Hüben und drüben

Mit geübter Achtsamkeit lenkt der Eismann den Wagen durch rutschigen Sand und Schotter. Er hält sich dabei an die Wagenspuren, aber auch dort scheint der Boden nicht wesentlich fester zu sein. Eine Weile sehe ich ihm dabei zu, ohne ihn zu stören; der Mann wirkt angespannt und konzentriert. Ich selbst würde auf einer solchen Strecke ungern fahren wollen, zumal mit einem gut neun Meter langem Bus anstatt eines sandtauglichem Jeeps.

Aber ich habe noch nie lange schweigen können. Und als mir ein Gedanke kommt, spreche ich ihn spontan laut aus: „Wieso bleiben die Spuren erhalten? Müssten sie nicht vom Wind verweht werden?"

Die aufeinandergepressten Lippen des Fahrers lösen sich etwas, ein Mundwinkel zuckt leicht. „Damit als erster Frage hab ich nicht gerechnet. Das Land wird von Leitlinien durchzogen, die sich dicht unter der Oberfläche befinden. Die Anziehungskraft ist auf diesen Linien stärker und hält die Bodenkrume auf diesen Pfaden fest. Dadurch sind Sand, Morast und Geröll entlang dieser Linien zwar weich genug, um dem Druck von schweren Fahrzeugen nachzugeben, aber wiederum fest genug, um die entstandenen Spuren eine ganze Weile zu bewahren."

Aha. Sand, Matsch und Schotter. Sind das die einzigen Straßenbeläge, die er kennt? „Gibt es hier keine asphaltierten Straßen?"

„So wie drüben? Nein. Das wäre auch sinnlos. Es würde nicht halten."

Ich verkneife mir die Frage, warum nicht. Auf diese Weise werde ich mich nur in unwichtigen Details verheddern. Ich würde zwar zu gerne mehr über diese Welt wissen, in die uns der Eismann da geschubst hat – oder dieser obskure Schleierschleif, den er erwähnt hat – aber Vorrang hat jetzt vor allem die Überlegung, wie wir drei wieder in unser Haus zurückkommen.

„Meinen Sie mit drüben unsere Welt? Und haben Sie die Absicht, uns da wieder hinzubringen?"

„Beide Male ja. Das ist aber nicht so einfach. Ich muss die Kraft erst wieder aufladen, zudem wird der Markgraf misstrauisch, wenn ich so schnell wieder verschwinde. Er mag es ohnehin nicht, wenn ich mich so oft drüben aufhalte, akzeptiert es aber, weil er mein Eis mag."

„Hüpfen Sie öfters nach drüben?" Verflixt, jetzt habe ich den Terminus ebenfalls übernommen.

„Auf jeden Fall, wenn ich neue Vorräte brauche. Wie heißen Sie eigentlich?"

Der Themenwechsel irritiert mich zunächst, dann geht mir auf, dass es keine schlechte Idee ist, wenn wir uns einander vorstellen. „Iduna Groote", sage ich daher. „Und Sie sind Herr Finley?"

„Nur Finley", er spricht es Fin-läi aus, mit einem schwach angedeuteten ey, wie in Irland üblich. „Wir hier haben keine eigentlichen Nachnamen. Und ich finde, wir sollten uns duzen."

Das wird ohnehin keinen Unterschied machen. „Ok."

Finley blickt in den Rückspiegel. „Und ihr beide?"

„Ich bin Ragnar", erklärt mein Großer sofort. „Und das ist ..."

„Lars und der kann für sich selbst reden!", schimpft es hinter mir. Ich muss lächeln. Finley auch.

„Schöne Namen habt ihr da."

„Hat Mama ausgesucht", klärt ihn Lars prompt auf.

„Ich denke, euer Vater dürfte auch ein Wort mitzureden gehabt haben", bemerkt Finley auffallend beiläufig.

„Der ist tot", teilt ihm Lars gleich mit.

Finley wirft mir einen undeutbaren Blick zu. „Das tut mir sehr leid für dich – für euch alle."

Ich spüre wieder einmal den vertrauten Stich, aber inzwischen ist er nur noch ein Nadelpiekser und geht rasch vorbei. „Es ist fast sieben Jahre her", verflixt, warum vertraue ich dem Eismann das an?

Finley greift einen Moment nach meiner Hand und drückt sie. „Es geht nicht vorbei, nicht wahr? Man gewöhnt sich nur an den Schmerz." Unvermittelt wechselt er das Thema. „Ich werde versuchen, euch so bald wie möglich wieder nach Hause zu bringen. Aber einige Wochen wird es leider dauern. So lange könnt ihr hier wohnen. Ihr müsst euch aber vor dem Sammlern verborgen halten."

„Das sind die Typen mit den schrillen Stimmen?", erkundigt sich Ragnar. „Was wollen die? Er hat was von Strandgut einsammeln gesagt, meint er uns damit?"

Finley seufzt. „Genau das. Alles, was der Schleierschleif so anschleift."

Allmählich verstehe ich den sonderbaren Namen dieses Tornadowesens. „Bist du auch ehemaliges Strandgut?" Entweder das oder diese Welt ist gar nicht so anders als unsere. Finley sieht völlig normal aus; ein großer, schlaksiger Mann Mitte Dreißig, gekleidet in ausgebleichte Jeans, schwarzes T-Shirt und knöchelhohe Reeboks, dazu hat er sich eine Art Baskenmütze tief über die Ohren gezogen. Ich mustere sein Profil und finde auch da nichts Ungewöhnliches; Finley hat scharfgeschnittene Gesichtszüge mit schmalen Wangen, ausgeprägten Jochbögen, einer etwas spitzen Nase sowie einem breiten Mund mit festen Lippen. Die feine Haut ist ziemlich hell, die nackenlange Fransenfrisur flachsblond, die mandelförmigen Augen hingegen dunkelbraun, was mich vermuten lässt, dass das Weißblond des Wuschelkopfes aus der Flasche stammt.

Ich sehe auf die Hände: Lange, sehnige Finger, die das Steuerrad fest im Griff halten. Schmale, nervige Hände, hagere Unterarme. Finleys ganzer Körper scheint so zu sein. Überschlank, aber nicht ausgezehrt, eher drahtig und trainiert. Wie bei einem Raubtier, schießt es mir durch den Kopf.

Finley hat einen Moment mit der Antwort gezögert: „In gewisser Weise ja. Ich wurde aber nicht aus einer anderen Welt hierhergeschleift."

„Wie heißt diese Welt hier eigentlich?", will Ragnar wissen.

Finley zuckt die Achseln. „Keine Ahnung. Wie heißt deine?"

„Erde", gibt Ragnar sofort zurück und stockt dann: „Aber da gibt's noch mehr. Die Erde ist ja nur ein Planet. Ist das hier ein anderer Planet im gleichen Universum? Oder sind wir jetzt in einem Paralleluniversum?"

Mit Ragnars Science-Fiction-Leidenschaft hat Finley offenbar nicht gerechnet. „Planet? Universum?"

Damit hat er bei Ragnar offene Türen eingetreten. Mein Sohn ist nur zu bereit, dem Eismann alles darüber zu erzählen, was er weiß.

„Ok, ich glaube, das Wesentliche habe ich verstanden", unterbricht Finley schließlich Ragnars Redefluss. „Deine Idee, hier könnte die Anderwelt sein, kann ich weder bestätigen noch verneinen. Aber selbst wenn, wir würden dann eher eure Welt die Anderwelt nennen und unsere die Dieserwelt.

Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass das hier eine andere Dimension darstellt. Einen Namen dafür haben wir nicht. Wir sprechen allenfalls von drüben und hüben. Du kannst diese Welt hier also gerne „Hüben" nennen. Ich persönlich tendiere allerdings eher zu Müllkippe."

„Warum das?", frage ich betroffen.

„Weil hier offenbar der Müll aus anderen Welten abgeladen wird", erwidert Finley bitter. „Halbfertiges und Unbrauchbares. Die Sammler sammeln alles ein, bringen es zum Markgrafen und der macht daraus ein Ganzes, ob es passt oder nicht."

„Oh", ich frage mich prompt, ob sich Finley auch als etwas Unfertiges sieht. „Hat diese Welt nichts Eigenes?"

„Doch, aber das ist schwer zu unterscheiden. Das meiste geht erst einmal durch die Hände des Markgrafen. Seine hochherrschaftliche Alleinheit, der einzig Vollkommene." Das klingt nicht so, als ob Finley mit dieser Titulierung konform geht.

Ich bin inzwischen zu verwirrt, um weitere Fragen zu stellen. Es ist einfach nicht möglich, überhaupt einen Ansatz dafür zu finden.

Lars hat da weniger Probleme. Er schiebt sein strahlendes, nusscreme- und sahnebeschmiertes Lächeln über meine Schulter und erkundigt sich bei Finley: „Bist du ein Zauberer? Weil du das Eis wieder fest gemacht hast?"

Finley lächelt verhalten. „Das würde ich nicht sagen. Solche Dinge liegen in meinem Wesen begründet."

„Weil du ein Eismann bist?"

„Ja, so könnte man sagen." Finley stoppt den Wagen, als eine Gestalt sichtbar wird, die in großer Eile auf uns zureitet.

Ich habe schon die Hand am Gurt. „Sollen wir uns wieder verstecken?"

Finley schüttelt den Kopf. „Nicht nötig. Der da verrät nichts." Er steht auf und begibt sich in den hinteren Teil des Wagens. Ragnar schnallt sich ab und kommt hinterher. „Kann man sich hier auch die Hände waschen?"

„Natürlich." Finley schaltet die Innenbeleuchtung wieder ein, die er während des Fahrens gelöscht hatte. „Hier!"

Aber Ragnar hat das Spülbecken bereits gesehen. „Komm her, Kleiner. Deine Nutellaschnut gehört mal ordentlich poliert." Er setzt Lars auf der Arbeitsplatte ab und macht sich daran, den Bruder zu säubern.

Ich gehe nun ebenfalls nach hinten und lege kurz meinen Arm um Ragnars Schultern. „Alles klar soweit?" Für Ragnar, dessen Welt schon mehrmals aus den Fugen geraten ist, muss das hier ein weiteres Trauma sein. Lars mit seinen sechs Jahren hingegen betrachtet das alles noch als ein feines Abenteuer, das nicht gefährlich sein kann; schließlich ist ja Mama dabei.

Ragnar nimmt die vertrauliche Geste einen Moment lang an, dann strafft er sich. „Ja, alles okay. Das schaffen wir schon."

Schon wieder. Ragnar ist selbst noch so jung und bemüht sich wieder einmal, mir unter allen Umständen eine Stütze zu sein, statt mich mit seinen Sorgen zu belasten. Ich kann ihm nicht begreiflich machen, dass ich keine Kinder gewollt hätte, wäre ich nicht bereit gewesen, sie mit allen Sorgen, Nöten und Problemen anzunehmen. Mein Großer sieht nur, dass ich alleine stehe und versucht daher, die Stelle seines Vaters auszufüllen. Ich lasse es nur selten zu, denn ich möchte, dass er seine Kindheit und Jugend genießen kann. Aber manchmal gebe ich nach und erlaube ihm, mit mir Seite an Seite dem Leben zu begegnen. Jetzt ist wieder so ein Punkt erreicht.

„Ja", sage ich daher. „Zusammen managen wir das schon."

Finley hat inzwischen die Verkaufsplatte geöffnet. Ich luge hinaus und stelle fest, dass nun noch mehr Reiter auf uns zu kommen. Der vorderste hat uns fast erreicht.

Irgendetwas an ihm ist seltsam. Es scheint, als habe sein Pferd keinen Kopf. Ich erkenne den nackten Oberkörper des Reiters direkt über dem kraftvollem Leib des Pferdes. Einen Unterkörper oder Beine besitzt der Reiter aber auch nicht.

„Wahnsinn! Ein Kentauros!", platzt Ragnar hinter mir heraus, während ich noch zu begreifen suche, was ich da sehe.

„Ein waas?" Der Pferdemensch blickt verwirrt zum Eismann. „Ist das eine Beleidigung, Finley?"

„Ich glaube nicht. Ragnar?"

Mein Großer blickt sehr betroffen drein. „Natürlich nicht! Bei uns heißen Geschöpfe mit dem Oberkörper eines Menschen und dem Leib von nem Pferd eben so. Wie nennst du dich denn?"

Der Angesprochene, der etwa in Ragnars Alter sein dürfte, zuckte die breiten Schultern. „Keine Ahnung. Ich bin eben ein Tierwesen, wie die meisten hier. He, Finley, warst du wieder drüben? Hast du neue Nusscreme beschafft?"

„Habe ich. Crêpe?"

„JA! Zwei bitte – nein, drei. Eins bringe ich Ino mit."

„Tu das." Finley blickt kurz zu Ragnar. „Direkt vor deinem rechten Fuß steht ein Kanister, gibst du mir den bitte mal?" Dabei schaltet er die Platten an, auf denen die Crêpes gebacken werden.

„Gib's mir", sage ich kurzentschlossen, denn schon haben sich weitere Kentauren/Tierwesen vor der Theke versammelt und rufen ihm ihre Wünsche zu. „Ich habe sowas schon öfter gemacht", erkläre ich dem sichtlich besorgtem Finley. „Ich übernehme hier hinten die Waffeln und Crêpes, okay?"

„Ok", Finley nickt nur, bereits mit dem Abfüllen von Eiswaffeln beschäftigt.

Die nächste halbe Stunde vergeht mit angestrengter Arbeit. Das Auftauchen von Finleys Eiswagen scheint alle Bewohner in der näheren Umgebung alarmiert zu haben. Immer mehr Tierwesen versammeln sich vor der Theke und warten mehr oder weniger geduldig. Ich backe Waffeln und Crêpes im Akkord, ab und zu auch eine Galette. Ragnar bedient die Soßen- und Sahnespender sowie Streusel- und Zuckerstreuer. Lars holt ständig frische Eistüten aus dem Schrank und steckt Waffelröllchen in Eisbecher. Trotzdem leistet Finley die Hauptarbeit; er wirbelt zwischen seinen gut 50 Eissorten hin und her, behält alle Bestellungen in der richtigen Reihenfolge im Kopf, berät unschlüssige Kunden, kassiert und teilt uns nebenbei mit, was wir wo finden können.

Immer wieder höre ich die Frage, ob es wieder Nusscreme, Smarties und Erdnussbutter gibt. Das scheinen Dinge zu sein, die es in diesem „Hüben" nicht gibt und für die Finley in unsere Welt fahren muss. Jetzt verstehe ich wenigstens, warum er es tut – und dass unser Einfangen jedenfalls nicht von ihm geplant war.

Als der letzte Kunde abgetrottet ist, zufrieden in eine Käse-Schinken-Galette beißend, schließt Finley die Verkaufstheke und stapelt die leeren Eisbehälter neben der Spüle auf. „Ich muss unbedingt in die Berge", stellt er fest. „Die Sorten mit Waldbeeren sind fast alle."

„Ist das dein Leben?", frage ich. „Du fährst herum, verkaufst dein Eis und suchst dir die Zutaten für neues zusammen?"

Finley nickt. „Im Wesentlichen ja. Ich liebe Eis und vor allem liebe ich es, wenn die Wesen es schlecken und es ihnen schmeckt."

Den Eindruck habe ich auch. Finley wirkt keineswegs erschöpft, eher so, als habe ihn der Druck erst recht aufgebaut. Und während wir anderen uns erschöpft auf die Sitze haben fallen lassen, lässt er Wasser ein und beginnt mit dem Abwasch.

Lars kommt in meine Arme gekuschelt. „Das hat Spaß gemacht, aber jetzt bin ich müde."

„Es ist auch spät", stimmt Finley zu. „Ich fahre uns in eine geschützte Grotte, dann sollten wir uns schlafen legen."

Auch Ragnar gähnt. „Allerdings. Ich hab heute schon jede Menge Möbel geschleppt und mag mich nicht mehr rühren."

„Warum das?", fragt Finley verwundert.

„Wir ziehen gerade um", erkläre ich ihm und überlege, wer uns wohl ab wann vermissen wird. Mein Bruder weiß, dass wir die nächsten Tage voll beschäftigt sein werden. Die Nachbarn kennen uns noch nicht und kein Mensch weiß, ob wir uns in den nächsten zwei Wochen in der alten oder der neuen Wohnung aufhalten werden.

„Deshalb hab ich euch vorher auch noch nicht gesehen", resümiert Finley. „Du wärst mir nämlich ganz sicher aufgefallen. Dich hätte ich -" Er bricht ab, wird etwas rot und blickt zur Seite.

„Oh." Mehr fällt mir dazu nicht ein. Genauer nachzufragen könnte peinlich werden, es einfach zu übergehen könnte das falsche Signal senden.

„Ja, Mama fällt oft auf", Ragnar hat nichts bemerkt oder er überspielt bewusst das leicht betretene Schweigen zwischen Finley und mir. „Sie sieht so jung aus, vor allem mit ihrem langen Zopf und dann benimmt sie sich natürlich so erwachsen. Einige meiner Kumpel hielten Mama für meine Freundin und war'n ganz schön baff, als sie mich mit dem Auto abgeholt hat."

„Hast du denn Betten hier?", will Lars wissen. Finley beruhigt ihn: „Die Sitze lassen sich zum Bett ausklappen. Und Decken habe ich genug hier." Er stellt den letzten sauberen Eiskübel beiseite und richtet das T-Shirt, das ihm den Rücken hochgerutscht ist. „Warte mal ..." Er reckt sich zu einem Fach über der Spüle und zerrt einige Wolldecken heraus.

Die Decken interessieren mich in diesem Moment aber nicht im Geringsten. Mein Blick bleibt starr auf Finleys Hinterteil geheftet. Nicht, weil es in der gutsitzenden Jeans einen durchaus ansprechenden Anblick bietet, sondern des Körperteils wegen, der dem Mann beim Richten des Shirts aus der Hose gerutscht ist.

Es ist ein buschiger, strahlendweißer Schwanz.

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