22 Der Ernst der Lage

Einige Tage später spazierte die junge Königin in Begleitung ihrer Dienerin Margie durch den spätsommerlichen Garten des Palastes.
Der siebzehnte Weihetag des Königs war vorbeigezogen und selbst das kleine Festmahl, zu dem nur ein Teil des Hofes geladen worden war, war ihm zu viel geworden. Er hatte einige Bissen zu sich genommen, sich dann in sein Schreibzimmer zurückgezogen und war bis in die Nacht nicht mehr herausgekommen.

Heute saß er in einiger Entfernung, in die Betrachtung einer Baumgruppe versunken und kritzelte von Zeit zu Zeit etwas in ein großes, ledergebundenes Buch. Adhara hatte es für ihn anfertigen lassen, weil sie der herumfliegenden losen Blätter überdrüssig war. Es enthielt eine Anzahl Seiten in einem schön geprägten Einband aus Leder, die sich leicht entnehmen und wieder auffüllen ließen.
In seiner Nähe standen zwei Brüder der königlichen Leibwache, während Thorn in gebührendem Abstand mit mürrischer Miene den beiden Frauen folgte.
Seit den letzten Vorfällen war Adhara noch isolierter, als zuvor, denn niemand wollte in den Machtkampf zwischen ihr und der Königinmutter hineingezogen werden.
Die Berichte von den Teestunden der beiden, waren zur Zeit das beliebteste Thema im Palast.

Durch Margie wußte die Königin sogar von Wetten, die einige Dienstboten darüber abgeschlossen hatten, wer aus diesen Reibereien als Sieger hervorgehen würde.
Im Moment hielten die Meisten die Königinmutter für eine sichere Wahl.
Sie war sich gewiss, dass viele Adelige ihren Dienern nicht nachstanden und sich von diesen nur durch die Summen unterschieden, die sie einsetzten.
Für den Moment war zwischen den beiden höchsten Frauen des Landes jedoch weitgehend Ruhe eingekehrt.
Adhara weigerte sich, es als Waffenstillstand zu bezeichnen, auch wenn es genau das war.
Außer einigen kleinen Scharmützeln und Bosheiten, die in der Auswahl von Speisen, die Adhara nicht mochte, bei öffentlichen Mahlzeiten oder dem Inanspruchnehmen von Margie bestanden ereignete sich nichts. Die Königinmutter wußte sehr wohl, dass die Dienstmagd der Königin nahe stand.

Sie erreichten gerade den überdachten Gang im Garten der Burg, wo Adhara ihren Gemahl zum ersten Mal allein gesprochen hatte.
"Majestät!", rief es vom Weg hinter ihr. Sie wandte sich um und sah, wie sich ein mittelgroßer Mann in unauffälliger Kleidung näherte. Es war der Hohe Horcher, eines der Mitglieder des Rates.
Er hatte gerade die Stelle erreicht, an der Thorn stand. Adhara konnte das Gesicht des Ritters nicht sehen, aber der Ankömmling lächelte ihn freundlich an und nickte zum Gruß, als würden sie sich gut kennen.
„Majestät!", rief der Mann erneut, als er die Königin fast erreicht hatte.
„Majestät, verzeiht", er verbeugte sich tief, „ich habe mich gefragt, ob Ihr nicht eine Minute erübrigen könntet. Unter vier Augen." Er warf ihr einen verschwörerischen Blick zu und blinzelte kurz zu Margie hinüber.
Die junge Königin musterte ihn. Sie wußte was sein Geschäft war; dagegen hatte sie keine Ahnung, was er von ihr wollen könnte. Ein Mitglied des Rates, dass sie allein aufsuchte, war ungewöhnlich.
„Gewiss", erwiderte sie und bedeutete Margie, sich zu entfernen. Die zog sich auf den Kiesweg zurück und stockte, als sie sich dem Ritter näherte. Dann fasste sie sich doch ein Herz und wartete, etwas von der gepanzerten Gestalt entfernt.
Thorns Miene war finster, während er die Königin und den Hohen Horcher beobachtete. Seit ihrem letzten Treffen, wirkte er missmutig, vielleicht, weil sie ihn zurückgewiesen hatte.

Adhara betrat den mit Mosaiken ausgelegten Gang und der unauffällige Mann folgte ihr.
Nach einigen Schritten, während der er noch immer nichts gesagt hatte, richtete sie das Wort an ihn: „Ich bedauere, dass wir nicht schon eher die Gelegenheit hatten, uns zu unterhalten. Ich hätte Eure Meinung zu einigen Dingen gern im Kleinen Rat gehört."
„Tatsächlich?" Er schien überrascht, lächelte aber erfreut.
„Das wäre in der Tat auch der angemessene Ort für das, was ich mit Euch besprechen möchte, Majestät."
„Aber der Rat kommt im Moment nicht zusammen und wird es auch nicht, jedenfalls nicht offiziell, nicht wahr?", ergänzte Adhara den Satz.
Das Lächeln des Flüsterers verbreiterte sich und Anerkennung schien einen Moment in seiner Miene auf. „Wie ich sehe, habt Ihr Eure eigenen Quellen für Gerüchte auch ohne meine Hilfe gefunden. Bemerkenswert."
Adhara blieb stehen und sah ihm in das offene Gesicht. „Ist es das?"
„In der Tat, Majestät. Ihr könntet Euch ins Private zurückziehen, wie es Euer Gemahl vorzieht, so wie es von Euch erwartet wurde. Stattdessen sorgt Ihr für einigen Aufruhr und da wäre es doch unklug, sich nicht gut zu informieren. Bisher habt Ihr die naheliegenste Person für Informationsbeschaffung jedoch nicht aufgesucht. Mich."
Er verbeugte sich erneut.
„Es ist nicht leicht, zu erkennen, wer im Sinne des Landes agiert und wer", sie wendete sich wieder zum Gehen, „anderen Motiven den Vorzug gibt - oder wer abwarten möchte, wem zukünftig die größte Macht zufällt."
„Wohl war, wohl war", pflichtete er ihr versonnen bei, während er Schritt hielt.

Adhara fuhr fort: „Da Ihr nun hier seid, seid Ihr offenbar mutiger als die Meisten und habt keine Sorge, Euch zwischen die alte und die neue Königin zu stellen?"
Sie beabsichtigte, ihn mit ihrer Direktheit zu überraschen, um eine andere Reaktion, als das warme Lächeln zu provozieren, dass er zur Schau trug, aber er ließ sich nicht beirren.
„Majestät, wer weiß, muss nichts fürchten, als das Vergessen. Mit den richtigen Informationen, kann der Vorausschauende die richtigen Menschen zur richtigen Zeit binden und sie tanzen lassen, wenn er an den richtigen Fäden zupft."
Nun war es an Adhara ihn überrascht anzusehen.
„Aber Majestät", der Hohe Horcher sah sie verschmitzt an, „Ihr bevorzugt doch die überraschende Ehrlichkeit, nicht wahr?"

Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und schlenderte neben ihr her, als würden sie sich müßig über das Wetter unterhalten.
Sie hatte gelernt, ihre tatsächlichen Stimmungen und Absichten zu verbergen und es gelang ihr zunehmend besser.
Dieser freundlich lächelnde, durchschnittliche Mann hatte sie jedoch so leicht durchschaut, als wären ihre Masken aus feinem Glas.
Er war eindeutig einer der gefährlichsten Menschen, denen sie bisher begegnet war und sie entschloss sich, ihm ihr Vertrauen nie ganz zu schenken, gleich, welche Rolle er noch spielen mochte. Sie verzichtete auf einen erneuten Versuch, ihn zu übertölpeln und sagte:
„Dann bleiben wir dabei: Was möchtet Ihr von mir?"
„Ah. Gewiss. Ich möchte dem Land und Euch Majestät, einen Dienst erweisen. Ihre Majestät, die Königinmutter hat meinen Rat bisher in den Wind geschlagen. Ich halte die Angelegenheit jedoch für - dringlich."
Deshalb ist er zu mir gekommen. Weil er bei der alten Vettel auf Granit gebissen hat, dachte Adhara.
Sie sagte nichts und ließ ihren Blick beiläufig über die Flechten gleiten, die die Säulen des Ganges überwuchsen.

Während sie Runde um Runde abschritten, berichtete ihr der Hohe Horcher endlich, weshalb er zu ihr gekommen war und malte ein Bild in düsteren Farben mit Striemen von dunklem Rot.
Er tat es ruhig und schönte nichts.
Der Verzicht auf das übliche höfische Geplänkel ließ alles noch schrecklicher erscheinen: Die Dörfer und Weiler verwaisten wegen einer Seuche, die sich allmählich durch das Land frass. Manche der Überlebenden kamen auf der Suche nach Hilfe in die Stadt.
Das waren die Bauern und das Landvolk, über dessen Anwesenheit im Armenviertel Adhara sich bereits gewundert hatte.
Die Ernte, die wegen der Trockenheit ohnehin wieder viel zu spärlich ausfiel, blieb auf den Feldern.

Sogar die großen Speicher des Palastes waren bedenklich leer. Sie sicherten im Fall einer Belagerung monatelang die Nahrungsversorgung Oranborns. Jahrelang, wenn die unteren Teile der Stadt aufgegeben wurden und sich der Adel hinter die oberen beiden Mauern zurückzog.

Daneben kam sogar die Tucheproduktion zum Erliegen, weil ebenfalls viel zu wenig Flachs geerntet wurde.
Die Pflanzen mussten über den Winter weiterverarbeitet werden, bevor man sie spinnen konnte. Deshalb würden sich die Ausfälle in diesem Jahr, erst mit aller Wucht im nächsten Frühjahr bemerkbar machen.
Dann aber verloren die Weber, Färber, die Nadler und die einfachen Schneider ihr Auskommen. Die Menschen wussten das, auch wenn der Palast die Augen davor verschloss.

„Die Armen und Kranken murren, aber sie erheben sich nicht. Selbst wenn sie die Kraft dazu fänden, würden sie bereits an der ersten Mauer scheitern", schloss der Hohe Horcher seinen düsteren Bericht.
„Die verzweifelten Bauern und Handwerker dagegen, Menschen die nichts mehr zu verlieren haben oder denen der Verlust von allem droht, kräftige Menschen mit Werkzeugen und Arbeitsgeräten..." Der Satz hing schwer zwischen ihnen.
„Steht es so schlimm?", fragte sie leise.
„Es ist noch nicht so weit. Ich fürchte aber, wenn nichts unternommen wird und der Hunger im Winter überhand nimmt..."
„Dann ist, was ich getan habe nicht genug. Bei Weitem nicht genug und vielleicht zu spät." Adhara lehnte sich gegen eine Steinmauer zwischen zwei Säulen.

„Ihre Majestät, die Königinmutter verweigert mir ihr Ohr in diesen Angelegenheiten und Euer Gemahl..." Auch dieser Satz blieb unvollendet. Augenscheinlich zog er es vor, sie ihre eigenen Schlüsse ziehen zu lassen. Adhara wußte genau, was er sagen wollte und zürnte ihm deswegen nicht.
Stattdessen fragte sie: „Was schlagt ihr vor?"
„Die Getreidespeicher und Vorratskammern der Burg müssen soweit wie möglich gefüllt werden. Zieht Mittel dafür aus dem ganzen Land zusammen, wendet Euch an Verbündete über die Landesgrenzen hinaus, versucht Eure Kontakte zu nutzen, die Ihr in Brückfelding habt.
Einer der weniger betroffenen Flecken, wenn meine Informanten richtig liegen und mit vergleichsweise guter Ernte, wegen der ausgezeichneten natürlichen Bedingungen.
Sollte es schlimm werden, könnt ihr Nahrung verteilen lassen, um das Volk zu besänftigen und sollte es sogar zu einem Aufstand kommen, können sich die Menschen in die obere Stadt zurückziehen und lange ausharren."
„Der Adel, meint Ihr wohl?", warf sie bitter ein.
Er lächelte nur, zog es aber diesmal vor, nichts zu erwidern.

„Bereitet die Adeligen im Umland auf die Möglichkeiten vor, aber ohne die Unruhe, die sie ohnehin ergriffen hat, weiter zu befeuern.
Es wäre mir eine Ehre, Euch meine eigenen Tauben zur Verfügung zu stellen", bot er ihr an und fuhr fort: „Versichert Euch, dass die kleinen Burgen ebenfalls Vorräte einlagern, soviel ihnen möglich ist und ihre Jäger mehr Wild schießen und pökeln, als sie es sonst tun würden.
Regt an, Land neu aufzuteilen und großzügig zu vergeben, auch an Knechte und Mägde. Setzt Prämien aus, für eingefahrene Ernten. Nur dieses und das nächste Jahr, bis die Lage sich bessert. Ein gutes Jahr und die Speicher werden voll sein."
Er beendete seinen gut vorbereiteten Vortrag und zum ersten Mal lächelte er nicht.

Adhara wußte nicht, ob sie ihm trauen konnte. Er klang aufrichtig und einiges von dem, was er gesagt hatte, entsprach ihren eigenen Beobachtungen und Überlegungen.
Mehr als alles andere überzeugte sie das Verschwinden seines bisher unbeirrbaren Lächelns.
Dennoch - das Bild, das er entworfen hatte, erschien ihr zu düster. Und sie sollte weitreichende und tiefgreifende Veränderungen vornehmen. Althergebrachte Grundgrenzen aufzulösen und Land an einfache Mägde und Knechte zu verteilen, würde zweifellos zu Problemen führen.

Sie konnte nicht sicher sein, dass er sie nicht zu überstürzten und unüberlegten Handlungen verleiten wollte, die ihre Position noch weiter schwächten oder sie selbst bei ihrem Gatten in Ungnade fallen ließen. Wenn er seine Unterstützung oder wenigstens sein Desinteresse aufgab, war alles für sie verloren.
Während sie versuchte, den Flüsterer einzuschätzen, fragte sie weiter: „Sollte ich nicht auch versuchen den Rat auf die Lage aufmerksam zu machen? Versuchen, ihn für diese Sache zu gewinnen?"
Er ließ seinen Kopf bedächtig hin und her wiegen. „Ihr könnt es versuchen, Majestät, sicher..."
Eine Falte bildete sich zwischen ihren Augen, direkt über der Nase. Das soll wohl bedeuten, es ist verschwendete Liebesmüh', dachte Adhara.
„Noch etwas?"
„Nein, Majestät. Das ist alles. Ich habe einen Bericht dazu abgefasst, den ich Euch gern übersenden werde, falls Ihr erlaubt?"
„Gewiss. Wo steht Ihr bei dieser Angelegenheit?", fragte sie ihn unvermittelt.
„Ich, Majestät? Auf der Seite des Reiches, natürlich." Er lächelte und erweckte nicht den Eindruck, auf weitere Nachfragen eine deutlichere Antwort geben zu wollen.
„Ich danke Euch für Eure Offenheit. Sie soll nicht unvergolten bleiben."
„Natürlich, Majestät, ich bin ein ergebener Diener." Er wirkte sehr zufrieden.
Nur von was oder wem, weiß ich nicht sicher, schoß es Adhara durch den Kopf.
„Ich werde sicher erneut Euren Rat einholen. Verlasst mich jetzt, ich benötige einen Moment, um über unser Gespräch nachzusinnen."
Die Königin warf einen Blick durch die Säulen auf den Rücken ihres Gatten, der noch immer in seine eigene Welt versunken über seinen Notizen saß.
Der Hohe Horcher verbeugte sich und schlenderte dann zurück, auf den Eingang des Palastes zu, an Thorn und Margie vorbei, die noch immer auf dem Weg warteten.

Nachdem der Flüsterer an ihnen vorbeigegangen war, kam Margie zu ihr.
Adhara war jedoch mit ihren eigenen Gedanken zu sehr beschäftigt, um zu dem einfachen Geplauder mit dem Mädchen zurückzukehren.
Sie konnte sich nach ihren Erfahrungen mit den Angehörigen des Hofes nicht entschließen, dem Hohen Horcher ihr Vertrauen zu schenken.
Es war nicht die Zeit, für überstürzte Entscheidungen.
Sie musste sich ein eigenes Bild vom Ernst der Lage verschaffen und mit jemandem sprechen, der keinen Grund hatte, sie zu hintergehen und der die Stimmung der Menschen gut kannte.
Jemanden, wie die betrunkene Frau namens Valu, der sie geholfen hatte und die ihren Weg nun schon so oft gekreuzt hatte, dass sie sich dem Glauben an Schicksal nicht mehr ganz verschließen konnte.

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