Das Spiel

„Ich kann es gar nicht fassen." Ich staune die Burg vor uns an. „Du bist die ganze Zeit direkt darauf zu gefahren? War das von vorneherein dein Ziel?"

„Ja, aber ich hatte keinen genauen Plan. Den habe ich auch jetzt noch nicht. Aber die ganze Zeit schon habe ich gezweifelt – und Ragnars Spielkonsole hat mich dann restlos überzeugt. Da ist etwas mehr als faul und wir müssen einfach etwas unternehmen. Halte hier mal." Sein Fuß ist seit gestern zwar ziemlich abgeschwollen, aber fahren lassen will ich ihn noch nicht, darum bin ich wieder am Steuer. „Wir sollten uns jetzt verabschieden."

„Wie – was?"

„Der Schleierschleif kann euch zurückbringen. Und dann werden wir beide mit dem Markgrafen mal ein ernstes Wort reden."

„Sag mal, spinnst du? Ich dachte, wir gehen alle da rein? Nicht nur du und der Schleierschleif?"

„Es ist unsere Welt, nicht eure. Es ist nicht eure Angelegenheit."

„Soll das heißen, mischt euch nicht ein?" Finley muss einfach einen Knall haben. Nach all dem, was wir in den letzten anderthalb Wochen miteinander erlebt und vor allem über „Hüben" herausgefunden haben, will er uns einfach sang- und klanglos nach Hause senden? Ohne die Möglichkeit zu erfahren, was mit ihm und dem Schleierschleif passiert ist?

„Nein, es soll heißen, ich will nicht, dass euch etwas passiert!", faucht Finley zurück. „Dazu seid ihr mir zu sehr ..." Er bricht verwirrt ab.

Oh. Irgendwie erinnert mich die Situation an etwas, was ich kürzlich erlebt habe. Zumal Finley jetzt knallrot anläuft und offensichtlich den zweiten Teil seines Satzes verschluckt.

Aber jetzt ist nicht der Moment, darüber genauer nachzudenken. Auch wenn ich gerne so reagieren würde wie Lars, als Ragnar sich so „versprochen" hat, an jenem Tag, an dem wir Finley kennengelernt haben.

Momentelang sehen Finley und ich uns nur ratlos an. Ragnar rettet uns beide, bevor einer von uns etwas sagen kann, was sich nicht mehr zurücknehmen lässt.. „Finley, du bist echt dämlich! Ich muss doch mitkommen! Du kannst doch gar nicht zocken!"

„Da hat er recht", bemerkt der Schleierschleif.

„Gut, aber wenigstens Iduna und Lars ...", Finley stockt, als ihn Lars ans Schienbein tritt. „Dösbaddel! 'türlich kommen wir mit!"

Finley seufzt und lässt Schwanz und Ohren sinken. „Na gut. Aber lasst euch nicht anpassen, ja?"

Ich fahre also weiter. Die Burg des Markgrafen hat eine kleine Ebene für sich alleine, deren Abstand zu uns fast zwei Meter beträgt. Aber in den letzten Tagen habe ich gelernt, diese verflixten Spalten zu überwinden, auch wenn ich immer noch ziemlichen Respekt davor habe. Wie Finley es mir beigebracht hat, trete ich voll aufs Gas und nehme diesmal einen so gewaltigen Anlauf, dass wir den Spalt beinahe überfliegen und mit allen sechs Rädern gleichzeitig auf dem niedrigeren Niveau der Burgebene landen.

„Sehr gut!", kommentiert Finley. „Das bekomme ich nur selten hin!"

Beflügelt von diesem Lob lenke ich den Truck direkt vor die Burg, die mich fatal an die Hauptburg in Siedler Eins erinnert. Was auch immer für ein Spiel der Markgraf spielt, es ist kein neueres.

„Oh, Eis!" Eine Horde Kaninchen, beziehungsweise Menschen mit langen, hängenden Kaninchenohren, riesigen Füßen und Bommelschwänzen, strömt aus der Burg. „Du kommst so selten, Finley! Bekommen wir Eis?"

„Ja, aber ich habe vorher noch mit dem Markgrafen zu reden", gibt der Eismann zu Protokoll.

Keines der Karnickelwesen schöpft Verdacht. „Oh, gut, dann komm. Ist das Strandgut?" Erst als Lars aussteigt, ändert sich das Verhalten der Sammler. „Wie süß", ruft eine Häsin aus. Und ein männliches Kaninchen streckt vorsichtig eine Hand aus und berührt Lars' goldblondes Haar, das sich mittlerweile wieder zu locken beginnt. „So hübsch!"

„Brownie muss davon erfahren. Ein Kind hatten wir noch nie hier", eines der Kaninchen rennt in die Burg. Etwas langsamer folgt ihm Finley und wir tappeln hinterher, flankiert von entzückten Kaninchen, die sich vor allem über meinen langen Zopf und den kleinen Lars kaum fassen können vor Begeisterung. Sind das etwa die Sammler, vor denen wir uns gleich nach unserer Ankunft versteckt haben?

Die Kaninchen geleiten uns durch Flure und Gänge, die sich immer wieder auch mal kreuzen, bis zu einem gewaltigen Portal. „Dungeon-Game", murmelt Ragnar. Ich habe keine Ahnung davon, meine aber, dass die Korridore in „Heretic", das ich in meiner Lehrzeit einige Male gespielt habe, ähnlich ausgesehen haben.

Die Türen des Portals werden von jeweils zwei Kaninchenwachen aufgezogen, dann tritt einer vor und verkündet in bester Heroldmanier: „Tretet nun vor das Angesicht seiner Alleinheit, dem großmächtigen Markgrafen, den Meister – nanu, wo ist er denn?"

Der große Saal ist völlig leer. Also menschenleer, denn möbliert ist er mit einem Thron aus Diamant – so wirkt es zumindest -, einem aus Gold und einem weiteren aus gedrechseltem Holz, der mit rotem Samt bezogen ist. Zudem hat es Kronleuchter, Fackeln und Schalen mit blauem und grünem Feuer, Podeste mit leuchtenden, blitzenden oder schimmernden Kristallkugeln und Edelsteinen und dergleichen mehr. Eine Ansammlung aus allen möglichen Items, die mir Ragnar gerne zeigt, wenn er sich wieder mal ein solches erspielt hat.

Von seiner Alleinheit ist allerdings nichts zu sehen. Die Kaninchenfrau, die uns angekündigt hat, zuckt die Achseln. „Ist wahrscheinlich in seiner geheimen Kammer." Sie weist auf eine kleine Tür hinter einem der Throne.

Ohne weitere Umstände marschiert Ragnar auf diese Tür zu und reißt sie auf. Ich sause hinterher und registriere nur am Rande, dass mir Lars und Schleierschleif direkt auf den Fersen sind und Finley hinterherhinkt.

Wir geraten übergangslos von Final Fantasy zu Star Trek, so kommt es mir jedenfalls vor. Der Raum hier ist wesentlich kleiner, mit einem langen, halbrunden Arbeitstisch ausgestattet, auf dem sich Monitore, Tastaturen, Mäuse und Controller tummeln. Irgendwo in dem unvermeidlichen Kabelwirrwarr sitzt ein Mann an einem der Bildschirme und bewegt konzentriert eine Maus über die freie Fläche davor.

Leise tritt Ragnar hinter den Spieler und prüft dessen Aktivitäten. Wir verhalten uns still, auch die Kaninchendame, die uns gefolgt, wagt kaum zu atmen. Dafür sind ihre Augen umso mehr in Bewegung, sie nimmt den Raum genau in Augenschein, den sie selbst wohl auch noch nie gesehen hat.

„Dösbaddel!", kommentiert Ragnar schließlich. „So wird das doch nichts! Lass mich mal ran!"

Der Markgraf fährt dermaßen zusammen, dass er aus dem Chefsessel rutscht und die Maus durch den Raum fliegt. „Wer – was?"

„Ich!" So selbstbewusst und souverän habe ich meinen Teenager noch nie erlebt und ich bin sehr stolz auf ihn. „Ich bin Ragnar und ich werde dir jetzt mal anständiges World Building zeigen! So machst du alles nur noch mehr kaputt!"

Langsam steht der Markgraf auf. Er ist groß, muskulös und angetan wie ein Rollenspielheld. Tatsächlich hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit Chris Hemsworth, wenn er den Thor spielt. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied; das gutgeformte Gesicht ist völlig ausdruckslos und die Augen nur schwarze Löcher, dem Schwarz in den Spalten nicht unähnlich.

„Was tust du hier?" Seine Stimme ist hoch und quiekend.

„Mir den Kuddelmuddel angucken, den du Tüddelmors hier veranstaltest", gibt Ragnar zurück. Dass ihn der Markgraf um einen Kopf überragt, beeindruckt ihn keineswegs; aufrecht und ungerührt hält er den schwarzen Tiefen stand, die ihn vergeblich zu durchbohren suchen.

Der Markgraf sieht sich nach uns anderen um, offensichtlich verwirrt von Ragnars unbeugsamer Haltung. Finley steht inzwischen neben meinem Sohn und es ist ihm anzusehen, dass er ihn verteidigen wird, verstauchter Fuß hin oder her. Auch der Schleierschleif hat sich zu ihnen gesellt. Und ich komme nun auch näher.

„Finley, das Strandgut, das du mir bringst, ist sehr frech!" Jammert der Kerl etwa? „Wo ist Brownie?"

„Hier, Euer Alleinheit!" Salutierend tritt ein schokoladenbraunes Kaninchenwesen ein. Nicht nur Haar und Ohren, auch die Haut weist diese schöne Farbe auf. Brownie ist ein verblüffend gut aussehender Mann; aber ich kann verstehen, dass er aufgrund seines appetitanregenden Namens mit seinem Aussehen wenig zufrieden ist.

„Dieses Strandgut muss erst erzogen werden! Kümmere dich darum!"

„Erziehen tut uns Mama und die macht das sehr gut!", kräht Lars dazwischen.

Der Markgraf bemerkt ihn erst jetzt. Er mustert erst den Kleinen, dann mich sehr genau. „Finley, dieses Strandgut gefällt mir sehr gut. Ich werde Wunderbares damit schaffen, aber erst müssen diese Leute Manieren lernen."

„Euer Alleinheit!" Brownie schluckt. „Nicht – das ist ein Kind."

„Ja, das sehe ich. So gutes Material hatte ich noch nie."

„Aber – kein Kind! Ihr – ihr könnt doch keine Kinder anpassen!"

„Ich kann tun, was ich will!"

„Nein, das kannst du eben nicht", widerspricht Ragnar. „Ist dir nicht klar, was du den Leuten hier antust?"

„Sie sind mein! Diese Welt ist mein, ich habe sie erschaffen! Die Macht ist mein!"

Ragnar zeigt auf die Monitore. „Die Macht ist in den Rechnern da und nicht in dir! Du bist bloß ein Dilli – Dilettant, der keinen Schimmer von irgendwas hat."

„Brownie, wirf dieses Strandgut in den Kerker!", verlangt der Markgraf in hohem, klagendem Tonfall .„Und lehre es Demut vor mir!"

„Wage es ja nicht!" Finley und ich sagen es gleichzeitig. Sowohl zum Markgrafen als auchzu Brownie.

Brownie braucht die Ermahnung nicht, er widerspricht offensichtlich von sich aus. „Aber – auch er ist ein Kind!"

„Ich bin ein Teenie!", begehrt Ragnar auf. Lars schimpft von hinten: „Mein Bruder ist schon voll groß! Sogar größer als Mama!" Zu letzterem gehört auch nicht viel. Ragnar hat mich schon vor Jahren eingeholt.

„Auf jeden Fall noch nicht erwachsen", stellt Finley abschließend fest.

„Erwachsener als der da aber schon!" Ragnar weist auf den Markgrafen. „Der spielt hier irgendwie rum und macht sich keine Gedanken, was er da anstellt. Da ist selbst Lars ja schon vernünftiger!"

Ich verstehe nicht, warum der Markgraf weder seine körperliche Überlegenheit gegen Ragnar ausnützt noch die Kaninchenwachen herbeiruft. Er scheint noch nie Widerstand erlebt zu haben und hat jetzt keine Ahnung, wie er damit umgehen soll. Ragnar hat recht, ich habe auch den Eindruck, ein verzogenes Kleinkind vor mir zu haben, dem man noch niemals Grenzen gesetzt hat und welches nun die Welt nicht mehr versteht.

„Ich will, dass du mir gehorchst! Ich bin der Markgraf! Ich kontrolliere die Grenzen und du hast mir zu folgen!"

Sehr überzeugend klingt das nicht und bei Ragnar verfängt das auch nicht. „Du kontrollierst gar nichts, du pfuschst nur rum!"

„Ich erschaffe!"

Das wird dem Schleierschleif nun doch zuviel. „Hast du mich auch erschaffen?", will er wissen. „Bin ich geboren worden wie Finley oder hast du mich so gemacht wie ich bin?"

„Natürlich habe ich dich gemacht!", rutscht es dem Markgrafen heraus. „Wie sonst sollte ich einen so starken und vollends von mir abhängigen Diener bekommen?"

Da brüllt der Schleierschleif auf, voller Qual und Verzweiflung. Seine Seelenpein ist förmlich mit Händen zu greifen und sein Wehklagen erfüllt den Raum und steigt zur hohen Decke auf, die sich in dem gleichen Grau verliert, das auch der Himmel aufweist. In dem gleichen, toten Grau, in welchem auch die Bewohner dieser Fehlkonstruktion leben müssen, welche der Markgraf nur zum eigenen Vergnügen erschaffen hat.

Vor diesem Schrei weicht der Markgraf zurück. „Nein – nein, tu mir nichts!" Und obwohl der Schleierschleif keine Anstalten macht, auf ihn loszugehen, sondern nur sein lebenslanges Leid hinausschreit, zittert Seine Alleinheit vor Angst. „Tu mir nichts an! Ich bin der Markgraf! Brownie!"

Der Kaninchenmann sieht ihn nur verächtlich an, macht aber keine Anstalten, seinem Herrn beizustehen.

„Bunny!" Das ist offenbar der Name der Kaninchendame, die schützend einen Arm um Lars gelegt hat und sich ansonsten nicht rührt.

Jetzt verfällt der Markgraf vollends in Panik. Er wendet sich zu dem einzigen Fenster im Raum und klettert ungeschickt hinaus. Zu seinem Reckenkörper hätte ja eher ein eleganter Sprung gepasst, aber der Markgraf macht den Eindruck, als hätte er sich zwar eine eindrucksvolle Gestalt zugelegt, wüsste aber nicht mit ihr umzugehen.

Ragnar und ich stürzen zum Fenster. Finley hüpft einbeinig hinterher, sein Fuß hat wohl wieder den Dienst verweigert. Der Schleierschleif ist in die Knie gesunken und jammert noch lauter. Dann verklingt das, was bei ihm die Stimme imitiert, zu einem kläglichen Wimmern.

Der Markgraf rennt blindlings vorwärts, direkt auf die trennende Spalte zu. Im Laufen dreht er sich um, wohl in der Meinung, vom Schleierschleif verfolgt zu werden. Erst im letzten Moment bemerkt er, dass er bereits am Rand ist und springt überstürzt ab.

Er schafft es nicht.

„Das wäre erledigt", bemerkt Ragnar lapidar. „Und jetzt gehe ich mal an die Arbeit." Er sammelt die davongeflogene Funkmaus wieder ein und setzt sich vor die Monitore. Für die nächste Zeit ist er nicht mehr ansprechbar.

Inzwischen setzen Finley, Brownie und Bunny die Kaninchen von den Geschehnissen in Kenntnis. Der Schleierschleif ist still geworden. Sehr still. Wie ein vernachlässigtes Kind kauert er auf dem Boden, den gesichtslosen Kopf auf den angezogenen Knien. Ich setze mich neben ihn und nehme ihn in den Arm und er lässt es geschehen.

„Ich – kann nicht einmal weinen", flüstert er gebrochen.

„Vielleicht nicht mit den Augen, aber mit dem Herzen", versichere ich ihm.

„Ich bin nichts. Nur Luft. Nicht einmal falsch geboren, nur gemacht. Ich dachte, ich wäre einfach ein Wesen mit Fehlfunktion, wie es manchmal passiert. Aber ich bin nur Funktion, sonst nichts. Nur ein Werkzeug, keine Person."

„Du bist ein Wesen", versichere ich ihm. "Du hast ein fühlendes Herz und das macht ein Wesen aus, nicht ein fester Körper und auch nicht die Art, wie man entstanden ist. Du bist mehr als das, was der Markgraf erschaffen hat." Ich denke daran, wie Finley vom Schleierschleif gesprochen hat. „Du und Finley, ihr seid Freunde, nicht wahr?"

„Ja ..."

„Der Markgraf hatte keine. Er konnte nicht mal Freundschaften schließen. Du kannst es."

„Seine Alleinheit – er ist fort."

„Ja."

„Ich werde dann auch bald gehen."

Bitte nicht, denke ich. Ragnar, mach was dagegen!

„Weißt du, Schleierschleif", sage ich aus meinen Gedanken heraus. „Ihr habt ihn immer mit All-Einheit angesprochen und damit wohl gemeint, dass er das einzig vollständige und perfekte Wesen hier ist."

„Ja - so ist es."

„Aber ich glaube, das war die falsche Aussprache. Es hätte Allein-heit heißen müssen. Er war allein – einsamer, als einer von euch allen es je hätte sein können. Er kannte nur sich selbst und seine Bedürfnisse. Er war weniger Wesen als ihr alle, dich eingeschlossen." In diesem Moment wird der Boden unter uns gelb, dann blau. Ragnar gewinnt allmählich die Kontrolle über diese Spielwelt. Der Schleierschleif achtet nicht darauf und ich habe jetzt auch keinen Sinn dafür. „Eigentlich war der Markgraf das einzige unperfekte Geschöpf in dieser Welt."

„Oh." Der Schleierschleif scheint darüber nachzudenken. Dann gesteht er: „Ich würde jetzt gerne lächeln."

„Das kannst du gleich", Ragnar fummelt an einem Controller herum. „Willst du so ein Tornadowesen bleiben? Also die Fähigkeit behalten? Das wäre sicher gut, denn du bist wohl der einzige hier, der ohne Hilfsmittel die Welten wechseln kann."

„Tornadowesen?", wiederholt der Schleierschleif verwirrt. Ach ja, hier gibt es ja kein Wetter.

„Tornado, Taifun, Zyklon", erkläre ich ihm. „So nennen wir drüben Wirbelstürme. Du erinnerst uns daran."

„Das klingt schöner als Schleierschleif", murmelt das Geschöpf in meinen Armen. Und dann verändert es sich.

Erst fühlt es sich nur fester an. Dann bildet sich ein Körper aus, dessen Haut noch immer dieses graue Wirbeln zeigt, das aber überhaupt mal Haut aufweist. Und dessen Umrisse nicht mehr verschwommen sind, sondern klar und scharf gezeichnet. „Bist du eigentlich männlich?", fragt Ragnar. „Wir haben dich immer so bezeichnet, aber vielleicht siehst du dich eher als Frau?"

„Nein. Wie du und Finley. Nicht wie Iduna." Ich atme auf. Gut, dass der Schleierschleif sich wenigstens da sicher ist. Aber das ist ein weiterer Beweis dafür, dass der Schleierschleif eine selbstständige Persönlichkeit entwickelt hat und weitaus mehr ist als der gehorsame Diener, den der Markgraf sich erschaffen wollte.

Mir geht auf, dass der Markgraf die Sammler gar nicht hätte aussenden müssen, hätte ihm der Schleierschleif alle versehentlich mitgenommenen Menschen direkt an der Burg abgeliefert. Stattdessen hat er uns bei Finleys Eiswagen gelassen und auch dem Markgrafen offenbar nicht verraten, dass er uns eingesammelt hat, denn sonst hätte Brownie nicht all diese Fragen an Finley richten müssen. Ich verstehe jetzt auch, dass unsere Mitnahme wohl eher ein Versehen gewesen ist. Vermutlich hat der Schleierschleif seine Kräfte in unserer Welt weniger unter Kontrolle. Das würde auch erklären, warum die Menschen in meiner Straße vor Finleys Schelle geflohen sind; vermutlich war das bisherige menschliche Strandgut nur unabsichtlicher Beifang beim Einsammeln von Finleys Truck gewesen, dessen „Weltenspringer" offenbar nach jedem Sprung wiederneu aufgeladen werden muss. Somit konnte Finley zwar in unsere Welt gelangen, brauchte aber zur Rückkehr den Schleierschleif. Der sich vermutlich außerhalb dieser seltsamen Spielwelt nicht verstofflichen kann.

Wenn ich daran denke, mit welcher Präzision das Tournadowesen die Wertstoffcontainer vor den Fabrikhallen abgesetzt hat, bezweifle ich auch nicht, dass ihm auch möglich gewesen wäre, das menschliche „Strandgut" vor dem Tor, wenn nicht sogar direkt in dieser Kammer hier zu platzieren. Aber genau das hat er nicht getan, nicht mit uns und nicht mit den Menschen, die er zuvor eingefangen hat, sonst hätte der Markgraf die Sammler nicht benötigt. Während der Markgraf glaubte, ein willenloses Werkzeug vor sich zu haben, hat der Schleierschleif stillen Widerstand geleistet.

Die letzten Wochen habe ich den Schleierschleif im Stillen verflucht dafür, dass er uns hierher geschleift hat. Aber jetzt  kann ich ihm das verzeihen. Die paar Wochen Verwirrung, Desorientierung und Furcht für uns sind nichts gegen das Leid, welches dieses Tornadowesen sein Leben lang hat ertragen müssen und ich hoffe nur, dass Ragnar ihm jetzt zu einem besseren Leben verhelfen kann. Wenn er das schafft, werde ich nie wieder etwas gegen seine stundenlange Daddelei sagen.

„Okay." Ragnar werkelt weiter. Der Schleierschleif bekommt nun männliche Proportionen. Und ein Gesicht mit kräftigen, gutgebildeten Zügen und großen, blauen Augen, die überaus erstaunt dreinblicken. „Was machst du?"

Ragnar weist auf den Monitor. „Ich editiere deinen Code. Du wirst jetzt ein Wandelwesen, du kannst Mensch sein oder Taifun, wie du willst. Und du kannst normal essen oder deine Energie aus der Erde beziehen. Wenn ich mit der Erde hier fertig bin. Ihr braucht einen soliden Untergrund!"

„Ich – kann leben?", fragt der Schleierschleif fassungslos.

„Ja, kannst du. Willst du nicht?"

„Oh ja. JA!"

„Fein. Komm mal her und guck dir das an. Willst du eine andere Augenfarbe? Gefällt dir dein Gesicht oder soll ich was ändern?"

„Mach es, wie du willst. Wesen können sich auch nicht aussuchen, wie sie aussehen." Der Schleierschleif zögert. „Taifun gefällt mir. Kann ich so heißen?"

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