Der Polarfuchs

„So, damit sollte die Verbindung stehen", Escamillo reicht Ragnar die Switch zurück. „Das muss auch „Drüben" funktionieren."

Ragnar gähnt und streckt sich. „Hoffentlich. Ich werde mich melden, wenn ich drüben bin. Hört ihr nichts von mir, muss Taifun dann gleich nachgucken."

Taifun sieht von seinem Waldmeistereis auf. „Sicher, mache ich. Ich werde euch sowieso oft besuchen, wenn es euch nicht stört."

„Nee, das ist toll, wenn du kommst. Du kannst so fein wirbeln!" Mein jüngerer Sohn hat sich die letzten zwei Wochen von vorne bis hinten verwöhnen lassen. Die Tierwesen sind fasziniert von seinen goldblonden Locken, seinem schelmischen Lächeln, vor allem aber von seiner Neugier und seiner Bereitschaft, auf jedes Spiel einzugehen und stets selbst neue zu erfinden.

Und von seinen Bildern. Lars malt mit Begeisterung, seit er einen Stift halten kann und hat schon etliche Porträts fabriziert, die seine überraschten Modelle dankbar angenommen haben. Es ist nicht gerade höhere Kunst, aber es sind die ersten Abbildungen, welche die Wesen hier sehen. Sie schmücken so einige Wellblechhütten und Holzhäuser und viele Geschöpfe, Kinder wie Erwachsene, versuchen sich jetzt auch an eigenen Bildern.

Während Lars Malunterricht erteilt und jedem Interessierten ausführlich erzählt hat, wie es bei uns so zugeht, hat Ragnar die gesamte Welt neu codiert. Die einzelnen Ebenen sind nun verbunden, weitere sind dazugekommen und das Ganze zu einem Planeten mit Eisenkern, Erdmantel aus Lava und fester Kruste mit Kontinent und Ozean geformt. Da niemand hier sich mit Schifffahrt auskennt, hat er sich auf einen Kontinenten beschränkt, im Ozean aber viele Inseln verteilt, welche die späteren Generationen entdecken können.

Mein Herr Sohn hat auch für reichliche Bodenschätze gesorgt. Zu Hause will er sich aber noch genauer informieren, was alles benötigt wird. „Gold, Eisen und Kohle reicht da nicht", hat er mir auseinandergesetzt. „Das braucht noch seltene Erden und sowas."

Taifun ist ihm bei seinem Basteleien eine große Hilfe und wird es weiterhin sein müssen. Denn wenn Ragnar eine Region umformt, muss Taifun zuvor die Bewohner warnen und gegebenenfalls in Sicherheit bringen. So achtlos wie der Markgraf gedenkt Ragnar nicht vorzugehen.

Sonne und Mond hat Ragnar ebenfalls erstellt und dem neuen Planeten eine geneigte Achse verpasst, damit es Jahreszeiten geben kann. „Der Markgraf hat wohl dafür die Ebenen rotieren lassen", hat er zu mir gesagt. „Der Dösbaddel ist einfach nicht auf die Idee gekommen, dass die Sonne nicht bewegungslos am Himmel stehen und nachts ausgeschaltet werden darf."

„Hüben" gibt es übrigens auch nicht mehr. Der neue Planet heißt Utopasia. Nicht sehr fantasievoll, gebe ich zu, eben nur ein Kofferwort aus Utopia und Fantasia. Aber den Wesen hier gefällt der Name. Vermutlich ist alles besser als „Hüben".

Für Namen bin ich hier zuständig. Die Wesen stehen Schlange, um sich von mir andere Namen verpassen zu lassen. Meist orientiere ich mich dabei an den Benennungen, die sie bisher getragen haben, damit die Umstellung nicht zu groß ist. Brownie nennt sich nun Bruno, aus Depp wurde Detlev, Bunny ist mit Buffy sehr einverstanden und Silly ist nun eine Sally. Bei Fantasia habe ich lange überlegt, finde jetzt aber, dass Franziska gut zu ihr passt. Escamillo hat seinen Namen beibehalten und Finley – ist natürlich einfach Finley. Unverwechselbar, einzigartig und jemand ganz Besonderes.

„Ich werde euch auch beibringen, wie ihr selbst die Welt ändern könnt", schlägt Ragnar vor. Aber Escamillo lehnt das ab. „Wir haben zu wenig Ahnung davon. Also wie so eine Welt aussehen muss. Mach du die Welt richtig, damit sie auch alleine funktioniert, wie bei euch. Und dann werden wir das Spiel zerstören."

„Ist vielleicht das Beste", gibt Ragnar zu. „Sonst kommt wieder so ein Dösbaddel an."

„Wir haben ohnehin sehr arbeitsreiche und spannende Jahre vor uns", Detlev scheint sich darauf zu freuen. „Wir werden eine Menge umstrukturieren dürfen. Nachdem sich die Ebenen berühren und es auch regnet" – dieses Ereignis hat von Panik über Staunen bis zu heller Freude so ziemlich alle Gefühlsregungen bei den Bewohnern Utopasias ausgelöst - „gibt es auch keine Dürreregionen mehr und wir können unsere Erfahrungen und unsere Ressourcen austauschen. Landwirtschaft und Tierhaltung wird jetzt fast überall möglich sein und die Technik muss nicht mehr auf Industriestadt beschränkt sein, weil es anderswo zu wenig Bäume und Wasser gibt."

„Und jetzt können wir alle auch dort leben, wo wir wollen", stellt Finley lächelnd fest, mit einem Unterton, der mich aufhorchen lässt.

Ich wage die Frage nicht zu stellen, aber Lars hat da keine Hemmungen: „Magst du denn vielleicht lieber bei uns leben, Finley?"

„Ja", gibt der Eismann offen zu und sein Schwanz wedelt sachte und zögernd, wie bei Effie, wenn ich an den Schrank gehe, in dem ihre Leckerlies lagern, aber eben auch noch etliches anderes. „Ich habe ehrlich gesagt die Schnauze voll von dieser Welt hier. Auch mit Ragnars Verbesserungen."

Lars, das kleine Ungeheuer, bohrt ungeniert weiter: „Willst du dann nur in unsere Welt rüber? Oder möchtest du bei uns leben, mit Mama, Ragnar und mir?"

Finley wird rot und blickt zur Seite. Der Bewegung seines Schwanzes nach ist meine Hand nun an der Schublade mit den Leckerlies und der ziependen Bürste. „Ich glaube, das muss deine Mama entscheiden", erklärt er Lars behutsam.

Vermutlich ja. Aber die Entscheidung fällt mir leicht.

„Ich lobe mich selbst jeden Tag dafür, dass ich genau die richtigen Mieter ausgewählt habe", unser Vermieter nimmt Brötchen und Bauernbrot in Empfang und verstaut sie in seiner Einkaufstasche. „Nicht nur, dass Ihre Backkünste so unübertrefflich sind wie das Eis Ihres Verlobten. Sie haben uns von einem Alpdruck befreit, die Vermissten zurückgebracht und Ihre Café/Eisdielen-Kombi ist eine absolute Bereicherung für unsere Straße." Er linst zu Finley herüber, der gerade neues Eis in die Kühltheke einsortiert. „Aber warum Sie das Ganze ‚Polarfuchs' genannt haben – nun ja, ich habe da meinen Verdacht. Aber darüber spricht man besser nicht laut, nech?"

Ja, ist wohl besser so. Finley hat sich irgendwie einen deutschen Ausweis besorgt damals, als er den Führerschein gemacht und sich seinen Foodtruck bauen lassen hat, der jetzt nur noch bei Veranstaltungen eingesetzt wird. Somit gibt es ihn offiziell, aber nur als Menschen. Die meisten Leute halten es für eine Marotte, dass er wie ein Cosplayer herumläuft. Nur die Einwohner in unserer Straße ahnen, dass Schwanz und Ohren echt sind und sich darum so natürlich bewegen. Aber sie sprechen es nie offen aus.

„Ihre zwei Rabauken sind ja auch schon sehr beliebt hier", resümiert mein Vermieter weiter. Wie jeden Tag eigentlich hat er es sich an einem der Tische gemütlich gemacht und verbindet den Brotkauf mit einem Nachtisch im Café. „Heute darf es mal ein Käsekuchen sein. Und ein Eiskaffee mit Waldmeistereis. Ischa ne seltsame Mischung, aber mir schmeckts." Er sieht auf die Uhr. „Dauert nicht mehr lange und Ihre Rasselbande kommt von der Schule. Solls eigentlich bei den zweien bleiben? Wenn Sie nächsten Monat dann fest verbandelt sind?" Er zwinkert mir zu.

„Ich denke schon", erwidere ich. Letzten Endes ist Finley immer noch ein Tierwesen und wir sind hier den Regeln unserer Welt unterworfen, insbesondere denen der Genetik. Andererseits hat Ragnar bereits angedeutet, dass er die Regeln in Utopasia anpassen kann und wir dort ja mal Urlaub machen könnten. Und dass er zur Abwechslung statt eines nervigen kleinen Bruders auch mal gerne eine niedliche Schwester hätte. Eindeutig wächst mir der Knabe in mehr als einer Hinsicht über den Kopf.

Andererseits benimmt sich Ragnar wieder mehr wie ein sehr junger Teenager und weniger wie ein Erwachsener, mit Ausnahme der Zeiten, wenn er sich um Utopasias Aufbau kümmert. Als damals mein Ehemann und Ragnars Vater gestorben ist und mich hochschwanger zurückgelassen hat, ist Ragnars bisher heile Welt in Tausende Stücke zerbrochen. Erst jetzt heilen die Wunden allmählich. Zum Teil liegt es daran, dass er nun eine Welt hat, die er flicken kann und die mehr ist als Pixel und Speicherplatz.

Aber auch Finley trägt viel dazu bei. Ragnar hat wohl das Gefühl, dass er vieles, für das er die Verantwortung übernommen hat, nun auf Finleys breiten Schultern abladen kann. Vor allem das Beschützen von kleinem Bruder und winziger Mama vor körperlichen Gefahren oder verbalen Übergriffen gehört dazu. Er hat mit sichtlicher Erleichterung registriert, wie Finley aufsässige Handwerker und hochnäsige Lehrer zur Räson gebracht hat, die glaubten, sich von einer Frau nichts sagen lassen zu müssen. Nicht, dass ich mir sowas gefallen lassen würde, aber leider sind solche Konflikte schneller beseitigt, wenn man einen Mann an seiner Seite hat. In unserer Welt gibt es auch noch vieles zu reparieren und ich zweifle nicht daran, dass meine Jungs dabei tatkräftig mithelfen werden.

Am deutlichsten merke ich Ragnars Entspannung, wenn wir - was etwa einmal im Monat vorkommt - alle im großen Bett schlafen. Dann nämlich legt Ragnar nicht mehr beschützend den Arm um Lars und mich, sondern spielt das innere Löffelchen bei Finley. Dessen Arm wiederum lang genug ist, um uns alle einzuschließen. Ich denke oft, dass Finley nicht alleine meinetwegen in unsere Welt übergewechselt ist. Sicher trage ich den wesentlichen Anteil daran, aber meine Jungs sind auch nicht unschuldig daran.

„Den Namen ändern Sie dann auch?", fragt mein Vermieter weiter. „Wegen dem Vertrag, Sie wissen schon."

„Keine Sache. Er nimmt meinen an." Finley hat sich damals den erstbesten Nachnamen genommen, der ihm in den Sinn gekommen ist. Und da er an einem Tisch gesessen hat, als er die Papiere ausgefüllt hat – nein, da klingt Finley Grote wesentlich besser.

„Der Schulbus kommt!" Finley stürzt an uns vorbei, greift sich im Vorübergehen die große Schelle aus dem Eiswagen und läutet kräftig. Mein Vermieter lacht herzlich. „Dascha auch so ne Marotte von ihm, nech? Jeden Tag, wenn der Schulbus kommt, schellt er los. Da wissen die Eltern dann, dass die Kinder gleich kommen – nachdem sie sich Eis geholt haben."

Ja, auch dieser Spleen ist in unserer Straße inzwischen wohlbekannt. Aber keiner nimmt es Finley übel. Alle verstehen, wie sehr er es genießt, dass sich niemand mehr versteckt, wenn der Eismann schellt.

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