Die Sammler

Momentelang sind wir alle drei sprachlos. Ein Zustand, der bei uns selten ist, denn in der Regel reden wir alle gleichzeitig, hören trotzdem den anderen zu und führen mehrere Gespräche gleichzeitig. Familienfremde kommen da meist nicht mit.

Ragnar findet als erster die Sprache wieder. „Wo hast du uns hingebracht?", faucht er den Eismann an.

„Ich war das nicht", entgegnet der Eismann mit jener seltsam rauen Stimme, die mir schon vorher aufgefallen ist. „Das war der Schleierschleif!"

„Und wer soll das sein?" Von einem Schleierschleif habe ich noch nie etwas gehört.

„Na, das Wesen, welches die Straßen freigefegt hat. Wann immer jemand von uns zu euch wechselt, holt ihn der Schleierschleif zurück. Heute war er sehr schnell."

„Diese Sturmfront?"

„Ja. Er lebt. Und gehorcht dem Markgrafen aufs Wort." Der Eismann mustert den Horizont.

„Was für ein Markgraf?" Jede beantwortete Frage wirft lauter neue Fragen auf. Der Eismann scheint zu glauben, dass die Dinge, die für ihn selbstverständlich sind, auch uns bekannt sind. Ich fürchte, das gibt noch ein sehr langes Gespräch mit ihm, bis ich durchblicke.

„Ich erzähle euch das alles", verspricht der Eismann, öffnet die hintere Tür seines Wagens und greift nach dem erschrockenen Lars. „Jetzt kommt erstmal schnell rein! Legt euch drinnen auf den Boden, damit man euch von außen nicht sehen kann!"

Lars quiekt erschrocken, als er wie ein Paket hochgehoben und in den Wagen gestellt wird. Kaum drinnen, dreht er sich zum Eismann um. „Ich mag das nicht! Ich kann alleine gehen!" Er droht dem Mann sogar mit einer Faust. Der linken natürlich, denn in der rechten hält er noch immer sorgsam das kaum angeleckte Eis.

Ragnar ist bereits hinterhergesprungen. „Willst du meinen Bruder entführen?"

„Nein, nur euch in Sicherheit bringen." Der Eismann wendet sich zu mir, aber ich bin ebenfalls schon dabei, den Tritt zu erklimmen. Egal, welche Gefahren da auf uns warten, ich bleibe bei meinen Kindern.

Nach mir schlägt der Eismann die Tür zu und verriegelt sie. Momente später steigt er auf den Fahrersitz und lässt den Motor an. Etwas schwankend, wohl des unebenen Bodens wegen, fährt er dann los.

Ich drücke Ragnar mein Eis in die Hand und krabbele vorsichtig nach vorne. Da der Mann die Verkaufsklappe geschlossen hat, ist es im Inneren ziemlich dämmerig und vor allem hier hinten sehe ich nur Schemen. Je weiter ich vorwärts komme, umso mehr heller wird es und schließlich kann ich mich aufrichten, ohne befürchten zu müssen, irgendwo mit dem Kopf anzustoßen.

„Ich sagte doch, Sie sollen liegenbleiben!" Der Eismann klingt nervös.

„Und ich sage, ich will wissen, was Sie mit uns vorhaben!", entgegne ich.

Der Eismann deutet nach vorne. „Auf jeden Fall nicht den Sammlern ausliefern."

Jetzt erkenne ich auch den Trupp dunkler Gestalten, der sich zügig auf uns zu bewegt. Trotz des hohen Tempos halten sie sich dicht beieinander in Dreierreihen, was für mich nur eines bedeuten kann. „Soldaten?"

„Ja, so etwas in der Art. Bitte tun Sie mir und vor allen Ihnen dreien den Gefallen, bleiben Sie unten, bis sie fort sind. Sie haben bemerkt, dass der Schleierschleif etwas mitgebracht hat und werden das jetzt kontrollieren."

„Sie fahren ja auch noch auf die Leute zu."

„Selbstverständlich. Alles andere würde sie nur misstrauisch machen. Außerdem kann ich ihnen vielleicht etwas verkaufen."

„Na, ob Sie in dieser Welt bessere Geschäfte machen als in unserer Straße?", rutscht es mir prompt heraus.

Das Lachen des Eismannes erinnert mich ein wenig an das fröhliche Willkommensbellen unseres Welpen Effie. Letzteres hatte ich eigentlich zu hören gehofft, sobald wir die Wohnung hundefreundlich eingerichtet haben und sie von meinem Bruder holen. Jetzt frage ich mich sehnsüchtig, ob wir das jemals wieder zu hören bekommen werden. Dass der Eismann beim Lachen ähnlich klingt, hilft mir da nicht. Kein Mann ist ein Ersatz für einen Hund. Zumal man der Absichten eines Mannes nie ganz sicher sein kann. Bei Hunden ist das einfacher.

„Hier lieben sie mein Eis", versichert mir der Eismann. „Nur an Orten, an denen mich der Schleierschleif schon mehrmals eingefangen hat, ist man verständlicherweise vorsichtig. Und in Ihrer Straße beziehe ich nun einmal einige meiner Zutaten." Unvermittelt ändert er den Ton. „Und jetzt ducken Sie sich gefälligst!"

Ich verstehe warum und gehorche augenblicklich. Die Truppen haben uns fast erreicht.

Keine Ahnung, wieso der Foodtruck des Eismannes zwei Sitzreihen hat, aber mir kommt das jetzt sehr zupass. Ich hocke dicht an die Wand gekuschelt hinter dem Sitz, der wiederum hinter dem Fahrersitz angebracht ist. Von außen bin ich sicher nicht zu sehen.

Der Eismann greift auf den hinteren Sitz, zieht eine Decke herunter und wirft sie in meine Richtung. Ich begreife, nehme die Decke an mich und schlüpfe darunter. Der Mann ist ja sehr besorgt darum, dass man mich sehen könnte.

Ich kann nicht erkennen, ob es besser ist, mich vor den Kommenden zu verstecken oder mich ihnen zu offenbaren. Aber das kann ich entscheiden, wenn ich sie mit dem Eismann sprechen höre. Dann bleibt mir immer noch die Möglichkeit, die Decke abzuwerfen und aufzustehen; also warte ich erst einmal ab.

„Anhalten!" Das eigenartig schrille Gebrüll dringt mit Leichtigkeit durch die geschlossenen Türen.

Der Eismann stoppt brav und lässt das Fenster herunter. „Sieh da, Erstsammler Brownie! Ein Eis gefällig? Schokolade vielleicht?"

„Veralber mich nicht, Finley!" Die Stimme klingt hoch und fauchend. „Du weißt genau, was ich will!"

„Eine Waffel mit schöner brauner Nusscreme?" Ich höre Gekicher im Hintergrund, was den Besitzer der hohen Stimme zweifellos noch wütender macht.

„Verdammt, Finley! Warst du drüben?"

„Ja, warum?"

„Der Schleierschleif hat dich hierhergeschleift. War noch jemand dabei?"

„Nein, der Schleierschleif war alleine. Wie eigentlich immer."

„FINLEY!" Das Kreischen ist unerträglich schrill. „Du weißt genau, was ich meine! Hat er noch jemanden außer dir mit herübergebracht?"

„Meinen Wagen."

„Was soll der Blödsinn? Das ist doch selbstverständlich!"

„Das ist kein Blödsinn. Neulich hat er mich ohne meinen Wagen mitgenommen. Kannst du dir vorstellen, wie lange ich gebraucht habe, um ihn wiederzufinden? Und dann wollten mir die Ordnungshüter dieser Welt nicht abnehmen, dass er mir gehört. Ich musste schließlich den Schleierschleif um Hilfe bitten und du weißt ja, wie er sein kann ..."

„Verflucht, Finley, deine Geschichten interessieren mich nicht! Ok, es kam also diesmal wieder niemand mit. Seine Alleinheit wird sehr enttäuscht sein." Die Stimme entfernt sich. „Sammeln! Wir suchen die Strecke weiter nach Strandgut ab!"

„Erstsammler, können wir uns vielleicht vorher ein Eis ..." Der Frager wird brüsk abgewiegelt. „Klappe! Laufen sollst du, nicht schlecken!"

„Schade", wirft der Eismann lässig ein. „Ich hab wieder einige neue Eissorten."

Einige enttäuschte Ausrufe werden laut, aber der Anführer ist unerbittlich. „Nicht im Dienst! Und du, Finley, wenn ich dich noch ein einziges Mal mit geschlossenem Rückfenster erwische, zahlst du eine saftige Buße, ist das klar?"

„Ist klar, Erstsammler Brownie! Wird sofort bereinigt!" Der Eismann kurbelt das Fenster hoch und steht auf. Vorsichtig geht er zwischen den Sitzen hindurch, knipst ein Deckenlicht an und kurvt geschickt um meine Söhne herum, die noch immer auf dem Boden liegen. „Ihr könnt nun aufstehen", sagt er freundlich zu ihnen.

„Warum ist Mama unter der Decke?" erkundigt sich Lars sofort, während der Eismann die Jalousie des Rückfensters entriegelt.

„Damit sie nicht gesehen wird", gibt der Eismann zurück und winkt die beiden zu sich. „Ihr könnt euch jetzt vorne hinsetzen und euer Eis schlecken. Hier bitte", er greift sich einige Servietten und reicht sie Lars, dem das Eis bereits über die Hand läuft.

Ragnar balanciert Eis und Waffel in einer Hand und zieht mir mit der anderen die Decke ab. Das habe ich selbst vergessen, als ich hinter dem Eismann hergelinst habe.

„Danke, Großer", sage ich, stehe auf und setze mich auf den Beifahrersitz, während der Eismann Lars hinter mir festschnallt und dann auch Ragnar behilflich ist, der ja noch immer beide Hände voll hat. Dann berührt er kurz die beiden halbgeschmolzenen Eis in den Händen der Jungs, die prompt wieder fest werden. „So schmecken sie besser", erklärt er und besteigt wieder den Fahrersitz. Während er den Wagen startet, wendet er sich an mich: „Und nun können wir reden. Ich nehme an, ihr habt jede Menge Fragen."

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