Der Eismann

Ragnar steht bereits beim Eiswagen und winkt uns zu. „Ihr glaubt nicht, was der alles für Sorten hat! Und Waffeln und Crepes hat er auch. Uff, ich hätte weniger essen sollen!"

Der Eiswagen ist kein Handkarren, wie ich erwartet habe, sondern ein ziemlich großer Bus von der Sorte, aus der normalerweise Hähnchen oder Döner verkauft werden. Über der offenen Theke ist ein riesiger Eisportionierer mit einer Kugel Waldmeister- oder Pfefferminzeis aufgemalt, unter ihr prangt eine Schale gemischtes Eis sowie eine mit Sahne und Kirschsoße versehene Waffel, die mir auch Appetit macht, obwohl ich gerade gegessen habe.

Der Wagen steht vor dem Nachbarhaus, in dessen Erdgeschoss sich ein Tante-Emma-Laden befindet und schellt offenbar selbststätig, denn von dem Betreiber ist weit und breit nichts zu sehen. Auch sonst ist es bis auf das Gebimmel merkwürdig still geworden. Die Kinder, die vorhin auf dem Bürgersteig Hopse gespielt haben – oder wie das hier heißt – flitzen gerade auseinander, jedes zu einem anderen Haus. Vermutlich holen sie ihr Geld oder betteln die Eltern an, ihnen ein Eis zu verkaufen.

Aber das erklärt nicht, warum unser Vermieter im Haus verschwunden ist, ohne die Gartenschere und die Hacke aufzuräumen. Warum neben einem klatschnassen Ford ein Eimer und eine Sprühflasche Lackpflege stehen, aber kein Autowäscher zu sehen ist. Warum der Blumenladen schräg gegenüber die Tür verschlossen hat, obwohl die Pflanzen noch draußen stehen. Der Lottoladen ist dunkel, desgleichen die Metzgerei. Aus der Reinigung rennt ein Mann heraus und verschwindet alsbald in einem der Nachbarhäuser. Hinter ihm wird die Tür energisch geschlossen und das Rollgitter herabgelassen.

„Sieht aus, als ob die Leute hier allergisch sind gegen Eis", bemerkt Ragnar. Recht hat er.

Nun klappern gleichzeitig zwei Türen. Aus einem Haus weiter unten kommt ein Mädchen in Ragnars Alter eilig heraus, rennt aber zu seiner Enttäuschung grußlos an uns vorbei. Und aus dem Laden schwankt ein Kartonstapel Nusscremebecher mit langen, schlanken, jeansbekleideten Beinen  darunter heraus. Lars bekommt Stielaugen. „Soviel will ich auch haben!" Und gleich danach: „Meinst du, der Laden hat noch welches für uns?"

Das Mädchen schlüpft in eines der Nachbarhäuser und knallt die Tür hinter sich zu. Ragnar sieht ihr traurig hinterher. „Hoffentlich kommt sie gleich wieder. Ich würde mich gerne mit den Leuten hier anfreunden."

Die Ladentür wird jetzt geschlossen und auch hier rattert ein Gitter herunter. Der Kartonstapel hingegen keucht auf uns zu. „Holla, habe ich Kunden?", wundert er sich. Die Kartons werden auf der Theke abgestellt und hinter ihnen kommt ein sehniger, hochgewachsener Mann zum Vorschein. „Moment bitte!" Er öffnet die hintere Wagentür, springt auf die Ladefläche und erscheint einen Augenblick später hinter der Theke. „Ich hab's gleich." Er packt die Kartons und räumt sie in den Wagen. Dann wendet er sich an Lars. „Was kann ich für dich tun?"

„Hast du uns noch Nutella übriggelassen?", platzt Lars heraus. Es handelt sich zwar um NussPli, aber wie bei den meisten Menschen ist bei uns jede derartige Creme einfach Nutella.

Der Eismann blickt verdutzt drein, dann lacht er. „Ich glaube schon. Und wenn nicht, wird er schnellstens nachbestellen. Du wirst nicht darben, da bin ich mir sicher."

„Kann ich dann ein Eis?"

Wieder zögert der Eismann einen Moment, dann scheint er zu verstehen. „Bekommen?", ergänzt er die Frage. „Aber sicher. Was möchtest du denn?"

„Was hast du denn?"

Jetzt greift Ragnar ein. „Komm, Kleiner, ich lese dir die Liste vor." Er führt Lars zu der Tafel, auf der die Sorten aufgeführt sind. „Für mich wie üblich", wirft er mir noch über die Schulter zu.

Ich wende mich also an den Eismann. „Einmal Malaga, Stracciatella und Nuss, einmal Waldmeister, Zitrone und Vanille."

„Kommt sofort", der Mann macht sich an die Arbeit. „In der Waffel?", vergewissert er sich noch.

„Ja!" Das wird zwar wieder klebrige Hände und Türklinken geben, aber für die Jungs ist ein Eis zum Schlecken nun mal etwas Besonderes. Eis zum Löffeln gibt's schließlich auch zu Hause, wie Ragnar einmal treffend bemerkt hat.

Die Waffeln für mich und Ragnar sind fertig. Lars hingegen will die Liste noch einmal vorgelesen bekommen. Er kann zwar selbst lesen, aber noch nicht so lange und bei ihm dauert es länger, selbst wenn Ragnar zweimal vorlesen muss. „Kann er sich nicht entscheiden?"

„Mama, schmeckt Amarena anders als Amaretti?", will Lars wissen.

„Amarena sind Kirschen, Amaretti Mandelgebäck", erkläre ich.

„Pöh, ich mag keine Kirschen. Ragi, was gibt es noch?"

„Mensch, Kleiner, entscheide dich endlich!", stöhnt Ragnar.

„Aber wenn es doch so viele Sorten gibt!"

Der Eismann blickt irgendwie besorgt auf Lars. „Was magst du denn besonders gerne?"

„Alles! Außer Kirschen, Tomaten, Äpfel, Kartoffeln ..."

„Ich glaube nicht, dass es hier Kartoffeleis gibt!" Ragnar verliert immer mehr an Geduld. „Mensch, mein Eis läuft davon, während du überlegst!"

Mir fällt auf, dass der Eismann immer wieder prüfend in Richtung der Hauptstraße sieht und die hellen Brauen runzelt. „Nimm am besten etwas, was zusammenpasst", rät er Lars. „Wenn du dir bei einer Sorte schon sicher bist, sollten dir die anderen leichtfallen."

„Ich will Schokolade!", kräht Lars sofort.

„Gut, dazu passen Banane und Pfefferminz besonders gut. Welches liegt dir mehr?" Ich bewundere den Eismann für seine Geduld. Aber bei seiner großen Auswahl wird er öfters mit unschlüssigen Kunden zu tun haben.

„Hm – Banane", entscheidet sich Lars. Der Eismann lächelt ihn an. „Das ging ja schnell, meinst du nicht? Zu Schoko und Banane empfehle ich dir Erdbeere, da du keine Kirsche magst, oder Kokos. Was meinst du?"

„Ich weiß nicht, ob ich Erdbeere mag." Lars nagt an der Unterlippe.

„Also Kokos?" Erneut ein besorgter Blick aus dunklen Augen in Richtung Hauptstraße. Was hat der Eismann bloß?

„Wie schmeckt denn Kokos?"

Jetzt springt Ragnar ein. „Wie Bounty. Das magst du doch!"

„Hmmmm!" Lars denkt nach. „Schmeckt das dann wie Bounty und Schokobanane in kalt?"

„Ich gebe dir auch gerne noch Schokosoße drüber", bietet der Eismann an.

Diesmal sehe ich statt seiner zur Hauptstraße. Erst sehe ich nichts Besonderes, dann fällt mir auf, dass ein dunkler Schleier von dort sich auf uns zu bewegt. Es sieht aus wie eine Regenfront, aber am Himmel sind keine Wolken zu sehen. Ich kann verstehen, wenn der Eismann skeptisch ist; mir ist das auch nicht geheuer.

Lars ist mit Denken fertig. „Bekomme ich auch Smarties drauf?"

„Kein Problem, ich habe gerade welche gekauft. Also Kokos?"

Lars nickt strahlend und der Eismann macht sich an die Arbeit. Ich wühle in meinem Portemonnaie. „Was macht das?"

„Sechs Euro!" Der Eismann platziert Lars' Eis im Waffelhalter und bückt sich nach den Smarties, die er wohl weiter unten verstaut hat.

„Warte mal!", ruft Lars. „Kann ich auch noch eine Waffel mit Sahne haben und Nutella?"

Der Eismann taucht wieder auf. „Ja, wenn du dich nicht wieder umentscheidest!" Er schraubt hastig einen Kanister auf, öffnet das Waffeleisen und gibt aus dem Kanister Teig hinein. Dann drückt er auf einen Knopf an einem anderen Gerät, welches zu rotieren beginnt. „Sahne", erklärt er auf meinen verwunderten Blick.

„Sie schlagen sie immer frisch?"

„Natürlich. Sie fällt doch sonst zusammen."

Es soll Mittel geben, die das verhindern. Aber wenn er das nicht weiß, werde ich es ihm ganz sicher nicht sagen.

Ich suche nach dem Preis für die Waffel und finde nichts. Jetzt erst fällt mir auf, dass zwar alles, was zu haben ist, am Wagen angeschlagen ist, aber kein einziger Preis angegeben wird.

„Insgesamt sieben Euro fünfzig", der Eismann hat meinen Blick richtig gedeutet.

Mist, ich habe nur sieben Euro klein. Ich fische einen Zehn-Euroschein heraus und lege ihn auf die Theke.

„Haben Sie's nicht kleiner? Ich kann gerade nicht wechseln."

„Mir fehlen 50 Cent", gestehe ich.

„Ach, egal. Geben Sie mir sieben Euro, dann passt das!" Er schiebt mir den Schein zurück, holt die Waffel aus der Form und versieht sie mit der frisch geschlagenen Sahne. Dann bückt er sich nach dem gerade gekauften NussPli.

Ich sehe zur Seite. Die dunkle Front ist schon sehr nahe gekommen. Rasch fiesele ich die Münzen heraus und nehme den Schein wieder an mich, mit ziemlich schlechtem Gewissen. Der Eismann ist schon sehr günstig und dann lässt er uns noch was nach. „Sind Sie öfters hier?" Beim nächsten Mal wird er die fünfzig Cent bekommen, schwöre ich mir.

„Je nachdem, wie es sich ergibt." Der Eismann gibt eine großzügige Portion auf Lars' Waffel und übergibt sie Ragnar, der sich und den Bruder bereits mit den Eishörnchen versorgt hat.

„Das ist meine!"

„Ich halte sie ja nur für dich, bis du mit dem Eis fertig bist."

Der Eismann streicht die Münzen ein und löst eine der Stangen, welche das Seitenteil des Wagens oben halten. „Sie sollten sich beeilen, ins Haus zu kommen."

„Einen Moment noch. Mama, mach ein Foto von der Liste. Ich mach dann Zettel fertig mit je drei Sorten für Lars und beim nächsten Mal zieht er sich einfach einen und nimmt genau das."

Ragnars Idee gefällt mir. Ich zücke mein Smartphone.

Der Eismann schüttelt den Kopf. „Das ist keine gute Idee. Sie sollten lieber ..." Was immer er sagen wollte, es bleibt ungesagt. Die Front hat uns erreicht.

Plötzlich befinden wir uns im Zentrum eines Sturm, zumindest hört es sich so an. Direkt vor uns teilt sich die Dunkelheit, um uns zu umringen und dann mit gewaltigem Tosen und Brüllen um uns zu rotieren. Minutenlang ist kein Gespräch möglich. Lars läuft zu mir, klammert sich an mich und ruft irgendetwas, aber ich höre kein Wort. Ragnar folgt langsamer, immer noch Eis und Waffel balancierend und redet auf mich ein, aber wieder ist nichts zu hören. Es ist unmöglich, etwas anderes wahrzunehmen als den Lärm, der uns umkreist. Und auch sehen können wir nur noch uns und den Eiswagen. Was sich aus der Ferne als nebelhafter Schatten ausnahm, ist nun eine dichte, feste Wand aus absoluter Schwärze.

Ragnar beugt sich zu meinem Ohr und schreit hinein. Ich verstehe nur schwach etwas: „... Tornado?"

Ich schüttele den Kopf. Auch wenn es ein ähnliches Phänomen zu sein scheint, ein Tornado ist das nicht. Ganz sicher nicht.

Lars blickt mit großen Augen umher. Sonderbarerweise weint er nicht; vermutlich ist er selbst dazu zu erschrocken. Aber er krallt sich immer fester in meine Jeans und wühlt sein Gesichtchen in mein T-Shirt. Sein Eis hält er dabei krampfhaft fest.

Unvermittelt bricht alles zusammen. Das Lärmen verstummt, die Schwärze löst sich auf. Zumindest auf unserer Höhe. Die Front sehe ich noch immer, nun aber bewegt sie sich weiter, von uns fort. Was immer das war, wir haben es überstanden.

„Mama, es ist weg. Ist jetzt alles wieder gut?", will Lars wissen. Ich sehe zu ihm hinunter und lächle ihn an. Die tröstenden Worte allerdings bleiben mir in der Kehle stecken.

Lars steht nicht mehr auf Asphalt, sondern auf hellem Sand. Argwöhnisch hebe ich den Blick und sehe mich um.

Straße, Häuser, Gärten, Lampen und Bäume sind verschwunden. Stattdessen stehen wir auf einer Ebene, die weit und breit nur gelblichen Sand und ockerfarbene Steine zeigt. Das einzige Landschaftsmerkmal sind tief eingefahrene Wagenspuren vor und hinter dem Eiswagen. Eine Wüstenlandschaft, zu der man eigentlich gleißend hellen Himmel erwarten würde. Aber der Himmel ist grau, wie kurz vor einem heftigem Gewitter. Die Sonne ist zwar heller, aber ebenfalls grau.

Verwirrt sehe ich zum Eismann. Der hebt nur die Schultern. „Ich sagte doch, Sie sollen sich beeilen. Jetzt ist es zu spät. Willkommen in meiner Welt."

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