6 Eine Liebe
Es nieselte und die Kälte versuchte beständig unter Valus fadenscheinigen Umhang, der irgendwann einmal gelb gewesen sein mochte, zu kriechen.
Kein guter Tag, um ein Geschäft zu machen.
Diejenigen, die sich mit der Absicht eines schnellen Vergnügens auf der Strasse herumdrückten, suchten an solchen Tagen lieber das „Sandkorn" oder die „Pflaume" auf, als sich mit ihr gegen eine feuchte Mauer gelehnt in einer Gasse zu verkühlen. Die beiden Freudenhäuser, waren auf die Bedürfnisse unterschiedlich schwerer Geldsäckel eingerichtet, aber in beiden war es warm und bequem.
Sie spielte mit dem Gedanken, es für heute gut sein zu lassen und auf dem Weg noch einen kleinen Laib Brot für das Abendessen zu besorgen. Das allerdings würde ihre schmale Börse über Gebühr belasten, vor allem in Anbetracht der fehlenden Einnahmen.
Plötzlich hörte sie, wie einige Reiter aus Richtung des unteren Stadttores kamen und begannen, den Weg in die Oberstadt abzusperren.
Valu hatte sich wie üblich in der Nähe des Tores platziert, welches das Armenviertel, oder den Seichriemen, wie die meisten den äußeren Stadtring nannten, von dem besseren Bezirk der Handwerker, dem Nadelöhr, trennte.
Der Seichriemen trug seinen Namen wegen der dort ansäßigen Gerber und Färber. Sie waren vor allem im nördlichen Teil angesiedelt und der Gestank ihrer Werkstätten zog stetig durch die engen Straßen.
Das Nadelöhr dagegen beherbergte nicht nur Tücherweber, sondern auch alle, die entfernt etwas mit dem Schneiderhandwerk zu tun hatten, wie Bortenmacher oder Nadler.
Valu vermutete, dass es deswegen so genannt wurde.
Vielleicht hatte es seinen merkwürdigen Namen aber auch wegen der drückenden Enge erhalten. Es war kaum möglich, sich im Öhr zu bewegen, ohne ständig angerempelt zu werden, oder anderen den gleichen Dienst zu erweisen.
Unter den Reitern, die zum größten Teil Soldaten der Stadtwache waren, erkannte Valu auch einige, die der Burgwache der Oberstadt angehörten. Ihre Kleidung wies neben dem kräftigen Rot und Grau auch goldene Streifen auf.
Offenbar wurde der Weg für eine hochgeborene Person freigemacht, vielleicht sogar für jemanden von königlichem Blut.
Schon begann sich das Volk um die Reiter zu drängen und Vermutungen wurden laut, wer denn nun vorbeikommen würde und warum.
Obwohl sie, wie die meisten Armen, die Adeligen verachtete und von ihnen nichts erwartete, war Valu doch von dem Pomp und dem Glanz, den deren schierer Reichtum verbreitete, fasziniert.
Sie beschloß, sich ebenfalls einen Platz in der Menge zu suchen und dem Spektakel zuzusehen.
Auf einer Bank neben einer Schankstube fand sie einen Flecken, von dem aus sie alles gut überblicken konnte. Der Wirt war ebenfalls herausgekommen und wischte sich gerade die Hände an einer schmierigen Schürze ab. Valu fragte ihn, wen es zu sehen gebe.
„Mh", gab dieser ein langgezogenes Brummen von sich. „Ich hab' gehört die neue Königin kommt dieser Tage an. Vielleicht ist die's."
„Die neue Königin? Wusste gar nicht, dass der König heiraten will. Hoffentlich ist sie schön. Wie man hört, interessiert der Junge sich ja nich' für die Weiber", spekulierte Valu.
„Aber auch nicht für die Kerle. Hab' zumindest nie nichts gehört und die Sandjungs kommen manchmal bei mir was trinken und erzählen", brummte der Wirt nachdenklich und strich sich dabei durch seinen beeindruckend ungepflegten Schnauzbart.
„Vielleicht isser mehr an Hunden interessiert. Die Reichen ham' das Viehzeuch doch gern um sich" sagte Valu laut, was ihr das Gelächter aller Umstehenden eintrug.
„Halt's Maul", blaffte sie plötzlich eine der Burgwachen an, die in der Nähe auf einem Gaul saß und alles gehört hatte.
„Sonst was?", rief Valu zurück und öffnete ihren Umhang, um dem Reiter spöttisch ihre Reize zu zeigen. „Kommst Du dann her und verdrischst mich?" Sie lachte.
„Das hätt'ste wohl gern", murrte der Soldat und sah weg.
„Der steht wohl auch eher auf Ziegen", meinte Valu zu ihrem Publikum.
Die Wache wollte etwas entgegnen, aber in diesem Moment kam ein Trupp Reiter die Straße herauf. Statt einer Erwiderung winkte der Soldat ab und nahm Haltung an.
Valu streckte, wie alle anderen, ihren Kopf in die Richtung, aus der die Pferde zu hören waren.
Tatsächlich konnte sie an der Spitze des Zuges eine Dame ausmachen, die mehr Anmut und Schönheit ausstrahlte, als sie je bei einem Menschen gesehen hatte.
Die Frau war vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als sie, hatte aber das gleiche dunkelbraune Haar und war ebenfalls groß gewachsen.
Sie trug viel feinere Kleider als sie selbst im Öhr üblich waren und die Stickereien übertrafen sogar schlammbespritzt alles, was man in der Unterstadt sonst zu Gesicht bekam.
Die zukünftige Königin - denn etwas anderes konnte sie nicht sein - war in blauen Samt gehüllt und ein feiner Gürtel aus Silbergeflecht reichte ihr fast bis zum Saum. Um ihre Schultern lag ein Mantel aus fliederfarbener Wolle, der wegen der filigranen Blumen und Ranken, die sich um seinen Rand wanden, zart und leicht wirkte.
Ihr Lächeln erschien Valu gezwungen, als die Frau ihr Pferd im Schritt auf das Tor der inneren Stadtmauer zutrieb. Sie ließ ihre Blicke unsicher hierhin und dorthin gleiten und es wirkte, als wollte sie jedem einen Gruß zukommen lassen, der ihrem Einzug in die Stadt beiwohnte.
Plötzlich sah die Schöne Valu direkt an. Ihr wurde es flau im Magen.
Dann war der Moment vorüber, die Augen der Dame wandten sich ab und trieben weiter über die Köpfe ihres zukünftigen Volkes.
Die Dirne schob das unangenehme Gefühl, das sie eben noch verspürt hatte, auf den Hunger, der seit dem Morgen in ihrem Bauch rumorte.
Neben der jungen Frau ritt der Held von Maidenhafen, den wahrscheinlich jedes Kind im Land kannte, in einer glänzenden Rüstung über die goldene Äste wuchsen. Selbst im Sattel wirkte er größer und breiter als alle Männer um ihn herum. Sie gaben ein schönes Paar ab, fand Valu.
Der Ritter von Goldwald war allerdings bekannt dafür, ein Herz für die Sandmädchen zu haben und sie hatte sich schon oft gewünscht, anstelle irgendeines versoffenen oder abgehärmten Bauerns, würde er sie aufsuchen.
Das blieb natürlich nur ein Wunsch. Jemand wie er, so zugetan er den Dirnen auch sein mochte, suchte sein Vergnügen in den behaglichen Freudenhäusern und nicht in einer schlammigen Gasse im Seichriemen.
Dennoch hatte Valu diese Vorstellung über manchen ihrer Kunden hinweggeholfen, wenn sie die Augen geschlossen und an den Ritter gedacht hatte.
Hinter diesen beiden ritt ein weiteres Mädchen in einfachem Wollzeug, wahrscheinlich irgendeine Dienerin und dahinter Soldaten, die aussahen, als wären sie lange unterwegs gewesen.
Valu ertappte sich dabei, wie sie dem Aufzug zujubelte; aber bei weitem nicht alle winkten und riefen. Ein großer Teil der Menschen stand nur still da und sah dem Treiben mit großen, hungrigen Augen zu.
Sie seufzte. Der Winter drohte hart zu werden und nicht alle, die jetzt hier standen, würden den nächsten Frühling sehen. Die Lage war schon zu lange angespannt und den König schien es einen feuchten Kehricht zu interessieren, was auf seinen Feldern und in den ärmeren Bezirken seiner Stadt vorging.
Bald war der Trupp vorbeigezogen und Valu hatte genug. Sie war durchgefroren und es würde sich ohnehin kein nennenswerter Verdienst mehr einstellen.
Die Leute hatten alle kein Geld, die Ernten waren seit fast drei Jahren schlecht und keiner im Seichriemen konnte es sich leisten, sie für die Verrichtung ihrer Dienste in eine Schankstube oder das eigene Haus mitzunehmen, wo es bequemer und warm wäre.
Doch Valu war vom Glück gesegnet. Valu hatte Henn.
Er war seit fast acht Jahren, damals war sie etwa vierzehn gewesen, ihr treuester Sandliebster. So nannte man die Freier beschönigend, weil die Dauer der Zuneigungen in den Freudenhäusern mit Hilfe von Sanduhren gemessen wurde.
Henn war ihr schon immer alt erschienen, doch besonders im letzten Jahr war er mehr und mehr verfallen und ihre Dienste waren an ihn mittlerweile meist verschwendet.
Aber Henn besaß ein Haus am äußeren Rand des Seichriemens, in der Nähe des Südtores.
Selbst für die Begriffe eines einfachen Handwerkers wäre „Haus" eine freundliche Übertreibung gewesen, aber für Valu war es das Ziel ihrer Wünsche.
Sie hielt eilenden Schrittes auf den schmalen, zweistöckigen Holzverschlag, der sich zwischen zwei Steinmauern duckte, zu. Unten war eine enge Küche mit niedriger, verrußter Decke untergebracht, in der Henn früher sein Geschäft betrieben hatte.
An deren Ende führte eine Stiege nach oben, wo sich ein Bett, ein Tisch mit ein paar groben Stühlen aus Holz und eine Truhe für die wenigen Habseligkeiten des Alten befand.
In den Sommern waren die Türen und Fenster immer weit geöffnet gewesen und er hatte köstliche kleine Kuchen gebacken und verkauft.
Das Backen hatte er in den späten Nachtstunden erledigt und wenn er damit fertig gewesen war, hatte er sich an den breiten Holztisch gesetzt und über den Tag Schuhe und andere Lederwaren geflickt. So war er recht gut über die Runden gekommen.
Mit den Jahren, in denen Valu ihn kannte, waren seine Augen schlechter und schlechter geworden und schließlich gelang es ihm nicht mehr, die Reparaturen auszuführen.
Dann war es für ihn zu mühevoll geworden, in die Küche hinunterzusteigen. Er hatte begonnen unten zu schlafen und Valu war ihm manchmal beim Backen zur Hand gegangen.
Eines Morgens, als sie nicht da gewesen war, hätte er beinahe das Haus abgebrannt, weil er weggedämmert war und nun erinnerte ein rot vernarbter Arm an die Löschversuche, die ihm glücklicherweise gelungen waren. Schließlich hatte Henn einsehen müssen, dass er auch dieses Geschäft nicht mehr bewältigen konnte.
Seitdem kümmerte sich Valu um ihn und er verließ kaum noch das obere Stockwerk. Hin und wieder bekam er von früheren Kunden Besuch, oder er saß allein auf einem Stuhl am Fenster und wartete auf den Abend. Er erinnerte sich mehr an die stets schmutzigen Straßen und die Leute, die vorübergingen, als dass er sie sah und zog schnaufend den schweren, durchdringenden Gestank durch die Nase, der sommers wie winters wie eine Glocke über dem Seichriemen hing.
Henn wußte es nicht, aber Valu war in Sorge.
Seit einigen Tagen hatte er das Bett kaum mehr verlassen und seine Haut schien wachsig, selbst im Tageslicht.
Obwohl sie ihn nur zu gern beerbt hätte, empfand sie Mitgefühl mit dem Alten.
Früher, als sie über das Haus gesprochen hatten und er noch besser beisammen gewesen war, war sie von ihm halb scherzhaft gefragt worden, ob sie ihn umbringen würde, damit sie es schneller erhielte.
Ein Lachen lag dabei auf seinen Lippen, aber es verlor sich auf dem Weg zu seinen Augen und sein Blick hatte sich kalt und klar wie lange nicht in ihren gebohrt.
Valu gab ihm ihr Wort, sein Ende nicht vor der Zeit herbeizuführen, es sei denn, er wünsche es und sowohl sie selbst, als auch Henn, glaubten daran.
Die starke Zuneigung, die er zu ihr gefasst hatte, konnte sie nicht erwidern.
Immerhin brachte diese sie aber dazu, ihm zu versprechen, sich um ihn zu kümmern, bis die Hohle Mutter ihn fortholen würde.
Daran hielt sie fest, auch wenn die Versuchung in mancher Nacht an ihr nagte, Henn einfach ein Kissen auf das faltige Gesicht zu drücken.
In diesen Momenten dachte sie daran, dass er ihr als Einziger zu einer Zeit die Hand gereicht hatte, als ihr das Leben wie ein endloser Sumpf erschienen und der Glaube an Freundlichkeit abhanden gekommen war.
Henn war damals sehr einsam und seine Hilfe sicher nicht selbstlos gewesen, dennoch hielt ihn Valu bis heute für einen guten Kerl und sie würde ihr Versprechen halten bis zum Schluss.
An einer Ecke hielt sie an, um einen halben Laib Brot zu erstehen. Henns Teil würde sie später in einer dünnen Suppe einweichen und mit ihm zu Abend essen.
„Tag, Val", grüßte der junge Bursche, der dort einige alte Backwaren und schäbige, kleine Äpfel zum Kauf anbot.
„Hey, Malon", gab Valu zurück, machte sich aber nicht die Mühe, das Lächeln, das sie sonst an ihre Kunden verkaufte, hervorzukramen.
„Was macht das Geschäft?", fragte sie stattdessen.
„Ach, was soll's schon machen?" Der Junge zuckte mit den Schultern. „Ich frier mir den Arsch ab und meine Waren sind bald Schlamm. Aber was tut man nich' alles für'n bisschen Kupfer heutzutage? Na, wem sag' ich das, was Val?" Er grinste sie freundlich an. „Bist früh dran heut'."
„So sieht's aus. Was bekommst du?" Sie deutete auf das Brot in der Hand des Burschen.
„Vier Kupferne."
Jetzt bemühte Val doch ihr Lächeln. „He. Vier Kupferne. Und für mich?" Sie schenkte ihm einen Augenaufschlag, der vielleicht noch ein, mit Glück, zwei weitere Jahre die Männer verlocken konnte. Heute jedoch, an dieser grauen Gassenecke, in der die Ratten sich unbeirrt vor den eiligen Passanten tummelten, als sie müde und halb erfroren war, reichte es nicht einmal für diesen Jungen.
„Nee, Val. Ich würd's für dich billiger machen, aber ich hab' keine Lust schon wieder Prügel zu beziehen."
Valu stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich ein wenig vor, wodurch ihr Umhang aufschwang und einen Blick auf ihre nur knapp bedeckten Brüste bot. Der Junge wagte einen Blick, schüttelte dann aber bedauernd den Kopf.
„Vier Kupferne, Val."
Sie zog ihren Umhang wieder fest um sich und richtete sich auf. Mit einem Seufzen zählte sie ihm das verlangte Geld in die Hand.
Brot und das meiste Andere war schleichend immer teurer geworden. Mittlerweile murrten die Leute schon vernehmlich und der Winter hatte noch nicht einmal begonnen.
Der Junge reichte ihr den Brocken mit einem entschuldigenden Blick und Valu verabschiedete sich mit einem knappen Nicken.
Harte Zeiten, die noch viel härter werden würden. Immerhin hatte sie Henn. Und Henns Haus.
Nachdem sie über die Schwelle getreten und den Alten, der oben auf dem Bett lag, begrüßt hatte, machte sie sich daran, das Feuer anzufachen und das Essen zuzubereiten.
Immerhin gab es noch genug Holz in der Stadt, eines der wenigen Dinge, die sich kaum verteuert hatten.
Als alles bereit war, half sie Henn an den Tisch und sie aßen zusammen. Es war mittlerweile später Nachmittag. Die wässrige Suppe und das harte Brot würden die letzte Mahlzeit ihres Tages bleiben und für Val die einzige sein, die sie heute aß.
Sie sah dem Alten dabei zu, wie er mit traumartigen Bewegungen und zitternden Händen versuchte, sich das Essen in den Mund zu löffeln.
Ein Teil davon landete tatsächlich dort, aber einen größeren Teil verlor er oder ließ ihn über sein Kinn laufen.
Schließlich konnte Valu nicht mehr hinsehen. „Du verschüttest ja alles, Alter."
Er grinste sie mit suppenfeuchten Lippen an. An seinem Kinn klebte etwas Brot.
Sie zog ihren Stuhl zu ihm und begann ihn zu füttern, wie ein Kind. Dann wischte sie sein Gesicht sauber und brachte das Geschirr nach unten. Als sie wiederkam half sie ihm erst bei seinen notwendigen Verrichtungen und stützte ihn schließlich auf dem Weg zurück in sein Bett.
Sie setzte sich auf den Rand, strich durch die Reste seines weißen Schopfes, die in alle Richtungen von seinem Kopf wegstanden und seinen altersfleckigen Schädel umgaben wie einen Kranz.
„Ich liebe dich, Val", nuschelte er zittrig. „Hätt' das nich für möglich gehalten. Aber ich liebe dich." Die Lücken zwischen den noch vorhandenen Zähnen grinsten sie zwischen seinen Altmännerlippen hindurch an.
„Ich dich auch, Henn. Das weißt du doch." Valu schob ihre Hand unter seine Decke und versuchte ihren Worten den fehlenden Nachdruck zu verleihen. Außerdem konnte sie sich so von dem unbehaglichen Gefühl ablenken, dass sie bei diesen Worten ergriff.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top