26 Verletzungen
Einige Wochen später, es war Iner geworden und der Herbst hatte mit großen Schritten Einzug gehalten, trugen ihre Bemühungen erste Früchte.
Sie vergaß darüber und über ihren Sorgen, beinahe ihren eigenen Weihetag am Ende des Tall.
Das war leicht, denn niemand machte besonderes Aufheben darum.
In diesem Jahr war es Adhara nur recht, sie hatte keinen Sinn mehr für eitle Zerstreuungen.
Allein Margie dachte daran und schenkte ihr ein kleines Etui mit einigen Sticknadeln darin.
Blumen und Ranken, die sie einst so geliebt hatte, waren in dessen Leder geprägt worden.
Das Mädchen sagte, es solle sie an die Abende auf Brückfeldingstein erinnern, wenn sie zusammen Handarbeiten erledigt und von ihrer Zukunft geträumt hatten.
Es war ein so gedankenvolles Geschenk und das Einzige, das sie an diesem Tag erhielt, dass sie Margie beinahe um den Hals gefallen wäre.
Thorn hatte ihr, während eines kurzen Moments in dem sie allein waren, lediglich förmlich gratuliert.
Vor beinahe einem Jahr war sie aus ihrem alten Zuhause fortgeritten und nun erkannte sie sich selbst nicht wieder und niemand war da, mit dem sie ihr Bedauern darüber teilen konnte.
Immerhin war es ihr gelungen, die Versorgung der Menschen um ein Weniges zu verbessern.
Zwar versuchte sie vergebens, eine tägliche Armenspeisung einzurichten, aber sie setzte durch, dass die Reste aus dem Palast an manchen Tagen der Woche in der Unterstadt verteilt wurden.
Aus dem Umland trafen einige Karren mit Nahrungsmitteln ein und die Speicher an der Burg füllten sich langsam.
Die Nachrichten über die Seuche, die sich durch die Menschen fraß, wie ein hungriges Tier, wurden jedoch zunehmend beunruhigender. Sie hatte die Stadt erreicht und schien an den Mauern zu lecken und zu suchen, wen sie als nächstes verschlingen könne.
Die Leichenfeuer vor dem Osttor erloschen seit Tagen nicht und es kamen sogar neue hinzu.
Adhara konnte sie in den Nächten sehen, wenn sie von einem Wehrgang oder einem der zahlreichen Balkone auf die Stadt hinunterblickte.
Selbst aus dem Öhr erreichten sie Berichte über schwere Verläufe und es schien unmöglich geworden, durch die Strassen zu gehen, ohne einem Karrer zu begegnen.
Ihr Gemahl war seit Tagen deswegen unruhig und wirkte angespannter als sonst.
Er verzichtete sogar auf die von ihm geliebten Ausflüge ins Grüntuch und vergrub sich noch häufiger in seinem Schreibzimmer oder nahm mit dem Palastgarten vorlieb.
Adhara drängte ihn beständig sanft, sie bei ihrem Tun zu unterstützen.
Sein Hang, sich vor allen königlichen Pflichten zu drücken und seine Angst vor Krankheiten, wegen seiner empfindlichen Konstitution, pflanzten schwarze Samen des Irrsinns in sein Herz, die seltsame Blüten trieben.
Novalis duldete sie seit Wochen nicht einmal an den Abenden in seiner Nähe und ließ sich überall und vor jedem von seinen Leibwachen abschirmen.
Thorn selbst und sein Waffenbruder Eckarius wiesen Adhara einmal zurück, als sie ihren Gemahl zu sprechen wünschte, und sie musste unverrichteter Dinge abziehen.
Dessen Mutter befeuerte die Unruhe des jungen Monarchen noch, indem sie sich selbst zurückzog und zunehmend kopflos und zornig agierte. Eines der Dienstmädchen musste zu einem Heiler geschickt werden, weil die Königinmutter eine heiße Kanne Tee nach ihr geworfen und sie verbrüht hatte.
Außerdem ließ sie Andachten von den Oktonen halten und schickte ihrem Sohn ständig gesunderhaltende Mittelchen und von Gelehrten empfohlene Kost, sodass er sich zunehmend fühlen musste, als stünde sein Ableben unmittelbar bevor.
Adhara trieb der Gedanke um, dass es vielleicht tatsächlich so war.
Als sie an einem Morgen viel zu spät erwachte und die Sonne sich längst golden über die Zinnen erhoben hatte, befiel sie deshalb sofort eine unbezähmbare Unruhe.
Niemand hatte sie geweckt und es erschien auch niemand, obwohl sie mehrfach nach einer Magd läutete.
Eilig kleidete sie sich an, so gut sie es vermochte. Gerade wollte sie ihr Haar zu einem einfachen Zopf binden, um endlich vor die Tür treten und die Ursache der Seltsamkeiten herauszufinden zu können, da drangen Geräusche eines Tumultes vom Flur her an ihr Ohr.
Sofort öffnete sie die Tür und spähte den Gang davor entlang. Außer ihrer Wache erblickte sie jedoch niemanden. Diesen Gardisten kannte sie nur wenig, auch wenn er regelmäßig an ihrer Seite Dienst tat. Er bat sie zurück in ihre Gemächer zu gehen und ruhig abzuwarten.
In diesem Moment hasteten zwei Mägde vorbei, ohne auch nur den geringsten Blick auf ihre Königin zu verschwenden, geschweige denn, ehrerbietig zu Knicksen. Sie rannten den Gang hinunter und ließen sich auch von den Rufen des Gardisten nicht aufhalten.
Adhara schloß die Tür hinter sich und ging den Mädchen nach.
Sie ignorierte ihrerseits ihre Leibwache, die versuchte, sie zu einer Rückkehr in ihre Räume zu bewegen.
Schließlich gab der Posten es auf und folgte ihr einfach, die Hand am Schwert und die Augen wachsam hierhin und dorthin richtend.
Die gesamte Dienerschaft schien in Aufruhr zu sein, aber auch einige Adelige eilten in Richtung des Ausganges zur Stadt oder zu den Ställen.
Niemand achtete auf sie.
Als sie den Innenhof fast erreicht hatte, wurde sie von einem Diener und einer Magd überholt, die ein Bündel an sich drückte. Die Gestalt war ihr wohl vertraut.
„Margie!"
Das Mädchen hielt inne.
„Margie!", rief Adhara noch einmal.
Die Magd drehte sich um und blickte sie mit schreckgeweiteten Augen an.
„Was ist hier los, Margie? Wohin gehen all diese Leute?"
Ihre Blicke zuckten hektisch über den Hof und wieder zurück zu ihrer Herrin. Doch das Mädchen, das einmal ihre Freundin gewesen war, wendete sich ab und begann, sich vom Strom der Menschen davontragen zu lassen.
"Margie, bitte!", rief Adhara etwas zu schrill.
Endlich erhielt sie eine Antwort: „Der König lässt die Stadt abriegeln. Sie geben die Unterstadt auf. Die Tore werden geschlossen."
Eine eisige Welle spülte über Adhara hinweg. Sie konnte sich nicht rühren und starrte nur das Mädchen an. Das war nicht möglich! Nicht jetzt.
Margie rang sichtlich mit sich, kehrte dann aber doch um und kam zu ihr zurück.
Die Königin bedeutete der Wache an ihrer Seite geistesabwesend, sich ruhig zu verhalten. Die Hand des Gardisten war bereits zu seinem Schwert gezuckt.
„Es tut mir leid. Ich muss gehen. Meine Mutter..."
Adhara legte ihre Hände um die von Margie, die noch immer das Bündel umklammerten. Sie verstand.
„Sag Vater Grüße, bitte. Wirst Du zurecht kommen?"
Das Mädchen sah sich hektisch um. „Ein Händler nimmt mich mit. Hapertus, er war öfter in Brückfelding im Winter. Erinnert Ihr Euch?"
Sie nickte.
„Ich - ich wollte ohnehin weg", gestand es, löste sich von ihr und schloss sich wieder dem Strom von Menschen an, die die Burg eilig verließen.
Margie, in der hellen Kleidung einer Magd, wurde durch das Tor davongespült, wie eine Flocke von Gischt auf dem Meer.
Adhara hatte das Gefühl, etwas Wertvolles für immer verloren zu haben.
Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie schluckte sie hinunter und wischte sich unwirsch über das Gesicht.
In ihrem Kopf dröhnten die Sätze „Der König lässt die Stadt abriegeln. Sie geben die Unterstadt auf" mit den Schritten der Fliehenden.
Die Trommel ihres Herzschlags stimmte in den Missklang ein, bis alles zusammen das Orchester ihrer anschwellenden Wut bildete.
Sie hatte jetzt keine Zeit, zu weinen.
Adhara dreht sich um, und ging zurück in die Burg, geradewegs zum Schreibzimmer ihres Gemahls. Mit jedem Schritt wuchs ihr Zorn. Die Leibwache folgte ihr ergeben.
Unterwegs trafen sie auf Thorn, der sie offenbar gesucht hatte. „Was tut Ihr hier draußen, Majestät?" Ehe sie antworten konnte, raunzte er seinen Waffenbruder an:
„Wieso lässt Du Ihre königliche Hoheit in diesem Aufruhr herumlaufen?"
Dann besann er sich und die Männer tauschten einen langen Blick. Thorn seufzte vernehmlich, und seine Entrüstung wurde von einem Ausdruck tiefen Verständnisses abgelöst.
Anscheinend war sie mittlerweile für ihren Eigensinn bekannt.
Adhara ignorierte beide und der Ritter schloss sich ihnen ohne weitere Worte an.
Der Strom der Menschen versiegte, als sie sich dem Schreibzimmer näherten. Jeder, der hoffte hinauszukommen, hatte diesen Bereich der Burg inzwischen verlassen.
Sie erreichten den Eingang, vor dem ebenfalls zwei Gardisten Wache hielten.
Adhara rauschte auf sie zu und stieß fast gegen die Hand des Einen, als dieser sie ausstreckte, um sie sanft aufzuhalten. Sie funkelte ihn wütend an.
„Aus dem Weg!"
„Der König wünscht nicht gestört zu werden, Majestät. Auch nicht von Euch."
Adhara war fassungslos.
„Ich bin seine Gemahlin und werde jetzt durch diese Tür gehen."
Die Wache rührte sich nicht.
Sie schloß einen Moment die Augen und schickte in Gedanken eine Bitte an Thorn: Verzeih mir!
„Ritter Thorn von Goldwald. Ich wünsche, zu meinem Gemahl vorzudringen. Macht den Weg frei!"
Die Aufforderung erfolgte ruhig und ohne, dass sie sich umdrehte. Sie hoffte einfach, dass die Gardisten sich nicht gegenseitig angreifen würden und Thorn, wie er es versprochen hatte, unerschütterlich auf ihrer Seite stand.
Die Sekunden nach ihrem Befehl zogen sich in die Länge. Schließlich hörte sie das Klicken eines Schwertes, als Thorn es hinter ihr aus seiner Scheide löste. Daraufhin taten die beiden Wachen vor ihr und der andere hinter ihr das Gleiche.
Die Waffenbrüder stierten sich über ihren Kopf hinweg an, während sie unbewegt dastand und den Blick fest auf die Beschläge der Tür geheftet hielt.
Sie vermeinte, ihr Herz in ihrer Brust schlagen zu hören und wartete auf den Moment, in dem das Aufblitzen der Schwerter und der Donner des Kampfes losbrechen würden.
Der Gardist vor ihr, der ihr den Zugang verwehrt hatte, stieß geräuschvoll die Luft aus und stieß seine Klinge hart zurück in die Scheide.
Adhara hatte nicht bemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte, bis er ihr entwich. Die übrigen Schwerter fuhren ebenfalls ganz zurück in ihre Hüllen und eine gepanzerte Hand öffnete die Tür.
Sie betrat den Raum und die vier Wachen blieben davor zurück.
Ihr Gemahl saß, wie so oft, an seinem Tisch und kritzelte auf einigen Papieren herum. Als sie seinen gebeugten Rücken dort sah, begann die Welle eisiger Wut wieder in ihr aufzusteigen, die wegen der Ereignisse vor der Tür abgeebbt war.
„Was habt Ihr Euch dabei gedacht? Wieso wurde ich nicht unterrichtet?", fuhr sie ihn an.
Er drehte sich nicht um, sondern duckte sich noch etwas mehr über seinen Schreibtisch.
„Seht mich an!" Sie schrie nun. Er weigerte sich noch immer, zu reagieren und die Welle schlug über Adhara zusammen.
Sie durchquerte den Raum, baute sich neben ihm auf und riß ihm das Papier, auf dem er gerade geschrieben hatte, weg.
Eine tiefe Befriedigung überkam sie, als sie die „Vierte Hymne" in kleine Fetzen riß und in den brennenden Kamin warf.
Endlich nahm er sie wahr.
Seine Augen waren immer größer geworden, während sie sein Werk zerstörte und er stürzte vor der Feuerstelle auf die Knie als ob er die Stücke Kraft seines Willens aus den Flammen ziehen könnte.
Die schmale Brust hob und senkte sich in schnellen Zügen, als er sich mühsam erhob.
„Was habt Ihr getan?", keuchte er.
Adhara hatte noch nie so viel Leben in seinen Augen gesehen.
„Was habt Ihr getan?", gab sie zurück. „Wieso lasst Ihr die Stadt abriegeln? Seid ihr des Wahnsinns? Ihr könnte diese Menschen nicht sich selbst überlassen!"
Er zitterte unter seinem seidenen Hemd. Mit nackten Beinen und strumpfsockig stand er vor ihr. Seine Wangen überzog ein fleckiges, ungesundes Rot und der letzte Anschein von Königlichkeit fiel von ihm ab.
„Dieses - dieses Viehzeug - ist krank! Sie werden uns alle anstecken! Das ist die einzige Möglichkeit!", schrie er.
Die letzen Silben gingen in einem Hustenanfall unter und seine Augen weiteten sich vor Schreck. „Sehr Ihr?!" Er griff sich an die Brust und taumelte. „Da! Ich will nicht sterben!"
Er war vollkommen außer sich.
„Das ist kein Vieh! Das sind Menschen! Eure Untertanen! Ihr seid ihnen verpflichtet! Sie sind abhängig von Euch! Ihr seid der König, benehmt Euch endlich wie einer!" In ihrer Wut sah sie seine Reaktion nicht vorher.
Er holte aus und schlug sie schallend ins Gesicht.
Es wirkte wie ein kalter Guss.
Der König starrte seine Hand an, als wäre er über deren eigenmächtiges Handeln erschrocken.
Adhara hielt sich die Wange. Der Schlag war nicht fest gewesen und würde keine Spuren hinterlassen, aber jetzt brannte er auf ihrer Haut.
„Seht Ihr, wozu Ihr mich getrieben habt? Raus! Raus!" Er kreischte nun.
Adhara ging rückwärts auf die Tür zu, abgestoßen von dem Irrsinn und der Schwäche, die nun so offenbar waren, dass keine Krone und keine Juwelen sie je wieder vergessen machen würden.
Ihre Hand lag noch immer auf ihrer Wange, während sie die Tür öffnete und den Raum verließ.
Thorn musterte sie besorgt.
Als ihr auffiel, wo sie sich befand, straffte sie die Schultern und ging ohne einen weiteren Blick auf die vier Gardisten zu verschwenden in Richtung des Palastgartens davon. Sie brauchte Ruhe und Luft und dort würde sich jetzt keiner aufhalten.
Thorn und die andere Leibwache folgten ihr.
Es war alles verloren und sie konnte nicht das Geringste dagegen tun.
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