Grenzen
„Irgendwie fährst du komisch", kritisiert Lars.
„So, tue ich das? Und wie?"
„Naja, du willst doch zu der Stadt da vorne. Aber du fährst immer weiter links und nicht auf sie zu."
Das ist mir auch aufgefallen, aber ich bin davon ausgegangen, dass sich die Straße – wenn man die Wagenspuren so nennen kann – rechtzeitig zur Stadt schlängelt.
„Dafür kann ich nichts. Industriestadt liegt in einer anderen Region."
Ragnar wird aufmerksam. „Was hat das damit zu tun?"
„Die Regionen haben keine feste Verbindung miteinander. Jede bewegt sich nach eigenem Gutdünken."
Jetzt ist mir klar, warum man hier keine Straßen baut.
„Aber wie kommt man dann rüber?", Ragnar will immer alles genau wissen.
„Mit Tempo und Glück", gibt Finley zurück.
Ups. Ich weiß nicht so recht, ob ich das genauer wissen will.
Ich sehe mein ungutes Gefühl bestätigt, als wir die Grenze erreichen. Die Wagenspuren führen nicht ganz dahin, vielmehr laufen verwischte Eindrücke parallel dazu. Die Grenze selbst besteht einfach aus einem etwa einen Meter breiten Spalt zwischen der Geröllwüste, in der wir uns noch befinden und einer grünen, fruchtbaren Ebene, die um gut 60 Zentimeter über unserem Niveau liegt.
Finley hält den Wagen an. „Vermutlich möchtet ihr euch das einmal ansehen", er hebt einen ungeduldig zappelnden Lars vom Sitz. Ragnar klettert selbsttätig hinterher. Ich natürlich auch; wenn ich auch Finley inzwischen mehr vertraue, will ich bei meinen Jungs bleiben.
Finley führt uns an die Kante, wobei er Lars an der Hand hält. Und der ist so gespannt, dass er sich nicht gegen das „Kleinkindgehabe" wehrt. Sonst besteht er immer darauf, dass man Schulkinder nicht mehr an der Hand zu führen hat.
„Stopp jetzt", Finley bleibt stehen. „Keinen Schritt weiter, nur gucken."
Ich kann das verstehen. Die Wüste hört tatsächlich einfach auf, als hätte sie jemand abgeschnitten, die Kante ist scharf und genau senkrecht. Das gleiche ist an der Ebene gegenüber zu bemerken; ganz oben sind die Wurzeln der Wiesenpflanzen in der etwa 25 Zentimeter tiefen Erde zu erkennen. Darunter ist heller Felsen, so gerade und glatt, dass es sich auch um gegossenen Beton handeln könnte. Diese Ebene schiebt sich tatsächlich langsam nach rechts. Oder wir bewegen uns nach links. Vielleicht auch beide Ebenen gegeneinander, so genau ist das nicht auszumachen. Und die Spalte dazwischen ist einfach nur schwarz.
Lars tritt probeweise in den Sand. Der rutscht vorwärts und rieselt in die Spalte. Zu hören ist nichts.
Nun nimmt Ragnar einen Stein und wirft ihn ins Schwarz. Das gleiche Ergebnis.
„Das reicht", bremst Finley. „Sonst ist bald nichts mehr da."
„Wo kommt denn das wieder raus?", fragt Lars.
„Jedenfalls nicht bei uns. Was da reinfällt, ist weg."
„Hat sich da einmal einer in die Spalte gewagt?", erkundigt sich Ragnar.
„Ja. Aber er konnte nur berichten, dass es nach etwa zwanzig Metern nur noch dunkel ist. Er konnte nichts hören, nichts sehen und fühlen. Zum Glück hörten die anderen, die ihn am Seil heruntergelassen hatten, seine Rufe und zogen ihn wieder hinauf."
Ragnar legt sich flach auf den Boden und zieht sich an die Kante heran. Woraufhin mir Finley Lars in die Arme drückt und sich auf Ragnars Beine kniet, um ihn zu halten. Ragnar blickt in die Spalte hinein, erschauert und schiebt sich zurück. Finley zieht an seinen Füßen und hilft ihm dann aufzustehen. „Alles klar?"
„Das sieht aus wie in einem Computerspiel", stellt mein Dauerzocker fest. „Wie bei Heroes of Might and Magic, wenn ich eine Landkarte noch nicht fertig erstellt habe. Oder wie bei Harry Potter zwischen den auf- und abschwebenden Plattformen. Wenn man die verpasst, fällt man in schwarzes Nichts."
„Das ist hier auch so. Was darunter ist, hat noch keiner ergründen können."
„Ihr habt echt ne komische Welt. Die ist so, als hätte die jemand in nem Spiel konstruiert, der vom Tuten und Blasen keine Ahnung hat und darum mittendrin die Lust verloren hat."
Während Ragnar Finley diese Redensart begreiflich zu machen versucht, schüttele ich mich innerlich vor Lachen. Das sieht meinem Herrn Sohn ähnlich, Parallelen mit seinen Spielen zu finden.
Finley fährt nun die verwischten Spuren entgegen der Drehrichtung von Industriestadt entlang. Mehrmals kommen wir an Stellen vorbei, bei denen das Verwischte bis an die Kante reicht. Finley erklärt uns, dass hier andere Fahrzeuge den Übergang gewagt haben. Wer von einer auf die andere Ebene gelangen will, muss an der Grenze zwischen beiden entlangfahren und einen Punkt finden, an dem sich die Ebenen beinahe berühren.
„Zumindest sollte die Ebene, zu der man möchte, gleich hoch oder tiefer liegen als die eigene", beantwortet Finley Ragnars entsprechende Frage. „Und der Spalt sollte nicht so breit sein. Ganz berühren sich die Kanten nie, aber sie kommen sich manchmal näher."
„Und es sind viele Ebenen?"
„Ja. Ich besuche alle und weiß daher, dass es genau dreißig sind. Und jede hat eine andere Struktur."
„Und überall leben Leute?"
„Fast. In der Eiswelt können sich nur Tierwesen meiner Art aufhalten und bei den Vulkanen lebt niemand. Die kenne ich nur vom Vorüberfahren."
Ragnar nagt an der Unterlippe. „Die können sich aber nicht alle im Kreis drehen. Sie würden aneinanderrumpeln. Und wenn die alle rund sind, dann muss es zwischendurch größere Lücken geben."
„Die gibt es."
„Okay, aber wenn die rund sind, haben die doch nur kleine Berührungsflächen. Wir fahren aber schon fast eine Stunde hier lang und haben immer noch Sichtkontakt."
„Vielleicht sind die ja wie in meinem Zahnradspiel", schlägt Lars vor.
„Rede keinen Quatsch, Kleiner – hey, Moment mal, ich glaube, du hast recht. War doch nicht so dumm, was du da gesagt hast. Wenn die Ebenen annähernd zahnradförmig sind, kann das klappen. Sind sie das, Finley?"
„Keine Ahnung. Was sind Zahnräder?"
„Vergiss es", Ragnar winkt ab. „Geht doch nicht. Damit könnte man erklären, wie sich die Ebenen miteinander drehen können, aber dann würden wir nicht die Bewegung der Kanten gegeneinander sehen können. Ist mir ein Rätsel, wie das funktionieren kann."
„Das tut es nicht immer. Es kommt immer wieder vor, dass Ebenen zusammenstoßen. Das nennen wir dann Erdbeben."
„Wir auch. Aber bei uns findet das Tausende von Metern unter der Oberfläche statt." Ragnars Augen glänzen. „Schade, dass ich das nicht mal sehen kann."
„Finde ich nicht. Dabei geht immer sehr viel kaputt."
„Ja, bei uns auch. Und es sterben sehr viele Leute dabei, weil die Häuser einstürzen und riesige Löcher im Boden entstehen."
„Löcher hatten wir nur einmal dabei und wenn unsere Häuser einstürzen, passiert nicht viel. Wir bauen keine so großen Häuser wie ihr und schon gar nicht aus Stein."
„Waren die Löcher tief?", will Lars wissen.
„Ich nehme es an. Diejenigen, die sie gesehen haben, beschrieben sie als so schwarz wie die Spalten zwischen den Ebenen."
„Hm", Ragnar kaut an seiner Unterlippe. Reflexartig tippe ich ihn an, damit er das lässt. Aber Ragnar hat seine Idee bereits herausgebissen. „Das ist ja, als ob die Ebenen nur Scheiben sind im Schwarz!"
„Den Verdacht habe ich auch", erwidert Finley.
Ragnar blickt finster drein. „Wenn ich den Dösbaddel erwisch, der das konstruiert hat, dann zeige ich ihm mal, wies richtig geht!"
„Meinst du überhaupt, dass wir noch da rüber kommen", unterbreche ich die Diskussion. „Die Ebene da steigt immer mehr an."
Finley blickt zu dem Felsen neben uns auf, der mittlerweile gute fünf Meter hoch ist. „Das geht irgendwann auch wieder runter. Wir haben nur einen ungünstigen Punkt erwischt."
„Was ist denn da vorn?" Lars zeigt auf das grauschillernde Flirren unweit von uns.
„Oh, der Fluss!" Finley zeigt sich erfreut, indem er leicht mit dem Schwanz wedelt und sich seine Ohren ganz aufstellen. „Heute kommt er von sehr weit oben, das ist gut. Dann kann ich gleich nachfüllen!"
„Fluss?" Aber dann erkenne ich es auch. Von der höheren Ebene stürzt sich Wasser herunter und verschwindet zum großen Teil in der Spalte. Etwas jedoch landet auch auf dem Wüstenboden, der das Nass gierig schluckt. Bei uns würde so ein Wasserfall in allen Regenbogenfarben leuchten, hier unter der grauen Sonne reicht es nur für einen schwachen, silbernen Schimmer.
Finley fährt etwas näher zur Spalte und hält dann an. Ein Knopfdruck löst ein Surren über unseren Köpfen aus. „Ich öffne das Dach", erklärt Finley bereitwillig, bevor meine Jungs nachfragen können.
„Dein Truck ist ganz schön vielseitig."
Finley lacht leise. „Ja, allerdings. Eure Konstrukteure hielten mich für verrückt, aber sie bauten alle Änderungen ein, die ich haben wollte."
„Der Truck ist bei uns gebaut worden?"
„Ja, sicher. Wo hätten wir denn das Material herbekommen sollen? Unsere Technik ist gar nicht so schlecht, aber wir sind auf die Rohstoffe angewiesen, welche auf uns herabfallen oder die der Schleierschleif mitbringt."
„Habt ihr denn keine Bodenschätze?" Das würde so einiges erklären, denke ich.
„Was ist das?"
„Naja, Metalle, Brennstoffe oder Mineralien, die man findet, wenn man den Boden aufgräbt."
Finley blickt mich erschrocken an. „Das würde hier niemand tun!"
„Mama, wenn die Ebenen hier wirklich nur dünne Scheiben sind, dann geht das doch gar nicht", klärt mich Ragnar auf.
„Juhu, es geht los!", jubelt Lars auf.
Er hat recht. Der Wasserfall hat uns erreicht und streicht nun stark prasselnd über den Truck.
„So wäre bei uns ein starker Regen." Lars beschäftigt es offenbar immer noch, dass Finley keinen Regen kennt. „Mama sagt dann immer, dat regent vör 't Störten!"
„Es schüttet wie aus Eimern", übersetze ich für Finley, der sicher kein Platt beherrscht.
„Aber bei uns regnet es dann auf beiden Seiten", Lars bezieht sich darauf, dass das Wasser heftig gegen die rechten Scheiben klatscht, während die linken nur leicht besprüht werden.
Finley lächelt meinen Jüngsten an. „Vielleicht erlebe ich das ja mal bei euch."
Der „Regen" zieht allmählich vorbei. Finley schließt das Dach wieder und kontrolliert eine der Anzeigen. „Fruchtig, wieder ganz voll!"
Von nun an fahren wir durch Schlamm. Der Fluss hat einen mehrere Meter breiten Streifen Matsch und Pfützen hinterlassen. Immer wieder tauchen Menschen und Tierwesen mit Eimern und Schüsseln auf, die das Wasser aus den Pfützen schöpfen oder aus bereitgestellten Auffangbecken abfüllen. Finley fährt um diese Becken herum und bleibt schließlich gleich jenseits des Schlammstreifens, als der Felsen rechts immer noch keine Anstalten macht, sich zu senken. Er drosselt auch das Tempo, denn immer wieder flitzen ihm sonderbar gefärbte Tierchen vor die Motorhaube, in dem Bestreben, schnellstens zu den Pfützen zu gelangen, bevor diese wieder austrocken.
„Ist das das einzige Wasser, das die Wüste hier bekommt?"
„Nein, aber das einzig Regelmäßige. Von Zeit zu Zeit haben wir sogar das Glück, dass die Kante sehr nahe ist und der Fluss sich bis zu hundert Meter weit in diese Region ergießt. Dann bildet er für einige Wochen einen See und feuchtet die Erde genug an, dass Pflanzen wachsen können."
Was für ein Leben! Ich begreife, dass Finleys Lieferungen tatsächlich sehr wichtig sind. „Warum bringst du den Menschen dann keine Lebensmittel und Wasser vorbei?"
„Das tun zum einen andere Fahrer. Zum anderen gibt es nicht soviel. Ich beschaffe mir Milch aus den beiden Weideebenen und fertige daraus mein Eis. Das hält länger als Milch und ich kann es mit Nahrungsmitteln vermischen, die es nur in geringen Mengen gibt, die aber wertvolle Nährstoffe liefern."
„Kühlwagen gibt es bei euch nicht?"
„Das haben wir versucht. Aber die Sonne liefert nicht genug Energie. Ich bekomme meinen Strom von Sonnenkollektoren auf dem Dach, aber in eurer Welt sind die sehr viel effektiver. Wenn ich bei euch war, sind die Akkus im Nu voll, hier würde es Wochen dauern."
„Ihr wärt echt verratzt, wenn ihr nicht in unsere Welt könntet?"
„Allerdings, wenn du mit verratzt verdorrt meinst." Finley steuert wieder mehr nach rechts. Der Boden ist bereits trockener, vor allem aber senkt sich endlich der Felsen. Erst nur schwach, dann so abrupt, als hätte da mal ein Erdrutsch stattgefunden.
„Es kann nicht mehr lange dauern", Finley beschleunigt für einige Minuten, dann fährt er in einem Bogen herum, bis wir im rechten Winkel zur Kante stehen. Die Ebene uns gegenüber ist nur noch wenige Zentimeter höher als unsere. Die Spalte ist jedoch nicht kleiner geworden. „Willst du da echt drüber?"
„Keine Sorge. Der Wagen ist zu lang und zu breit, um dort hineinzufallen." Finley schaltet in den Rückwärtsgang.
„Mama!" Ragnar schlägt sich die Hände vor die Augen. Lars hingegen schiebt sich mit vor Neugier und Faszination funkelnden Augen nach vorne, um ja nichts zu verpassen.
„Anschnallen!", donnert Finley in einem Ton, dass Lars ohne Widerworte gehorcht. „Haltet euch fest!"
Ich umklammere mit beiden Händen meinen Sitz und bemerke im Schminkspiegel auf meiner Sonnenblende, dass beide Jungs das gleiche tun. Finley stoppt nun und wartet momentelang ab. Die Kante der Ebene vor uns ist nun nicht mehr zu sehen. „Gut, sie ist niedrig genug!" Finley tritt gleichzeitig auf Gas und Bremse. Der Motor heult auf, der Wagen ruckt verzweifelt. Dann lässt Finley die Bremse los und der Wagen, bereits auf Hochtouren gebracht, saust los wie von einem Katapult abgeschossen.
Viel zu schnell haben wir die Kante erreicht. Das Vorderteil des Wagens kippt vornüber, der Boden schrammt über die Kante; einen Moment lang hängen wir schaukelnd über dem unendlichen Schwarz. Dann greifen die Vorderräder in den Grund der anderen Ebene, die Hinterräder schieben uns weiter vor. Es holpert noch einmal kräftig, als die Doppelräder über die Kanten ruckeln, dann wird die Fahrt ruhiger. Finley nimmt das Gas weg und lässt den Truck auslaufen.
Wir sind drüben. In Industriestadt, was auch immer das sein mag.
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