15 Drei Nachspiele

Die Nachricht vom ungewöhnlichen Ausflug der Königin erreichte den Palast noch vor ihr und erregte die Gemüter nicht wenig.
Als Thorn nach dem Ende des Dienstes in seinen Raum zurückkehrte, wartete  dort ein Page auf ihn, der ihm eine Nachricht von seinem Vater  überbrachte.
„Erwarte deinen Besuch", stand auf dem kleinen Stück Papier, dass der Junge ihm ausgehändigt hatte.
Thorn  seufzte. Er hatte damit gerechnet und machte sich sofort auf  den Weg, um die Angelegenheit hinter sich zu bringen. Sein Vater war nicht dafür bekannt, dass sein Zorn verrauchte, wenn man ihm Zeit ließ.
Ein pickeliger Bursche in der Kleidung der höhergestellten Dienstboten kündigte den Ritter an, als dieser die weitläufigen Gemächer des Grafen von Goldwald betrat.
Sein Vater war nur wenige Zentimeter kleiner als  Thorn, in seiner Jugend ebenso muskulös gewesen und noch immer breit und stark, wie ein Ochse.
Er trug sein Haar kurz und einen sorgfältig gestutzten Bart.
Die Qualität seiner Kleidung war ausgesucht, aber er  verzichtete auf den Tand, mit dem sich die meisten Adeligen gern  behängten.
Jetzt saß er hinter einem breiten, nur sparsam mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch, auf dem sich ordentlich einige Papiere stapelten.

Er blickte auf und richtete seinen Blick, wie einen Schwerthieb, auf seinen Sohn.
Der hatte eine neutrale Miene aufgesetzt, um es dem Alten nicht zu einfach zu machen und begrüßte seinen Vater förmlich.
„Du lässt die Königin ohne ausreichende Bewachung stundenlang durch die Gosse spazieren!", eröffnete der den Tanz.
„Ich war die ganze Zeit bei Ihrer königlichen Majestät", wandte sein Sohn ein.
Ausreichend, habe ich gesagt!", donnerte der Andere. „Nennst Du das etwa ausreichend?"
Thorn ließ diesen ersten Sturm gelassen über sich ergehen. Der Alte machte sich erst für den tatsächlichen Ausbruch bereit, wie ein ungeduldiges Ross vor dem Tjost mit den Hufen scharren mochte.
„Sie war kaum eine Stunde dort und keiner hat sich ihr genähert", erklärte er, obwohl er wußte, dass er nichts sagen konnte, um das Gemüt seines Vaters abzukühlen.
„Das  war schieres, dummes Glück! Von einer königlichen Leibwache erwarte  ich, dass sie die Situation jederzeit unter Kontrolle hat! Du hattest  gar nichts!" Der Zorn des Alten gewann an Wucht. Er begann zu schnaufen und eine  ungesunde Röte stieg ihm ins Gesicht.
„Du lässt Dich von einem Mädchen, das kaum sein Sedekionat hinter sich hat, vorführen!"
Jetzt begann die Wut auch in Thorn aufzuflammen.
„Sie ist die Königin. Ihre Befehle sind bindend", warf er ein.
„Ist  Dir nun auch noch das einzige Talent, das du hattest, abhanden gekommen?  Frauen dazu zu bringen, zu tun, was Du willst?" Er schnaubte ungehalten.
Thorn holte tief Luft. Es  führte zu nichts, sich dem Alten entgegenzustellen, denn er fand immer  einen Weg, ihn unter Druck zu setzen.
Er würde den Ansturm aushalten müssen und hoffen, dass er schnell vorüber ging. Seine Zunge brannte plötzlich vor Durst und er wünschte sich einen Becher Wein, den er hinunterstürzen konnte.
„Oder  ist das ein Talent, das nur bei Dirnen und kleinen Baroninnen wirkt?"  setzte der Alte nach und Thorns Durst vervielfachte sich. Er erschien ihm so stark, als könne er ihn nur löschen, wenn er die gesamten Vorräte der "Pflaume" in sich hineingoss. Er beschloss, es zumindest zu versuchen, sobald er hier herauskam.

Für den Moment presste er die  Kiefer aufeinander, dass seine Zähne leise knirschten und sagte nichts. Es gelang ihm immerhin, dem Blick des Alten standzuhalten, der sich stechend in seinen bohrte.
„Noch ein solches Versagen und ich sorge persönlich dafür, dass du deinen Sohn nie wieder zu Gesicht bekommst oder einen Schritt vor die Stadt setzt."
Das  Blut begann in Thorns Ohren zu rauschen. Zum wiederholten Mal hätte er dem Alten liebend gern die Hände um den Hals gelegt. Mit den Jahren hatte er gelernt, seinen Zorn zu zügeln. Wenigstens, bis er ihm nicht mehr gegenüberstand.
Er war nicht sicher, wie eine offene Auseinandersetzung zwischen ihm und  seinem Vater ausgehen würde und wagte nicht, sich auf eine solche einzulassen.
Die Miene des alten Grafen zeigte Genugtuung, als er den Kampf seines zweiten Sohnes beobachtete.
„Die Königin wird den Palast nicht mehr ohne ausreichende Eskorte verlassen. Ist das klar?"
Der Ritter nickte nur knapp und wollte sich zum Gehen wenden.
„Ist - das - klar?" fragte sein Vater in dem gleichen scharfen Tonfall, den Thorn schon als Kind zu hassen gelernt hatte.
„Ja", würgte er hervor. „Euer Durchlaucht", setzte er nach einer winzigen Pause hinzu, die seinem Vater nicht entging.
Dieser hatte aber offenbar beschlossen, dass er seinen Sohn nun genug angetrieben hatte.
Der  Ritter verbeugte sich knapp und ging.
Seine Beherrschung war zu Ende  und er brachte nicht mehr genug davon auf, die Tür beim Hinausgehen nicht mit einem lauten Krachen in ihren Rahmen zu schmettern.
Thorn  kehrte in seinen Raum zurück um seine Rüstung loszuwerden. Nachdem er eines ihrer Stücke gegen die Wand geworfen hatte - der Page  würde es zum Schmied zum Ausbeulen tragen müssen - suchte er sein Pferd  in den Ställen.
Einige Minuten später sah man ihn durch das Burgtor reiten, um seinen Plan, die Weinvorräte der „Prallen Pflaume" auf die  Probe zu stellen, in die Tat umzusetzen.

***

Adhara erhielt die Botschaft der Königinmutter am nächsten Morgen, gerade als sie ihr Frühstück beendet hatte und fertig frisiert und angekleidet  worden war.
Die Ältere lud sie zu einem vormittäglichen Tee in ihre privaten Gemächer ein.
Sie  seufzte und warf die Nachricht ins Feuer. Es ließ sich leicht erraten,  weshalb sie eher vor- als eingeladen wurde, aber Adhara hatte damit  gerechnet und sich in der Nacht einige Sätze zurechtgelegt.
Dem wartenden Boten teilte sie mit, dass sie die Einladung mit Freuden annähme und sich unverzüglich auf den Weg machen würde.
Die Ältere verzichtete diesmal auf die Mühe, ein Lächeln  aufzusetzen, sondern wies nur auf einen leeren Stuhl vor sich, während eine Dienerin den Tee auftrug.
In Adhara regte sich leiser Unwille. Sie war die erste Frau des Reiches und es stand niemandem, außer ihrem Gemahl an, sie auf einen Platz zu verweisen.
Die Königinmutter verwechselte zu häufig die Macht ihres Sohnes mit ihrer eigenen.
Dennoch  war es wahr, dass ihr Arm weit reichte. Sie wohnte den Sitzungen des  Rates bei und lenkte statt ihres Nachkommen weitgehend die Geschicke des  Landes.
Adhara bemäntelte ihren Missmut mit Höflichkeit und nahm milde lächelnd Platz.

Ihre Schwiegermutter heftete eisig die Augen auf sie. Ihre zusammengekniffenen Lippen kündeten beredt von deren Gemütszustand.
Die junge Königin griff nach ihrer Tasse und nippte an dem Getränk. Es duftete erdig und eine Ahnung von Rosen stieg ihr in die Nase.
Ehe sie ihre Tasse wieder sinken lassen konnte, eröffnete die Andere das  Gespräch und kam, ohne das am Hof übliche Geplänkel, zum Anlass für dieses  Zusammentreffen: „Was habt Ihr Euch dabei gedacht?", verlangte sie zu  wissen. „Habt Ihr überhaupt gedacht? Das zu glauben fällt mir schwer."
Adhara  schwieg. Sie hatte die Königinmutter des Öfteren im Umgang mit Dienern  und niedrig gestellten Adeligen beobachtet. Es schien ihr das Klügste zu sein, den Zorn zuerst auszuhalten, um das Gespräch nach dem ersten  Sturm in ruhigere Gewässer zu lenken.
Die Andere fuhr fort: „Ist Euch eigentlich klar, wie gefährlich dieses Viertel ist? Der Schmutz! Das Ungeziefer! Ich warne Euch!", drohte die alte Königin, merkte aber, dass sie nun einen Schritt zu weit gegangen war.
Adhara  hob den Kopf und stellte ihre Tasse mit einem leisen Klirren auf den  Unterteller in ihrer Hand. „Ihr warnt mich?", wiederholte sie ruhig.
Die Älter wischte die Frage und ihren eigenen Fehler mit einer unwirschen Kopfbewegung zur Seite.
„Ein Versprecher. Euer Gemahl, der König, mein Sohn, hat eine empfindliche Gesundheit.
Wie  könnt Ihr ihn und damit das Reich so gefährden? Stellt Euch vor, er erkrankt, weil ihr Euch irgendeine", hier fuchtelte sie aufgeregt mit  ihrer langfingerigen Hand durch die Luft, „Seuche von diesem Gesindel eingefangen habt!"
Adhara  beobachtete die Ältere und diesmal bewahrte sie die ruhige Höflichkeit, zu der sie in der letzen Zeit gefunden hatte. Der Duft des Tees war angenehm.
„Was wenn ihr  Eure Fruchtbarkeit gefährdet habt! Das ganze Land und auch unsere  Nachbarn warten auf einen Erben! Das alles habt ihr leichtfertig, aus einer Laune heraus, auf's Spiel gesetzt! Ihr habt keinen Funken  Verantwortung, will mir scheinen!" Ihre Stimme erklomm ungeahnte Höhen und sie sah Adhara ungehalten an.
Endlich schien das erste Unwetter niedergegangen zu sein und die junge Königin versuchte  nun vorsichtig, ihre Schwiegermutter zu beschwichtigen und an das Herz, dass irgendwo unter dem Panzer aus Seide schlagen musste, zu appellieren: „Ihr habt recht, es war unüberlegt."
„Das war es in der Tat!", brauste die Andere sofort wieder auf.
Unbeirrt  fuhr Adhara fort: „Ich war ergriffen von dem Anblick so bitterer Armut.  Ich dachte, ich kennte arme Leute aus Brückfelding, aber..." Hier unterbrach sie die Ältere wieder mit einem verächtlich hervorgepressten: „Brückfelding!"
„Aber diese Menschen", setze Adhara fort, ohne auf  den Einwurf einzugehen, „diese Menschen hungern. Sie hungern schon eine  Weile. Da war diese Waisenhaus, voller Kinder. Jedes von ihnen so arm,  dass es mich schmerzte, hinzusehen." Sie stellte ihre Tasse auf den niedrigen Tisch.
„Dann seht nicht hin?", schlug die Ältere vor. „Ihr hattet dort nicht das Geringste verloren! Und
ja, die Ernten waren schlecht. Aber wen kümmert das schon. Die Armen  sterben immer. Wenn nicht am Hunger, dann an Krankheiten oder weil sie  sich gegenseitig umbringen. Die sind nicht besser als wilde Tiere",  ereiferte sie sich. „Sie vermehren sich ja auch wieder, sonst wäre  dieses Waisenhaus", sie rümpfte angeekelt die Nase, „ nicht so voll  gewesen, nicht wahr?"
Sie hätte darauf gefasst sein müssen, aber die Kälte der Frau überraschte Adhara. Ein weiterer Ausbruch der Königinmutter stand ihr bevor, als sie sagte: „Wie dem auch sei, ich habe ihnen Hilfe zugesagt..."
Das kommt überhaupt nicht in Frage", fiel ihr die andere ins Wort.
„Wir  werden doch nicht unseren Besitz an diese Kreaturen verschenken. Das ist ein Fass ohne Boden. Außerdem haben wir erst kürzlich die Reste  Eures Hochzeitsfestes an die Armen verteilen lassen. Was sollen wir denn noch tun?"
Langsam schloss die empörte Fassungslosigkeit, die sie inzwischen so gut kannte, ihren  kalten Griff um Adhara. Auf die vollkommene Ablehnung, die ihr  entgegenschlug, selbst als sie die Kinder erwähnte, war sie nicht  vorbereitet gewesen.
„Das ist Monate her!", entfuhr es ihr. „Ich werde  noch einmal dorthin gehen. Ich nehme eine größere Eskorte mit, die mich  beschützt, halte den Besuch kurz und bewege mich nur in der Sänfte."  Vielleicht konnte sie die Andere mit Vernunft gewinnen.
Nun war es an der  Königinmutter sie fassungslos anzustarren.
„Das werdet ihr nicht! Sobald Ihr ein- oder zwei gesunde Jungen geboren habt, dürft Ihr Euch  meinetwegen gern umbringen und Euch im Dreck suhlen. Aber bis dahin werdet Ihr keinen Schritt mehr hinter das Händlerviertel setzten! Eure erste Pflicht gilt meinem Sohn und dem Land! Nicht irgendwelchem dreckigen Geschmeiß!"
Adhara stand auf und blickte nun auf die Königin Mutter herab.
„Ich  verstehe Eure Sorge um Euren Sohn und das Reich und ich versichere  Euch, auch meine erste Sorge gilt meinem Gemahl und dem Land. Deshalb würde ich sehr gern an den Ratssitzungen teilnehmen." Sie biß die Zähne  aufeinander und erwartete den Orkan, den sie heraufbeschworen hatte.
„Was  erlaubt ihr Euch?" Die Andere schrie nun fast und erhob sich ebenfalls.  Ihr seid eine Frau! Die Ratssitzungen sind nur für den König und seine  engsten Vertrauten! Was solltet Ihr da schon verloren haben, Ihr könntet  den Gesprächen noch nicht einmal folgen!"
Die Fassungslosigkeit  verwandelte sich in reine, eisige Wut. Das Blut begann in Adharas Ohren  zu rauschen und sie hatte Mühe, ihre Stimme zu beherrschen.
„Ihr seid ebenfalls eine Frau, Majestät", erinnerte sie die andere und bemühte sich, ein Zittern zu verbergen.
„Ich bin die Königinmutter! Ich wohne dem Rat in Vertretung meines Sohnes bei!"
„Ich bin jetzt die Vertretung Eures Sohnes! Ihr selbst habt ihn mir im Saal der Acht gegeben."

Zum ersten Mal in einer langen Reihe von Jahren, verschlug es der älteren Frau die Sprache. Sie holte immer wieder entrüstet Luft, ohne etwas zu erwidern und sank dann angegriffen zurück auf ihren Stuhl.
Sofort  eilte eine Dienerin herbei, um sich um ihr Wohl zu bemühen, aber das arme Mädchen wurde unwirsch wie eine lästige Fliege verscheucht.
Adhara  war stehen geblieben und beobachtete die andere abwartend, während sie  versuchte, zu ihrem ruhigen und höflichen Selbst zurückzufinden.
Schließlich erlangte die Königinmutter ihre Fassung wieder. Sie setzte eine gönnerhafte Miene auf und sagte, als hätte es nie in Frage gestanden: „Nun gut, geht, besucht Eure Waisen. Seid ein wenig mildtätig, wenn es Euch zufrieden macht und ihr  daraus Kraft schöpft. Vielleicht könnt Ihr dann doch noch ein Kind unter dem Herzen tragen."
Sie griff nach ihrem Tee, doch die Tasse zitterte  kaum merklich in ihrer Hand.
Sie fuhr fort: „Ja wirklich. Seid gütig. Lindert die Not  dieser armen Menschen. Ihr werdet dann zwar kaum noch Zeit für Anderes haben, wenn Ihr Eure Pflichten als Ehefrau ernst nehmt, aber bitte,  natürlich. Ich kann mich dem Guten, dass Ihr zu tun gedenkt nicht verschließen." Die Königinmutter nippte an ihrem Tee. Offenbar war der Sturm vorüber und zu ihrem eigenen Erstaunen war Adhara es, die noch auf ihren Füßen stand.

Plötzlich durchschaute sie das Manöver und das seltsame Abflauen der Wut ihrer Schwiegermutter. Sie wollte sie beschäftigt halten. Besser, die junge Königin vertrieb sich die Zeit mildtätig mit ein paar Waisen, als ihr in Regierungsangelegenheiten in die Quere zu kommen.
Es  war, als wären Adhara die Augen aufgetan worden. „Ich danke Euch für Euer  Entgegenkommen und Eure Anteilnahme."
Die Lüge glitt mit Leichtigkeit  von ihren Lippen. „Ihr habt Recht, die Sorge um die Armen wird mich eine  Weile in Anspruch nehmen und Euer Sohn ist ebenfalls recht fordernd."
Diese zweite Unwahrheit dekorierte sie mit einem kleinen, zweideutigen Lächeln.
Die Augen der Königin Mutter verengte sich, aber sie erwiderte nichts.
„Ich  versichere Euch, ich werde größtmögliche Vorsicht walten lassen und  unversehrt wiederkehren. Ich muss mich nun verabschieden, Ihr versteht  sicher, dass ich einiges zu vorzubereiten habe. Der Tee war wieder vorzüglich. Ich danke Euch."
Adhara lächelte noch einmal, und verließ dann gemessenen Schrittes die Gemächer. Zumindest hatte sie erreicht, was sie sich wünschte.

Der Abend hielt ein weiteres Gespräch für sie bereit.
Sie  stand in ihrem Nachtkleid im königlichen Schlafgemach an einem Tisch.
Ihr Gemahl verstreute gewohnheitsmäßig seine Pergamente und  Schreibfedern im Raum und die Diener hatten strenge Anweisung, nichts  davon anzurühren.
So war auch dieser Platz unter Schriftstücken  begraben, die mit seiner spitzen, weit nach links geneigten Handschrift  bedeckt waren.
Das Blatt, das sie gerade las, als der König aus dem  Ankleidezimmer trat, war mit „Zweite Hymne" überschrieben und handelte  von der Unendlichkeit der Nacht und einem Rausch am Tage. Worte über Bittermandelöl, die körperliche Liebe und die Ekstase, wenn man sich  stattdessen der natürlichen Schönheit hingebe. Adhara seufzte.

Er  trug nun ebenfalls nur ein Nachtgewand. Seine Miene nahm einen Ausdruck der Bestürzung an, als er seine Gemahlin bei seinen Schriften sah.
Adhara lächelte ihn warm an und sagte: „Das ist sehr schön. Und so tiefsinnig."
„Wirklich?" Die Miene des Königs hellte sich sofort auf. „Ich meine, ja, ich empfinde ebenso. Versteht ihr denn etwas davon? Ich hatte nicht den  Eindruck, dass Ihr sonderlich bewandert in der Poetik seid."
Er sagte es  in aller Unschuld, aber Adhara empfand dennoch sofort den Verdruss, der  in seiner Gegenwart ihr ständiger Begleiter geworden war.
Sie legte  das Blatt zurück. „Nein. Ich verstehe nichts davon, Majestät. Es war nur der flüchtige Eindruck eines ungeschulten Geistes. Verzeiht."
„Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Ich freue mich, wenn Ihr etwas lernen möchtet."
Verwirrung  überschattete sein junges Gesicht. Kurz dachte Adhara, dass sie ihm ebenso unzugänglich erscheinen musste, wie er ihr. Wenigstens das hatten  sie gemeinsam.
Sie schenkte ihm ein weiteres Lächeln und zog sich dann ins Bett zurück.
Nachdem sie ihre Pflicht dem Land gegenüber erfüllt hatten und sie sich gerade in ihre eigenen Gemächer zurückziehen wollte, hielt er sie überraschend  zurück.

„Mutter war sehr außer sich. Ihr solltet sie nicht so aufregen. Sie war sehr besorgt um Euch."
Fast hätte Adhara aufgelacht.
Sie  setze sich zu ihm auf die Bettkante. „Majestät, wart Ihr schon einmal  im Armenviertel?"
Er überlegte.
„Ich musste es einige Male in einer  Kutsche durchqueren, wenn ich die Stadt verlassen habe."
„Habt Ihr die Menschen dort gesehen? Sie hungern. Seit Jahren. Es war furchtbar, manche trugen kaum Kleidung und ich  konnte jeden ihrer Knochen sehen. Und Kinder..."
„Ihr solltet Euch nicht damit befassen. Die Welt ist so voller Schönheit!", unterbrach er sie.
„Aber, mein liebster Gemahl, Ihr seid der König. Auch das sind Eure  Untertanen. Empfindet Ihr nicht eine Verantwortung für sie? Auch sie  sind Teil des Reiches. Wenn Ihr mich einmal begleiten würdet..."
Die  Miene des Königs, die eben noch gelöst und ruhig gewesen war, verschloss  sich sofort.
„Das wird nicht möglich sein. Mutter würde das nicht  erlauben und der Rat nicht billigen, wenn ich mich einer solchen Gefahr  aussetze."
„Ihr seid der König. Niemand hat das Recht, Euch etwas zu verbieten, Majestät", warf Adhara ein.
Er wurde wütend. „Das weiß ich!"
Sie hatte heute bereits mehr als einen Sturm überstanden und warf sich nun auch kühn in diesen.
„Wie oft nehmt Ihr an den Sitzungen des Rates teil? Vielleicht könnte man eine regelmäßige Armenspeisung einrichten? Wir haben soviel, das wir  niemals verzehren, was passiert mit diesen Speisen?"
„Genug!" Seine  Stimme überschlug sich beinahe. „Mutter hatte Recht. Kümmert Euch soviel  Ihr wollt um diese Armen, meinetwegen, aber sprecht nicht mehr davon!"
Der König schwitzte und rang nach Atem.
Adhara  verließ das Bett und reichte ihm einen bereitliegenden, feuchten Lappen, der mit Thymiantinktur getränkt war. Der König pflegte ihn sich vor das Gesicht zu halten, um sich das Atmen zu erleichtern. Jetzt presste er ihn sich fest vor Mund und Nase und sah sie mit ängstlichen Augen an.
Sie strich sanft über seinen Arm und  wischte eine Strähne zur Seite, die ihm auf der Stirn klebte. Über dem Tuch folgte sein Blick ihren Bewegungen.
„Verzeiht, ich wollte Euch nicht aufregen", sagte sie leise.
Er beruhigte sich allmählich und schließlich ließ er den duftenden Lappen sinken.
Adhara nahm ihn an sich und legte ihn zur Seite.
Sie beugte sich vor und gab ihm einen keuschen Kuss auf die schweißnasse, salzige Stirn.
„Gute Nacht, liebster Gemahl." Dann erhob  sie sich von der Bettkante, auf der sie gesessen hatte und wollte durch  die neue Tür, in ihren Teil der Gemächer gehen.
Mit der Hand auf der  Klinke drehte sie sich noch einmal um.
„Ist alles gut zwischen uns,  Majestät? Ich wollte Euch sicher nicht ängstigen."
Er erwiderte unstet ihren Blick.
„Ja, ich - natürlich. Bitte tut, was immer Ihr für nötig haltet."
„Danke Majestät."
Mit einem warmen Lächeln wünschte sie „Gute Nacht" und verließ ihn.

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