Industriestadt
„Allradantrieb", bemerke ich.
„Natürlich. Ohne käme hier niemand durch."
„Wie hast du den Leuten bei uns klarmachen können, dass du einen Foodtruck mit Allradantrieb brauchst?"
„Es war einfacher, als ihnen begreiflich zu machen, dass ich keinen Kühlschrank brauche."
Das glaube ich ihm sofort. Finley wird in unserer Welt kaum vorgeführt haben, dass er selbst seine Waren kühlen kann. „Wie machst du das eigentlich?"
„Ich entziehe den Dingen die Wärme."
Aha. Klar, ganz einfach. Erinnert mich daran, wie Ragnar als Fünfjähriger morgens in unser Bett gehüpft ist und gefragt hat, ob wir mit ihm heute ein Kraftwerk bauen könnten. Auf die Frage meines Mannes, wie er sich das vorstellt, hat Ragnar damals nur geantwortet: „Staudamm, Turbine und Generator, ganz einfach!"
Das Interesse für Technik hat bei ihm bis heute nicht nachgelassen. Das ist auch der Grund, warum er Finley ständig über Einzelheiten ausfragt über diese sonderbare Welt. Der Eismann, der hier aufgewachsen ist und vieles als selbstverständlich akzeptiert, ist damit heillos überfordert. Aber er bleibt weiterhin geduldig, gibt Auskunft, soweit er kann und scheint sich über Ragnars Engagement eher zu freuen als davon genervt zu sein.
Was Ragnar ihm über Computerspiele erzählt, verwirrt Finley jedoch nur. Computer kennt er offenbar; er erinnert sich, dass bei der Anpassung seines Foodtrucks jemand erst einmal alles am PC entwickelt hat, bevor das in die Werkstatt ging. Ragnars Erklärung, dass man in Spielen Welten auf die gleiche Art erstellen kann, begreift er jedoch nicht.
„Mama, kannst du vielleicht mal fahren?" Ragnar verzweifelt allmählich. „Dann kann ich Finley alles zeigen!"
Da wir inzwischen neue Wagenspuren gefunden haben, sind Finley und ich einverstanden. Ich finde ohnehin, dass der Polarfuchs mal eine Pause brauchen kann. Also verkrümeln sich Ragnar und Finley mit Ragnars stets mitgeführter Switch auf die hinteren Sitze und Lars nimmt überaus stolz den Beifahrersitz ein.
Auf diese Art verbringen wir die nächsten beiden Stunden. Hinter mir wird eifrig gespielt; Finley lässt sich von Ragnar die Landmaschinen im „Farm Manager" erklären, schlägt Ragnar mühelos bei „Food Truck Tycoons" und steuert souverän durch die Welten bei „Mario Kart"; aber am meisten fasziniert ihn „Minecraft". Und mit Hilfe dieses Spiels kann ihm Ragnar auch verständlich machen, warum ihn Finleys Heimat an ein schlecht editiertes Computerspiel erinnert.
Lars und ich beschäftigen uns mittlerweile mit der Landschaft, die wir durchfahren. Die Stadt, die wir aus der Ferne gesehen haben, ist schon lange nicht mehr sichtbar und wir bewegen uns hauptsächlich über eine Graslandschaft, immer wieder unterbrochen von Buschwerk und kleinen Wäldchen, in denen wir nicht eine einzige bekannte Pflanze erkennen können. Ab und zu laufen uns kleine Tiere über den Weg, blaue Eichhörnchen mit kleinen Geweihen, orange und lila gefleckte Iltisse und eine Art Reh mit Hasenohren, langen Reißzähnen und schwarzroten Streifen. Um Tarnung macht man sich hier wohl wenig Gedanken.
Auf Lars' Frage bringt Finley einen Notizblock und bunte Fineliner zum Vorschein und verfolgt dann interessiert, wie Lars alle Tiere und Pflanzen abbildet, die uns begegnen. Malen ist für ihn offenbar auch etwas Neues. Er gesteht uns, dass ihm lediglich Konstruktionszeichnungen ein Begriff sind. Rein aus Freude am Bild zu malen ist ihm nie in den Sinn gekommen.
Ich halte an, als wir die ersten Häuser erreichen. Es sind Wellblechhütten und Holzschuppen, meinem Gefühl nach eher Behausungen für Slumbewohner, laut Finley aber völlig normale Wohngebäude. Jetzt verstehe ich, warum Finley meinte, dass bei Erdbeben zwar viel kaputtgehen würde, aber kaum Menschenopfer zu beklagen seien.
Natürlich muss Finley sofort die Verkaufsklappe öffnen. Der Andrang ist nicht weniger heftig als in der Wüste, nur sind es diesmal weniger Kunden. Hauptsächlich Biber- und Nutria-Tierwesen, wie ich bemerke. Das passt auch dazu, dass wir hier wieder auf den Fluss stoßen, der uns vor einigen Stunden den Wasservorrat aufgefüllt hat.
Die Menschen hier leben von der Holzwirtschaft, erklärt uns Finley, als wir weiterfahren. Am Fluss entlang finden wir eine blühende Landschaft vor, zum großen Teil von Wäldern geprägt, die laut dem Eismann von den Bibermenschen gehegt und als Rohstoff für Baumaterial genutzt werden.
Kurze Zeit später erreichen wir den landwirtschaftlichen Teil dieser Ebene. Hier finden wir reichlich Staudämme vor, aus Holz nach Biberart errichtet und für reich verzweigte Bewässerungskanäle entlang der Felder genutzt. Natürlich, wenn es hier niemals regnet, muss man zu solchen Mitteln greifen. Ich finde das seltsam; sollte die graue Sonne nicht das Wasser verdunsten lassen und zu Wolken formen, die dann woanders abregnen? Aber Finley versichert uns auf Nachfrage, dass er hier noch niemals Wolken gesehen hat. Im Gegenteil, er versteht erst jetzt, warum unser Himmel so voll von diesen weißen und grauen Gebilden ist. Dessen blaue Farbe hat ihn ebenfalls zunächst irritiert, auch wenn sie ihm besser gefällt als das allgegenwärtige Grau in dieser Welt.
Ragnar betrachtet den Himmel genauer. „Mama, weißt du, wie das aussieht? Wie die Abgrenzung der Welten in alten Computerspielen, wenn die Entwickler da keine Grafik für entworfen haben."
„Hör doch mal auf mit deinen -", ich unterbreche mich selbst. „Du hast recht. Es erinnert mich an die erste Version von 'Heretic'. Da sieht das ähnlich aus."
„Mama, sind wir echt in einem Computerspiel drinnen?", fragt Lars. „So wie die Leute in 'Jumanjii'?"
„Dösbaddel, die waren in einem Brettspiel gefangen", erklärt Ragnar, der dem kleinen Bruder von diesem Film erzählt hat. Aus eigener Anschauung kennt Lars ihn nicht; dazu ist er mir noch zu jung.
„So langsam habe ich das Gefühl, dass etwas Wahres dran ist", sagt Finley zu meiner Überraschung. „Auf jeden Fall ist Hüben irgendwie nicht logisch aufgebaut. Ich habe das immer so empfunden und als ich Drüben besucht habe, noch weitaus mehr. Bei euch ergibt irgendwie alles einen Sinn."
„Aber wenn bei euch andere Regeln herrschen, müsstest du dann nicht deine als richtig und unsere als seltsam sehen?"
„Ja, aber dem ist eben nicht so. Es liegt wohl auch daran, dass in jeder Ebene die Voraussetzungen anders sind. Zum Beispiel fließt der Fluss hier immer zum Rand, obwohl die Quelle tiefer liegt. In der Bergebene fließen alle Flüsse und Bäche immer nur nach unten. Und in der Eiswelt gibt es gefrorene Flüsse, die sich trotzdem fortbewegen."
„Sowas nennt man bei uns Gletscher, aber deren Bewegung sieht man mit dem bloßen Auge nicht."
„Bei uns schon. Und am Rand werden diese Flüsse sofort zu Wasser. Das ist unlogisch, denn Eis geht nicht so einfach in Wasser über. Ich habe die Temperatur geprüft; das Eis ist sehr kalt und einen Zentimeter weiter ist lauwarmes Wasser. Aber auf allen Ebenen verhält sich Eis völlig anders; nur an den Übergängen ist das so."
„Das hört sich völlig abstrus an." Ich kann Finleys Zweifel verstehen. „Und die anderen hier, die akzeptieren das?"
Finley zuckt mit den Schultern. „Die meisten sind damit beschäftigt, zu überleben. Und kaum jemand kommt so oft in eure Welt wie ich. Wenn einem der Vergleich fehlt, merkt man sowas nicht."
„Aber was ist mit denen, die hierher geschleift werden? So wie wir?"
„Die werden von den Sammlern zum Markgrafen gebracht und dort angepasst."
Oha. Ich glaube nicht, dass mir diese „Anpassung" gefallen hätte.
Auch in der Bauernregion verkauft Finley erstmal einmal sein Eis, bevor wir weiterfahren können. Und auch hier sind die Tierwesen so erfreut über sein Auftauchen, dass ich verstehe, warum Finley diese Aufgabe so sehr liebt. Und woher er seine unglaubliche Energie bezieht. Die Dankbarkeit dieser Tier-Mensch-Geschöpfe ist überaus motivierend.
„Hier wird nur Gemüse angebaut", erklärt uns Finley. „Die Bauern können zwar zuerst ihren eigenen Bedarf decken und verkaufen nur die Überproduktion. Aber von Töften, Linsen und Möhren alleine kann man nicht lange leben, man braucht auch Milchprodukte oder Fleisch."
„Ihr kennt kein Getreide?"
„Nein und auch nur diese drei Gemüsesorten."
„Deshalb hast du Möhren in einem Kühlbehälter und dafür Mais, Tomaten und Paprika in Dosen!"
„Ja. Auch wieder etwas, was ich bei euch beschaffe."
„Und zu Eis verarbeitest", inzwischen habe ich mich mit Finleys Sortiment vertraut gemacht. „Ich habe nie zuvor Mais- oder Paprikaeis probiert, aber es schmeckt tatsächlich." Und es wird auch viel verlangt, wie ich mitbekommen habe.
„Nicht alle mögen die Galettes; aber alle lieben Eis. Auf diese Art bekommen sie die nötigen Nährstoffe." Finley scheint sich da genau informiert zu haben.
„Holst du den Schinken für die Galettes auch bei uns?", will Ragnar wissen.
„Nein, den bekomme ich von Kastanienwelt. Dort leben Wolf-Tierwesen, die vor allem Schweine züchten."
„Wir sammeln auch immer Kastanien im Herbst und fahren dann ins Wildschweingehege", teilt ihm Lars sofort mit. „Schweine lieben Kastanien!"
„Schön", Finley lächelt. „Wenigstens etwas, was unsere Welten gemeinsam haben."
„Oh, da fällt mir noch etwas ein", sage ich trocken. „Auch bei uns essen vor allem Kinder viel lieber Eis als Gemüse."
Gegen Abend erreichen wir das, was wohl die eigentliche Industriestadt darstellen soll. In einer riesigen Talmulde, in welcher auch der Fluss entspringt, drängen sich lange Hallen, zumeist aus dicken Bohlen gezimmert und mit Wellblechdächern. Und wie mir bereits in den Dörfern aufgefallen sind, ist hier einiges an Solartechnik verbaut worden. Nur ist hier auch die „Quelle", die bereits als zwanzig Meter breiter Fluss zum Vorschein kommt, an einigen Stellen aufgestaut und mit Turbinen und Generatoren ausgestattet. Ragnar lacht auf. „Siehst du, Mama, ich hab doch gesagt, es ist ganz einfach!"
Hier sieht der Empfang anders aus. Zwar kommen auch hier wieder Tierwesen zum Vorschein, vor allem Füchse und Waschbären, aber die ersten Fragen gelten nicht Finleys Eis, sondern seinen Bedürfnissen.
„Nein, Wasser ist aufgefüllt", antwortet Finley auf die Fragen, die auf ihn einprasseln. „Ja, die Akkus sind ziemlich leer und vor allem muss der Weltenspringer aufgeladen werden. Ich habe Gäste, die ich wieder nach Hause bringen möchte. Und ja, Brot und Teig brauche ich auch wieder."
„Sag mal", mich wundert das schon die ganze Zeit. „Zuerst sollten wir uns verstecken. Aber jetzt tust du unsere Anwesenheit allen Leuten kund. Ist da denn keine Gefahr für uns bei?"
Der Rotfuchs, den Finley bei der gegenseitigen Vorstellung als Escamillo bezeichnet hat, wendet sich zu mir. „Keine Sorge, Iduna. Niemand hier würde menschliches Strandgut dem Markgrafen ausliefern."
„Strandgut", wiederhole ich nachdenklich.
Escamillo lacht. „Das ist nicht böse gemeint. Strandgut ist für uns alles, Gegenstand, Mensch oder Tier, das nicht aus Hüben stammt. Das andere ist Müll."
„Ihr nennt euch selbst Müll?", Ragnar fällt die Kinnlade herunter.
„Ja, sind wir denn anderes? Wir sind die Ergebnisse der Experimente des Markgrafen, weiter nichts."
„Euren Markgrafen möchte ich mal kennenlernen", Ragnar ballt grimmig die Fäuste. „Ich glaube, dem habe ich einiges zu erzählen."
Nicht nur er, denke ich.
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