Kapitel 1

„Heute ist einer der besonderen Tage."

Als sie die tiefe Stimme, welche sie immer an ein widerliches Kratzen von Stein auf Stein erinnerte, so nah an ihrem Ohr vernahm, zuckte Mette unbewusst ein wenig zusammen.

„Sieh nur, wie sie davonfliegen.
Bereit dem besseren Wohl zu dienen und die Welt ein kleines Stück zu verändern.", murmelte die Stimme.
Sie klang höhnisch, verspottete sie in ihrem kleinen Unglück.

„Sie mögen vielleicht mit diesem Sonnenaufgang ausfliegen, aber dennoch kehren sie jedes Mal vor Einbruch der Nacht wieder heim.", war ihre Antwort.
Harsch, kurz und kalt.

Hastig verschränkte sie die Arme und trat einen größtmöglichen Schritt nach vorn, ehe sie sich umdrehte und forschend die Gestalt betrachtete, welche sich so hinterrücks an sie herangeschlichen hatte.

Mette verachtete den hochgewachsenen Oberengel, der wie jeder andere Engel ebenfalls, ein wahres Abbild von Perfektion darstellen sollte.

Sie selbst jedoch sah nur Arroganz im breit gebauten Körper und der geraden Haltung, Hinterlist in den stechend hellen Augen und Verschlagenheit im aufrechten Gang.
Vor allem aber sah sie den Gefallen an Überheblichkeit und dem Gedanken an Macht über jedes andere Wesen am Ort, wenn sie die golden glänzenden Federschwingen betrachtete.

Verdient hatte er sich die Flügel ihrer Meinung nach herzlich wenig.
Es gab viele Lichtwesen am Ort, die dieses hohe Amt zu tausenden Malen mehr verdient hätten, als er.
Jedoch lag es nicht an ihr über die Entscheidungen des Himmels zu urteilen.
Schließlich war sie nicht mehr, als eine gehorsame Dienerin.

„Du wärst gern mit ihnen geflogen, nicht wahr?"
Ein selbstsicheres Grinsen stahl sich auf Rianors Gesicht, während sein Blick sie abschätzend von oben bis unten musterte.

Mette verabscheute es, wenn er sie so ansah.
Vor allem aber, weil sie nichts dagegen tun konnte.
Er wollte sie einschüchtern, zumindest versuchte er das.
Wer ihn nicht vom ersten Augenblick an vergötterte, der sollte ihn fürchten. Seine Einschüchterungsversuche waren dabei an ihr recht vergeblich – bei den anderen Engeln jedoch leider erfolgreich.
Es war ein weiterer Grund, weshalb sie versuchte, dass sich ihre Wege nicht allzu oft kreuzten.

„Jeder möchte das.", gab Mette zurück. „Woran ist es gescheitert, dass man dich nicht auserwählt hat?"
Da war er wieder, dieser verschlagene, überhebliche Unterton in seiner Stimme!
Er wusste natürlich genau, weshalb sie noch hier stand, mit zusammengefalteten Flügeln und keinem Bisschen Freiheit durch den Wind während des Fluges.
Sie stand hier, in ihrem Zuhause, das es schon seit unzähligen Jahren war und auch bleiben würde.

Sie konnte lediglich zusehen, wie sich das goldene, protzige Tor hinter einer Hundertschaar von anderen Engeln langsam schloss und das Aufblitzen von unzähligen, schneeweißen Flügelpaaren in einer Wolkendecke abtauchte.
Diese Engel waren auserwählt worden, um hinab zur Erde zu fliegen.
Sie durften dorthin gehen, wo Elend und Unglück die Welt beherrschten, sie durften helfen und Linderung bringen. Und wenn sie wiederkehrten, dann waren sie erneut siegreich gewesen.

Mette beneidete die anderen, die hinausfliegen durften, tatsächlich. Leider hatte Rianor sie in dieser Hinsicht tatsächlich durchschauen können.
Darüber würde sie sich später gewiss noch ärgern.
Ihr langes Leben, welches im Vergleich zu manch anderen ihrer Genossen eigentlich nur ein Bruchteil war, hatte sie noch nicht ein einziges Mal ihre Schwingen ausbreiten dürfen.
Dabei sehnte sie sich danach, endlich einmal fliegen zu dürfen.
Sie wollte ihre Flügel zur vollen Größe ausstrecken und spüren, wie sich die Luft um die langen, weichen Federn schmiegte.
Sie wollte wissen wie es sich anfühlte, sich aus dem endlosen Meer aus weißen Wölkchen zu stürzen und hinein in den scheinbar bodenlosen, blauen Himmel zu fallen.

Bisher war ihr Traum immer nur ein Traum geblieben.
Und der Grund dafür stand direkt vor ihr und grinste sie mittlerweile selbstgefällig an, während weiße Zähne blitzten.
„Vielleicht habe ich die Harfen nicht ausreichend poliert.", schnappte Mette bissig.
Damit wollte sie sich endgültig von Rianor abwenden.
Sie hatte keine Lust mehr, sich von ihm wie ein kleines Püppchen behandeln zu lassen, mit dem er spielen konnte.
Sie wollte eigentlich nur noch weg und wieder ihrer einzigen Aufgabe nachgehen.
Sie wollte allein sein und Nachdenken.

"Nicht in diesem Ton, meine Liebe. Erinnere dich daran, wer vor dir steht!", rief Rianor aus.

Mette ignorierte seine Worte und machte sich in Richtung des kleinen Tempels auf, in den sie sich so oft zurückzog, um in Ruhe die Harfen zum Glänzen zu bringen.
Dass die wunderschönen, beliebten Musikinstrumente eigentlich immer sauber waren, spielte dabei keine Rolle. Am Ort gab es schließlich nichts, was Unreinheit verbreiten konnte.

Sie hörte den Oberengel noch etwas rufen, ließ das Geräusch durch ihre Ohren rauschen, ohne irgendetwas zu verstehen.
Sie verdrängte seine Anwesenheit vollständig aus ihren Gedanken, sich wohl bewusst, dass das Konsequenzen für sie haben würde.

Rianor war sehr schnell beleidigt und ihre ständige, offene Ablehnung gegen ihn würde seine Wut auf sie und ihr Verhalten wohl kaum bändigen.
Es kümmerte Mette jedoch herzlich wenig.
Er hielt sie davon ab, zu fliegen, verwehrte ihren ewigen Traum.
Doch solange er sich nicht veränderte, würde auch sie das nicht tun.
Was wohl leider hieß, das sie bis ans Ende der Ewigkeit alleine Instrumente putzen durfte. 

~

Da war ein Schatten.
Unruhig zuckte die schwarze Masse zwischen den hohen Säulen hin und her, halb versteckt, als war es unsicher, ob es sich tatsächlich zeigen sollte.

Mette beobachtete ihn nun schon seit mehreren Minuten argwöhnisch aus den Augenwinkeln.
Es war bereits das zweite Mal, dass sie ihn sah.

Was auch immer das für ein Wesen war, es gehörte nicht hier her.
Vielleicht war es eine verirrte Seele – oder ein böser Geist.
Vielleicht war es aber auch ein hinterhältiger Trick von Rianor?
Sie traute ihm jedenfalls alles zu.

Mette sah wieder auf die Harfe hinab, welche sie auf ihrem Schoß platziert hatte.
Ihr Gesicht spiegelte sich in dem Gold klar erkennbar wieder.
Das Instrument war so sauber wie eh und je.

Sie zögerte einen Moment, wog ein paar Gedanken nebeneinander auf, ehe sie zu einer Entscheidung kam und das Putztuch sinken ließ.
Ganz langsam, so als hätte sie das Schattenwesen nicht bemerkt, schob sie die Harfe von ihren Beinen und stellte sie bedacht auf dem Boden am, dann erhob sie sich.
Ein paar verirrte dunkle Haarsträhnen fielen ihr vor die Augen und eilig strich sie sie sich hinters Ohr, um freie Sicht zu haben.

Noch einen vorbereitenden Atemzug nehmend und einmal die Entscheidung überdenkend, blieb sie für den Bruchteil einer Sekunde stehen.

Doch plötzlich wirbelte sie herum und blickte direkt auf ihren Beobachter. Unter ihrem bohrenden Blick wand sich das Wesen, welches zweifellos überrascht worden war, wie ein schleimiger Aal hin und her.

„Ich kann dich sehen!", zischte Mette, giftiger, als eigentlich beabsichtigt.
Der Schatten schwebte weiterhin zwischen den Säulen, dennoch änderte er seine Form, waberte mal wie Nebel, dann wie eine schwarze Wolke oder eine bewegliche, unkenntliche Masse über dem Boden.
Sie starrte ihn weiterhin an, versuchte ihn mit all ihrer Willenskraft festzunageln.

„Wenn dich Rianor geschickt hat, dann kannst du gern direkt zu ihm zurückkehren!
Ich habe ihn durchschaut und er kann mir keine Angst einjagen, egal was er versucht!"
Mette konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme lauter wurde.
Aber dieser versuchte Psychoterror musste aufhören.
Ihre Nerven waren genug strapaziert worden.

Der Schatten erstarrte für einen Moment, als würde er sich ertappt fühlen.
Mette glaubte für einen Moment an einen kleinen Triumph.
Dann jedoch blinzelte sie nur für einen Moment zu lange, und das Wesen entwischte aus ihrem Blickfeld, indem es sich scharf nach rechts bewegte und hinter einer Säule in Deckung ging.

Sie reagierte kurz darauf und machte ein paar große Schritte, um hinter die große Steinkonstruktion zu gelangen. Als sie jedoch ankam, sah sie gerade noch, wie der Schatten am Boden entlang auf eine Öffnung in der Wand zu huschte, die eigentlich nur ein Fenster ohne Glas war, denn dieses Material war am Ort nicht vorhanden.

Schließlicht entwischte der ungebetene Besucher nach draußen, und Mette musste sich eingestehen, dass ihre Idee, ihn zu konfrontieren, entweder grandios oder die dümmste ihres ewigen Lebens gewesen war.

Mit Gefühlen schwankend zwischen Freude und Verärgerung trat sie an das Fenster heran, durch die der Schatten geflohen war.
Erblicken konnte sie ihn nicht mehr.

Da waren nur Wolken und weit entfernt blitze der unüberwindbare Zaun golden aus dem Weiß heraus, weil sich die Sonnenstrahlen darin brachen.

Mettes kleiner Zufluchtsort, der Tempel, war zwar im Vergleich zu anderen Gebäuden relativ nah am Zaun gebaut, dennoch war der Weg dahin weit.
Vor allem, wenn man nicht fliegen durfte, und konnte.
Deshalb hatte sie sich auch noch nie die Mühe gemacht, dorthin zu gehen.
Und ihres Wissens nach, hatte das außer den bewachenden Engeln, die immer dort entlang patrouillierten, auch noch niemand anders gemacht.

Vielleicht gab es ein Loch im Zaun, durch den das Wesen gekommen war?

Mette fixierte die monströse Schutzkonstruktion, die ihre Welt begrenzte und die schädliche Außenwelt fern hielt.
Sie war sich bewusst, dass es ihre Pflicht war, die Anwesenheit des Wesens zu melden.
Dennoch gefiel ihr der Gedanke nicht.

Der Schatten hatte doch recht harmlos gewirkt, und zudem hatte sie ihn jetzt verjagt.
Letzten Endes würde sich sowieso niemand mit solch einer kleinen Sache beschäftigen wollen, da war sie sich sicher.

Mette beschloss, erst einmal über den Vorfall stillzuschweigen. Möglicherweise war es sowieso das Beste, wenn sie sich eher im Hintergrund hielt, um nicht noch weiter in den Fokus eines gewissen, unausstehlichen Oberengels zu rücken.

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