Das Schellen
Aufatmend stellt Ragnar den letzten Karton auf dem Boden ab. „Das war's, Mama. Jetzt können wir uns hinsetzen."
„Danke dir, Großer", sage ich, während Lars empört fragt: „Und wo sollen wir uns hinsetzen? Steht doch alles voll!"
„Wenn du deinen Kram vom Bett räumst, ist genug Platz!", kontert Ragnar sofort. „Welcher Mensch braucht überhaupt soviel Kuschelviecher?"
„Das sind meine Freunde!"
„Klar sind die das! Die können sich ja nicht dagegen wehren wie echte Leute!"
Ich mische mich am besten nicht in die brüderlichen Kabbeleien ein. „Ragnar, such bitte meine Matratze raus, dann picknicken wir auf meinem Bett. Lars, in der Küche steht ein Korb mit allem, was wir brauchen, räumst du schon aus? Ich schicke derweil die Möbelpacker weg."
Der Zwist ist sofort vergessen. Ragnar macht sich mit „Ich hab aufgepasst, wo sie die Matratzen hingeräumt haben!" auf den Weg ins Wohnzimmer, während Lars in die Küche flitzt und rausruft: „Ragi, sie hat sogar Milchschnitte eingepackt!"
„Du sollst mich nicht so nennen!", schallt es aus dem Wohnzimmer, während ich die Treppe hinuntergehe. „Ich bringe die Nachttische mit, dann kannst du darauf den Tisch decken!"
„Mach ich! Hier sind auch Handtücher, die nehmen wir als Tischtuch."
Schön, wie schnell so ein Streit beendet wird, wenn ich den beiden was zu tun gebe.
Zehn Minuten später stehe ich wieder im großen Schlafzimmer, nachdem ich alle Unterschriften geleistet, die Möbelpacker mit einem dicken Trinkgeld entlassen und die im Vorgarten herumliegenden Planen eingesammelt habe. Hier werde ich von einem unvermutet friedlichen Idyll empfangen.
Beide Matratzen liegen auf meinem Bett, bereits bezogen, die eine mit unserer „Familiendecke" belegt, in die wir uns zu dritt hineinkuscheln, wenn etwas Gruseliges im Fernsehen läuft. Die Nachttische sind vor dem Bett zusammengeschoben und mit rotkarierten Geschirrhandtüchern bedeckt. Darauf machen sich belegte Brötchen, bereits ausgepackte Milchschnitten,Karlsbader Brezeln, Fanta, Laugenstangen und ein Teller mit Mandarinenspalten breit. Lars schneidet gerade eine Banane in Stücke, die Zunge zwischen den halbgeöffneten Lippen macht jede Bewegung mit. Ragnar bestreicht inzwischen die vierte Laugenstange mit Butter.
„Sagt mal, wer soll denn das alles essen?" Ich habe das zwar alles eingepackt, aber nicht für eine einzige Mahlzeit.
„Also ich habe jedenfalls tierischen Hunger", erklärt Ragnar. Das wundert mich auch nicht. Ragnar ist dreizehn, gerade in heftiger Wachstumsphase und futtert infolgedessen wie ein Scheunendrescher. Zudem hat er jetzt stundenlang Möbel und Kartons in den ersten Stock geschleppt. Trotzdem – auch der Magen eines Teenagers sollte doch Grenzen haben.
Wie auch immer, wir machen es uns auf meinem Bett gemütlich und greifen zu. Was übrigbleibt, wird eben in den Kühlschrank wandern, den ich vorhin eingeschaltet habe. Bis meine Jungs satt sind, wird er schon kalt genug sein.
„Hier oben gefällt es mir schon ganz gut", bemerkt Ragnar kauend. „Hast du gut ausgesucht, Mama. Jetzt ist nur noch die Frage, wie der Laden unten aussieht."
„Nicht mehr böse, weil ich euch nicht gefragt habe?", erkundige ich mich. „Ich musste mich sofort entscheiden und ich hatte Angst, dass es mir jemand wegschnappt."
„Wie kann denn jemand ein ganzes Haus schnappen?" will Lars wissen. Ragnar und ich müssen lachen.
„Nicht das Haus, sondern den Mietvertrag", erklärt Ragnar dann dem Kleinen. „Wenn Mama nicht sofort unterschrieben hätte, dass sie das Haus nimmt, wäre jemand anders eingezogen."
„Und so günstig hätte ich kein anderes gefunden, welches so geeignet ist", füge ich hinzu. „Die Ladenräume im Erdgeschoss sind sehr vernachlässigt worden, darum hat der Vermieter sie nicht mit in die Miete einberechnet. Er meinte, es sei ihm egal, was ich da unten eröffne, Hauptsache, er muss nicht jedes Mal auf die blinden und vernagelten Fenster starren, wenn er aus dem Fenster sieht. Er wohnt direkt gegenüber", ich weise mit meinem Käsebrötchen in die ungefähre Richtung.
„Oh, ist das der alte Mann, der dauernd rübergeguckt hat?", fragt Lars. „Als ich meinen Ball geholt habe, hat er gerufen, ich soll damit nur hinten spielen. Was hat er damit gemeint?"
„Das du nur im hinteren Garten spielen sollst und nicht an der Straße. Ich sehe das übrigens auch so. Hier herrscht zwar kein solcher Verkehr wie in der Großstadt, aber es fahren genug Autos hier lang, dass dich doch eines erwischt, wenn du dem Ball nachrennst."
Beleidigt schiebt Lars die Unterlippe mitsamt Milchschnittenkrümeln vor. „Pöh, ich weiß doch, dass ich nicht auf die Straße laufen darf, auch wenn mir der Ball wegfliegt."
„Du vergisst das aber immer wieder." Ragnar greift nach der dritten Laugenstange. „Neulich erst hab ich dich grad noch einfangen können."
Lars reibt sich die Wange. „Ja, und mir eine geschallert", beklagt er sich.
„Hoffentlich hats gewirkt, dass du dir das endlich merkst!"
„Du tust immer so, als wäre ich noch klein."
„Du bist nicht mal halb so alt wie ich. Ich tu nicht so, du bist klein!"
„Du bist gemein!"
„Gar nicht! Ich liebe meinen kleinen Bruder und will ihn nicht verlieren!"
Auf einmal herrscht Stille. Beide Brüder starren sich entgeistert an. Lars' blaue Augen sind weit aufgerissen vor Staunen und ganz allmählich heben sich seine Mundwinkel, bis der Schmollmund zu einem Lächeln wird. Ragnars Miene ist versteinert und seine Wangen färben sich flammend rot. Ich beobachte die beiden stumm und versuche, mein Schmunzeln zu unterdrücken.
„Ist das wahr?" Lars' Stimme zittert etwas. „Hast du mich lieb?"
Ragnar wird noch röter, aber er nickt entschlossen. „Natürlich, Kleiner. Wenn du mir egal wärst, würde ich mich doch nicht drum kümmern, wenn du dich in Gefahr begibst."
Lars springt vom Bett, wobei er Blätterteigkrümel auf dem Boden verteilt und geht um meine Beine herum. Vor Ragnar bleibt er stehen. „Weißt du, Ragi", beginnt er.
„Ich habe gesagt, du sollst mich nicht so nennen!"
Lars hört nicht darauf und springt dem Bruder kurzerhand auf den Schoß. „Ich habe dich doch auch doll lieb!" Er schlingt seine klebrigen Ärmchen um Ragnars Hals. „Ich find das toll, dass ich nen großen Bruder hab!"
„Mann, du Knalltüte!" Unter dem Ansturm ist Ragnar nach hinten gefallen. „Geh runter, du Spinner! Du sitzt auf meinem Magen!" Und der beherbergt neben den drei Laugenstangen inzwischen auch zwei Karlsbader und drei Schinkenbrötchen. Ich kann Ragnars Jammern gut verstehen.
Aber Lars hat jetzt Oberwasser. „Schimpf nur. Nachher lachst du doch wieder."
„Warte mal, wer hier lacht!" Ragnar dreht sich blitzartig um, dass Lars halb unter ihm zu liegen kommt. „Du lachst doch viel schöner als ich!" Er beginnt den Kleinen zu kitzeln.
„Haaaach! Nein! Nihihihihicht dahahaha! Lahahahass dahahas!" Lars kichert, giggelt und verteilt zerkaute Karlsbader Brezel auf der Wolldecke. Ich bin froh, dass Ragnar die untergelegt hat.
Einen Moment lasse ich Ragnar gewähren, dann beschließe ich einzugreifen, bevor Lars noch erstickt. „Lass jetzt ...", ich unterbreche mich, als von draußen eine Glocke ertönt.
Die Jungs halten ebenfalls inne. „Ist das unsere neue Klingel?"
„Quatsch, das ist von draußen!" Ragnar ist bereits am Fenster zur Straße hin und späht hinaus. „Ich werd verrückt! Ein Eiswagen! Ich dachte, sowas gibt's nur noch in Büchern!"
„Cool. Auf Eis hab ich grad Lust!" Lars jubelt und zerrt an meiner Hand. „Mama, bitte!"
„Ich hol's dir. Ich will auch eines!" Ragnar ist bereits zur Tür hinaus.
Lars und ich folgen langsamer. Mich hat der Eiswagen auch neugierig gemacht. Ragnar hat recht, ich kenne solche Eiswagen, die durch die Straßen fahren und mit Glockenschellen auf sich aufmerksam machen, auch nur aus Büchern. Wenn man mir vorher gesagt hätte, dass das hier noch üblich, wäre das nur ein weiterer Grund für mich gewesen, in die Kleinstadt zu ziehen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top