer, als der, in dem die Begrüßung am Vortag stattgefunden hatte.
Von einer Seite des Raumes, die Adhara nicht sehen konnte, schien Tageslicht einzufallen. Massive Säulen trugen die Decke, die so hoch war, dass sich ihr Abschluss ihrem Blick entzog.
Der Boden bestand aus einem grauen Gestein, das sorgfältig poliert worden war und von roten und schwarzen Adern durchzogen wurde.
In der Nähe der zahlreichen Kerzen und Feuerschalen sah es aus, als würden sie in dem unruhigen Licht pulsieren.
Aus dem Grund erwuchsen am hinteren Ende des Saales ein Podest und eine Wand, in die eine flache, höhlenartige Öffnung getrieben worden war. In dieser stand der Thorn, aus dem selben, harten Granit.
Daneben befand sich ein weiterer, jedoch kleiner und aus Holz, das über und über mit Schnitzereien und metallenen Beschlägen versehen war.
Auf diesem saß die Königinmutter, die sich gerade zu dem Steinthron hinüberneigte, um mit einer schmalen Gestalt mit blondem Haar zu sprechen.
Der König.

Er kam Adhara viel kleiner vor, als auf seinem Porträt und sicher kleiner als in ihrer Vorstellung.
„Hoheit", drang die Stimme der Baronin plötzlich an ihr Ohr.
Sie fuhr herum.
„Hoheit, entschuldigt bitte." Die Frau hob beschwichtigend die Hände und war offenbar von der hastigen Bewegung überrascht. „Seid Ihr bereit, Hoheit?"
Eingedenk der Worte des Ritters, verzichtete Adhara auf eine Entschuldigung für ihr Verhalten und forderte die andere nur knapp auf: „Bitte. Geht vor!"
Die Baronin wendete sich der Tür zu und sie folgte ihr gemessenen Schrittes.

Trotz seiner Größe war der Raum gut gefüllt und Diener schoben sich zwischen den kostbar gekleideten Menschen hierhin und dorthin.
Eine Stimme, die durch den gesamten Raum schallte und augenblicklich jedes Gespräch zum Erliegen kommen ließ, kündigte sie an, als sie gerade die Wachen passierte.
„Ihre Hoheit, die Gräfin von Brückfelding und Starkfels."

Alle Augen wandten sich ihr zu und selbst der König unterbrach das Gespräch mit seiner Mutter.
Adhara schluckte ihre Aufregung hinunter und begann den langen Gang, der bis vor den Thorn führte, hinabzuschreiten.
Die Baronin blieb hinter ihr zurück.
Einen Moment sah sie sich stolpern und vor dem gesamten Hof, der Königinmutter und ihrem zukünftigen Gemahl zu Boden stürzen. Sie konzentrierte sich darauf zu lächeln und heftete den Blick fest auf ihr Ziel.
Alles ging gut.

Während sie näher kam, erkannte sie vor und neben dem Thorn auch einige Ritter in prächtigen Rüstungen. Jeder von ihnen trug einen strahlend roten Umhang um die Schultern und ein gefährlich aussehendes Schwert um die Hüften. Sie schienen bereit, sie jeden Moment zu ziehen.
Einer von ihnen war Thorn von Goldwald, der seine Kameraden um einiges überragte.
Sie hatte ihn von draußen nicht gesehen, weil er weit am Rand, etwas entfernt von der Mitte stand.
Er ließ nicht erkennen, das er sie wahrnahm und hielt seine Augen gerade nach vorn gerichtet. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.

Als sie endlich vor dem Podest ankam, war sie beinahe froh, zu einem Knicks zusammensinken zu dürfen und einen Augenblick niemanden sehen zu müssen. Sie wirkte wie eine seltene Blüte, die wundersamerweise auf nacktem Fels erblüht war.
Wieder ließ man sie warten.
Dann endlich hörte sie die erlösenden Worte: „Erhebt Euch."
Adhara glitt in eine aufrechte Haltung zurück und warf einen Blick auf die Königinmutter, um zu sehen, ob sie ihren Auftritt billigte.
Deren Augen aber waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und die Lippen hatte sie zu einem schmalen Strich aufeinandergepresst. Sie schien die Kette um ihren Hals betrachten, die ihr die Baronin vorhin umgelegt hatte.
Nun war jedoch nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln. Vor ihr stand ihr zukünftiger Ehemann und sie konnte ihn endlich von Angesicht zu Angesicht in Augenschein nehmen.

Es war der junge Mann auf dem Bild.
Doch er war hager und fast einen halben Kopf kleiner als Adhara. Seine Nase war spitz und sein Kinn schmal.
Allein seine hohen Wangenknochen verliehen ihm einen edlen Ausdruck, doch passten seine Züge nicht recht zusammen. Das Haar, das auf dem Porträt so golden und voll geglänzt hatte, war kurz und dünn und wurde von einem breiten, goldenen Reif auf den Schädel ihres Bräutigams gedrückt.
Die Krone wog sicher schwer, denn sie war im Wechsel mit Luchssaphieren und geschliffenen Brocken des Gesteins aus dem Thronsaal verziert.
Adhara wunderte sich, dass der zarte Junge unter ihrer Last nicht zusammenbrach.
Das einzige, das auf der Miniatur nicht geschönt war, waren die prächtigen Kleider.

„Ich bin über alle Maßen ergriffen und verzückt von Eurer Schönheit, meine Dame und fühle mich geehrt, dass ihr den langen Weg zu dieser Jahreszeit auf Euch genommen habt", haspelte er hervor, als hätte er diesen Satz zuvor auswendig gelernt. Seine Bewegungen waren fahrig.
Adhara klammerte sich an ihr Lächeln.
Sie folgte einfach dem Ablauf der Szene, die sie sich seit dem Eintreffen des Briefes in Brückfelding ausmalte, auch wenn ihr prachtvoller König nun von einer ganz anderen Gestalt ersetzt worden war.

„Ihr seid zu freundlich mit mir, Majestät. Meine Schönheit verdanke ich nur dem Glanz, den ihr gnädig auf mich abstrahlt. Ich bin Eure ergebene Dienerin und das Wissen um unsere bevorstehende Begegnung hat mich auf dem Weg gewärmt", versuchte sie sich an der gestelzten Sprache, die am Hof üblich war.
Ihre Blicke trafen sich und Adhara, die damit gerechnet hatte, ihr Herz in der Brust entflammen zu fühlen, wie Öl, an das man einen Funken setzte, fühlte nichts.

Die blassblauen Augen des Königs schwammen über feuchten, zart geröteten Lidern, die ihm ein erschöpftes Aussehen verliehen.
Er löste seinen Blick mühelos von ihr und schien keineswegs so überwältigt von ihrem Anblick, wie seine Worte es verkündet hatten. Unsicher sah er zu seiner Mutter hinüber, die ihm kurz zunickte, woraufhin er sich wieder Adhara zuwandte. Ihr Bräutigam stieg von dem Podest herunter und kam auf sie zu.
„Begleitet mich auf einen Spaziergang. So können wir uns ungestörter unterhalten, als hier."
Seine Augen huschten über die Menge. Konnte er sich tatsächlich noch unwohler fühlen, als sie?

Der König setzte sich überraschend schnell in Bewegung und strebte dem Ausgang zu, sodass sie Mühe hatte, ihm zu folgen.
Ein Teil der Königsgarde formierte sich um sie und folgte ihnen, darunter auch Thorn von Goldwald.
Sie entdeckte aus den Augenwinkeln die Baronin von Mildsee, die bei den Angehörigen des Hofstaates war, die ihnen folgten.

Adhara versuchte sich auf dem gesamten Weg davon zu überzeugen, dass der König nicht kümmerlich, sondern nur zart sei und ein empfindsames, reiches Wesen habe.
Vielleicht war er aufgrund seiner Größe sogar ein guter Kämpfer, der sich bei jedem Turnier mit Flinkheit und Geschick hervortun konnte.
Während dieser Überlegungen gelangte die Gruppe nach draußen, auf einen breiten Kiesweg, der durch den königlichen Garten führte.
Es nieselte noch immer und sofort begannen sich eisige Tröpfchen auf den Kleidern und Frisuren abzusetzen.
Adhara fröstelte. Der König bemerkte es nicht.

Er schien an Selbstsicherheit zu gewinnen, sobald er die Mauern der Burg hinter sich gelassen hatte.
Ohne auf seinen Hofstaat oder seine Braut Rücksicht zu nehmen, strebte er auf einen rechteckigen, mit glatten Steinen eingefassten Tümpel zu.
Um das Becken herum lief ein mit vielfarbigen Mosaiken bedeckter Weg, der durch ein Dach vor Regen und Sonne geschützt war. Die hölzernen Schindeln wurden von schmalen Säulen getragen, die durch niedrige Mauern miteinander verbunden waren. Es war ein romantischer Ort.

Der König hastete an den Hecken und in Form geschnittenen Büschen vorbei, die den Hauptweg säumten und sein Hofstaat und Adhara hatten Mühe ihm zu folgen.
Als er nur noch ein kurzes Stück von dem überdachten Gang entfernt war, bedeutete er seiner Leibwache zurückzubleiben. Die Gardisten bauten sich über den Weg verteilt auf und niemand wagte es, weiterzugehen und sich dem Paar anzuschließen.
Kurz bevor ihr Bräutigam unter das Dach trat, schloss er die Augen und reckte sein Gesicht zum Himmel. Der feine Nieselregen sammelte sich auf seiner fahlen Haut und färbte seine Kleider allmählich dunkel.
Unter der Feuchtigkeit lösten sich feine Härchen aus Adharas Frisur und standen bald wie eine Wolke um ihren Kopf ab. Sie bemühte sich vergeblich, sie glattzustreichen.
„Herrlich, nicht wahr?", frage ihr Bräutigam sie euphorisch. „Der kalte Hauch des Regens küsst unsere Haut und der Wind spielt in den Wipfeln der Bäume ein Willkommenslied für Euch."

Einige Bedienstete kamen mit Schirmen und Baldachinen herbeigeeilt, um die Adeligen vor dem stärker werdenden Nieseln zu schützen, das entschlossen schien, sich zu dicken Regentropfen auszuwachsen.
Manche der Diener hielten auch auf sie zu. Zu Adharas Entsetzen machte der König eine abwehrende Geste und die Schirme, sowie ein warmer Mantel, der über dem Arm des einen Burschen hing, blieben hinter der Reihe der Ritter zurück.
Unterdessen trat der König endlich unter das Dach des Ganges. Der Wind wehte hier nach wie vor, weil es keine Wände gab, die ihn abhalten konnten. Sie zitterte.

Ihr zukünftiger Gemahl hatte seinen schwärmerischen Monolog über Regen und Bäume nicht unterbrochen und strich nun zärtlich über einige Flechten auf einer der Säulen.
„Sind sie nicht wunderschön?", hauchte er. „Diese zarten Wellen an den Enden ihrer blättrigen Gestalt. Seht Ihr, wie perfekt sich das sanfte Grau mit dunklem Grün mischt? Einige Gelehrte sind der Ansicht, dass diese atemraubenden Gebilde eine Hochzeit aus Algen des Meeres und Pilzen des Waldes ist. Faszinierend, nicht wahr?"
Er strahlte seine Braut an und sah dabei aus, wie ein Kind, dass die Geschenke zu seinem Weihetag öffnen durfte.
„Sehr", entgegnete Adhara schwach, während die Feuchtigkeit langsam durch die Schichten von Stoff auf ihre Haut sickerte.
Sie versuchte tapfer, das Thema auf etwas anderes als Algen und Pilze zu lenken: „Ich kann die Hochzeit kaum erwarten, es wird sicher ein großartiges Fest, denkt Ihr nicht auch?"
Das Strahlen auf dem Gesicht des Königs verlosch.

„Oh ja. Die Hochzeit", erinnerte er sich. „Natürlich. Mutter hat bereits alles vorbereitet, damit zum Beginn des Achtmonats der Trubel rechtzeitig vorüber ist."
„Ich bin sicher, sie hat alles auf das Schönste und Glänzendste bestellt", sagte Adhara vorsichtig. „Vielleicht könnten wir bereits einige Tage zuvor noch einen kleinen Ball ausrichten, um allen die Wichtigkeit dieses Ereignisses und die Größe unserer Zuneigung zu zeigen?", schlug sie vor.
„Nein. Das wird nicht nötig sein", antwortete der König stirnrunzelnd.
Dann erhellte sich seine Miene wieder und er deutete auf die Flechten.
„Die größten Wunder der Acht offenbaren sich in den kleinsten Dingen. Wie in dieser Flechte. Kommt her, seht!", forderte er sie auf.

Adhara trat einen Schritt an ihn heran und starrte, um nicht unhöflich zu sein, auf den grünlichgrauen Fleck, der ihren zukünftigen Gemahl so in Euphorie versetzte.
„Und man preist die Wunder nicht mit Zerstreuung, sondern indem man sie genau betrachtet und ihnen immer neue Namen gibt." Liebevoll strich er über den grauen Stein. „Ich nenne dich", er überlegte kurz mit geschlossenen Augen, „Grauwinterflor." Er seufzte voller Hingabe.
Überschwänglich zerrte er an ihrer Hand und legte sie auf die Säule.
Adhara ließ ihn widerstrebend gewähren.
Plötzlich starrte er sie erschrocken an und gab ihre Hand frei.
„Meine Dame, ich war ergriffen. Ich wollte nicht..."
Adhara sah ihn fassungslos an. Sie war seinem Vortrag mit wachsendem Unglauben gefolgt.
Das konnte unmöglich ihr Gemahl sein, der König des ganzen, großen Landes und derselbe, wie auf dem Bildnis, das sie die ganze Zeit an ihrem Herzen bewahrt hatte.

Sie wußte nicht was sie tun sollte und klammerte sich an Höflichkeiten: „Majestät. Ich war nur einen Moment benommen von Euren kunstreich gesetzten Worten. Ich bin sehr froh, dass ihr solches Vertrauen zu mir fasst und Eure", sie stockte, „Kunst, mit mir auf diese Weise teilt."
Tapfer lächelnd biss sie die Zähne aufeinander, damit sie nicht klapperten.

Nun kehrte auch das Lächeln auf das Gesicht ihres Bräutigams zurück und er atmete erleichtert auf.
„Ich bin sehr froh das zu hören. Bisher hat kaum jemand Sinn für meine Betrachtungen. Wir werden gut miteinander auskommen. Ich verlasse Euch nun. Die Muse treibt mich, ich muss mich in mein Schreibzimmer begeben und schreiben! Die Welt und die Himmel scheinen sich heute nah, wisst Ihr?"
Bei diesen Worten trat er unter dem Dach hervor und bewegte seine Hände in langsamen schwingenden Bewegungen durch den Regen.
Dann ging er tanzenden Schrittes zurück auf den Kiesweg, wo sich ihm die wartenden Adeligen und die meisten der Ritter anschlossen.

Adhara folgte ihm benommen.
Ein Diener lief ihr entgegen, als sie sich näherte und breitete einen Schirm mit kleinen Troddeln am Saum über ihr aus.
Ehe sie zu der Stelle gelangte, an der ein weiterer Dienstbote und Thorn von Goldwald ausharrten, verschwanden der König und sein Hofstaat im Inneren des Palastes. Unter ihnen war auch die Baronin von Mildsee.
Der Ritter hatte Mühe, seine Heiterkeit zu verbergen.
Adhara war jedoch zu fassungslos von der Begegnung, als dass sie darauf größere Aufmerksamkeit verwenden konnte.
Stattdessen kämpfte sie mit dem Zittern und aufsteigenden Tränen. Sie bemerkte kaum, dass sich sogar einige Schneeflocken unter den Regen gemischt hatten.

Seine Miene wurde ernst. Er griff den Mantel, der über dem Arm des Dieners hing und den dieser mit Hilfe eines Schirms trocken gehalten hatte. Dann trat er an sie heran und legte ihr den Umhang um die Schultern. Sofort wurde ihr wärmer.
Adhara beobachtete seine Hände, die von den Kämpfen, die er gefochten hatte und den Stunden, in denen er eine Waffe geführt hatte, schwielig und vernarbt waren.
Sie wirkten seltsam beruhigend und schienen die Welt wieder ein Stück wirklicher zu machen.

Die langen Finger schlossen geschickt die schwere Brosche, die ihren Umhang zusammenhielt. Sie hob den Blick. Er beobachtete sie und seine grauen Augen trafen ihre blauen. Erneut trieb die Wirklichkeit davon, aber diesmal auf eine angenehme Art, die ihre Brust mit Wärme erfüllte.
„Ihr solltet hineingehen, Hoheit" sagte er. „Ihre Majestät hat mich angewiesen, Euch zu Euren Gemächern zu geleiten."
Adhara bezweifelte diese Worte, war jedoch froh, dass er bei ihr war.
Sie nickte und wandte sich dem Eingang der Burg zu. Steif folgte sie Thorn von Goldwald ins Innere und durch die Gänge, bis sie ihre Räumlichkeiten erreicht hatten. Sie ging hinein und schloss die Tür hinter sich.

Die Baronin erschien kurze Zeit später und erinnerte sie an die Schmuckmacher, die sie aufsuchen wollten. Adhara hätte lieber ein heißes Bad genommen, begnügte sich jedoch mit einem Tee und einigen Törtchen.
Die Stunden mit den Gold- und Silberschmieden hoben ihre Laune etwas und als sie sich am Abend in einem nach Rosen und Lavendel duftenden Bad ausstreckte, erschien ihr die Begegnung mit dem König bereits strahlender, als sie es gewesen war.
Vielleicht würde er ihr auch einmal eine Ode widmen. Hatte nicht ein Weiser gesagt, dass die Feder mächtiger als das Schwert sein könne?
Und er war auch nur wenig kleiner als sie.

Bevor sie später das Licht löschte, nahm sie den Rahmen und legte ihn auf die bemalte Seite, sodass sie das Bild des Königs nicht mehr sehen konnte.
Dann nahm sie die Blüte und hob sie an ihre Nase. Eine Ahnung des zarten Parfüms hing noch daran. Mit dessen Duft und der Erinnerung an die Hand, die ihr die Blume gereicht hatte, schlief sie ein.

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