Aufladen
„Hier kultivieren wir den Sauerteig", erklärt mir Fantasia, eine Waschbärdame, die auch nicht viel größer ist als ich. Ich begutachte die Fermentiergläser. „Womit füttert ihr ihn?"
„Mit einer Mischung aus Töftenstärke und Linsenmehl, etwa eins zu drei."
„Das muss ich daheim mal probieren. Was backt ihr alles daraus?"
„Nun ja – Brot eben."
„Keine Brötchen oder süße Teilchen?"
Die Antwort hätte ich mir eigentlich denken können. „Was ist das?"
Das Resultat dieser Frage ist ein dreitägiger Backkurs für die Brothersteller der Industriestadt. Ich komme mir vor fast vor wie ein Popstar, so begeistert lauschen die Bäcker jedem meiner Worte und so sehr bejubeln sie mein Wissen.
Aber nicht nur sie profitieren davon. Ich lerne so einige der Früchte dieser Welt kennen und füge sie meinen Rezepten hinzu. Die Butterbeeren eignen sich nicht nur zum Einfetten der Formen, sondern auch zum Bestreichen des fertigen Backwerks. In Ermangelung von Honig oder Zucker süßen wir mit einer Art Süßgras, die lila Geleefrüchte geben eine wunderbare Füllung ab, eine orange Variante wird mit etwas Linsenmehl beim Backen wabbelig-fest und schmeckt ähnlich wie Vanillepudding. Und die winzigen fliederfarbenen Beeren, welche die Bäcker aus mir unerfindlichen Gründen als Krötenaugen bezeichnen, erinnern geschmacklich an Rosinen und lassen sich auch wie solche verwenden.
Blätterteig, Mürbegebäck und Sandkuchen sind hier völlig unbekannt. Eier gibt es zwar, aber nicht von Hühnern, sondern einer Art Ente mit plattem Biberschwanz und scharfen Zähnen im Schnabel. Auf dem Fluss tummeln sich die purpurfarbenen und smaragdgrünen Tiere zuhauf und machen Jagd auf eine Wasserpflanze, die sich mithilfe von Paddelblättern pfeilschnell durchs Wasser bewegt. Da die Enten nur geringe Jagderfolge verzeichnen können, holen sie sich von den Bäckern Brotkrusten ab und hinterlassen dafür unbefruchtete Eier. Die reichen aber nicht aus, um regelmäßig Biskuitgebäck oder Makronenmasse herzustellen, also bringe ich das den Bäckern gar nicht erst bei.
In dieser Zeit strolcht Ragnar durch die Fabrikhallen und inspiziert die Techniken, mit denen dort gearbeitet wird. Seine Erkenntnisse teilt er großzügig mit Lars und mir, völlig ungerührt von der Tatsache, dass wir beide kein Wort verstehen. Seine langatmigen Erklärungen eignen sich wunderbar als Einschlafgeschichte; in der Regel sind wir beide spätestens nach dem zehnten ellenlangen Satz weggedämmert. Ragnar spricht laut Finley, der im Nebenzimmer nächtigt, meist noch einige Minuten weiter, bis ihm aufgeht, dass sein Publikum längst im Traumland weilt.
Man hat uns hier nämlich Zimmer gegeben und wir dürfen in bequemen Betten schlafen. Die Matratzen sind fest mit Haaren aller möglichen Tierwesen ausgestopft worden, die Laken und Bezüge aus Schafwolle gewebt, die Decken und Kissen mit Entenfedern gefüllt. Das Ergebnis ist keineswegs unbequemer als unsere gewohnten Betten „Drüben".
Was die Haare anbetrifft, so gieren die Industriestädter geradezu danach. Schon am zweiten Tag taucht Finley mit sichtlich gestutzter Mähne auf, die nun den Nacken freilässt und mir die lichtbraune Unterwolle präsentiert, die Finleys gekürzter Kopfbehaarung ein eigenartig geflecktes Aussehen verleiht, wie bei einem Polarfuchs im Fellwechsel.
Als Ragnar über den Grund von Finleys neuer Frisur aufgeklärt wird, rennt er auf der Stelle in die Matratzenmanufaktur und taucht alsbald mit einem flotten Kurzhaarschnitt auf statt seines schulterlangen Indianerschopfs, der mir schon die letzten beiden Jahre ein Dorn im Auge ist. Weniger der Länge wegen, die Ragnar eigentlich gut steht, sondern weil sich mein Herr Sohn auch im Hochsommer beharrlich weigert, sich einen Pferdeschwanz zu binden und lieber mit schweißnassen Haaren herumläuft als von merkwürdig erzogenen Klassenkameraden als „Mädchen" oder "Schwuchtel" verlacht zu werden. Lars blonde Engelslöckchen sind leider schon letzte Woche im Friseursalon geblieben, während Ragnars schwarze Mähne dort auf Wunsch des Trägers nur die Spitzen geschnitten bekommen hat. Fehle nur noch ich. Die Tierwesen hier sind dermaßen gastfreundlich und freigiebig, dass wir etwas zurückgeben wollen.
Mein Anerbieten löst allerdings eine heftige Diskussion aus. Von meinem polangen Flechtzopf sind die Haarverwerter nämlich so begeistert, dass sie sich schlichtweg weigern, ihn abzuschneiden. Nach einer längerem Debatte nehmen sie schließlich etwa zwanzig Zentimeter an, kämmen mir den Rest mit geradezu ekstatischer Freude wieder glatt und flechten alles neu. „Ich habe noch nie so langes und schönes Haar gesehen", vertraut mir eine Füchsin namens Silly an. „Und diese Farbe, wie Beerenbutter, aber leuchtender – ich wusste nicht, dass Haare so eine Farbe haben können."
„Bei uns nennt man die Farbe goldblond", bemerke ich und erhalte die gleiche Antwort, die mir hier immer wieder begegnet: „Was ist Gold?" Jeder zweite Satz von uns löst ein verwirrtes "Was ist ...?" aus.
Tja, wie erklärt man das Wesen, denen der Begriff von Bodenschätzen vollkommen fremd ist?
Uns allen fällt auf, dass alle Gerätschaften und Maschinen recycelt worden sind. Glas weist grundsätzlich mehrere ineinander verwirbelte Farben auf, Werkzeuge und Maschinen sind aus etlichen Sorten Stahl, Eisen und Aluminium gefertigt, die Hochöfen bestehen aus den Bruchstücken von Ziegelsteinen, die sich hinsichtlich Farbe, Form und Größe stark unterscheiden und mit mal grauem, mal rotem Mörtel passend gekleistert wurden.
Die Erklärung dafür liefert der Schleierschleif, der am Morgen des zweiten Tages kurz vorbeiwirbelt und dabei zwei Container ablädt, die er wohl in einem Wertstoffhof abgestaubt hat. Deren Inhalt, Glas und Metallschrott, wird begeistert in Empfang genommen.
Lars schaut ebenfalls überall vorbei, wird dabei aber stets von Ragnar, mir oder auch Finley bewacht. Die Strömung des Flusses ist stark, die Maschinen in der Regel ungesichert und die Hochöfen glühend heiß; nichts davon ist für einen lebhaften Sechsjährigen geeignet, der seine vorwitzigen Finger überall hineinsteckt. Ich registriere mit einer Mischung aus Wohlgefallen und Beunruhigung, dass Lars sich an Finley hängt wie noch nie zuvor an einen erwachsenen Mann, einschließlich meines Bruders und auch Ragnar immer mehr Zeit mit dem Eismann verbringt. Es ist schön, dass sie sich so gut verstehen, aber wir werden ja hoffentlich nicht ewig hier bleiben. Wenn meine Jungs Finley als Vaterersatz annehmen, wird sie die unausbleibliche Trennung erneut verstören.
Gegen Abend des dritten Tages rumpelt ein mittelschwerer LKW in den Hof und stellt sich neben Finleys Truck, der kaum kleiner ist. Der Foodtruck misst meiner Schätzung nach etwa neun Meter in der Länge, fast drei in der Breite – wie hat Finley das den Konstrukteuren nur schmackhaft gemacht? – und drei Meter dreißig in der Höhe, wobei ein Meter auf den Wassertank entfällt. Somit kann Finley gut sechsundzwanzig Kubikmeter Wasser mit sich führen.
Der Neuankömmling ist mit circa zweieinhalb Metern Breite zwar schmaler, weist dafür gut zwölf Meter Länge und vier Meter Höhe auf. Solche Schätzungen sind für mich ein Leichtes; schließlich habe ich ein halbes Dutzend Jahre in einer Großbäckerei gearbeitet und dabei die unterschiedlichsten Lieferanten und Verteiler so einweisen dürfen, dass sie weder drei Parkplätze besetzen noch das Schutzdach über der Laderampe mitnehmen.
Der Fahrer, ein Tierwesen mit extrem kurzem, weichem, schwarzem Haar, langer Nase, sehr großen Händen und einem kleinen, schwarzen Stummelschwanz, stürzt sofort auf den Eismann zu. „Finley! Ich wollte hier eigentlich nur Brot einladen, aber wenn ich dich schon treffe – ich habe jede Menge Beeren dabei, nimm dir einen Teil, bevor sie schlecht werden! Und hast du wieder Erdnussbutter? Danach verlangen die Wesen in den Dürreebenen am meisten, die eignet sich so gut, um die Kinder aufzupäppeln!"
„Da können wir gleich austauschen", verspricht Finley. Inzwischen habe ich den Fahrer einsortiert und frage rundheraus: „Maulwurf?"
„Stimmt!" Der Fahrer dreht sich zu mir um. „Ich bin Depp, Müll aus Hüben. Und du bist eindeutig Strandgut!"
„Iduna", stelle ich mich vor und er lächelt. „Du hast bei der Namensvergabe wirklich Glück gehabt."
„Bei uns wählen die Eltern das aus", erkläre ich. Depp seufzt sehnsüchtig. „Das sollte man bei uns auch einführen."
„Meine Rede!" Finley tritt zu uns. „Und die Sache mit der Anpassung gehört auch abgeschafft."
Depp nickt energisch. „Hast du sie aufgesammelt? Ich finde sie so schon perfekt, hübsch, sympathisch und schlau – sie hat gleich erkannt, was für ein Tierwesen ich bin. Aber seine Alleinheit wird da noch was zu verbessern finden."
„Er wird waaaaas?!?" Ragnar hat die letzten Sätze mitbekommen und stellt sich nun vor mich. „An Mama verbessert keiner was!"
Depp hebt begütigend die beeindruckenden Hände. „Ich würde das auch nicht wollen. Aber lebendes Strandgut müssen wir eigentlich dem Markgrafen abliefern, damit er damit experimentiert. Er ist nicht zufrieden damit, wie wir hier leben und sucht ständig nach Möglichkeiten, unsere Welt zu verbessern."
„Wenn er das hier verbrochen hat, hat er es eher schlimmer gemacht als besser!", wütet Ragnar. „Der Dösbaddel hat keinen Schimmer von einem ordentlichen World Building!"
„Wer von was?" Ragnar tut mir allmählich leid. Lars und ich kommen mittlerweile einigermaßen zurecht, aber Ragnar muss immer noch jedes zehnte Wort erläutern. Apropos Lars ... „Wo ist dein Bruder?"
„Hier!", ertönt es über uns und Lars' helles Köpfchen blickt aus dem Fenster von Depps LKW. „Der ist ganz schön hoch!"
„Eben, und darum auch kein Spielplatz für Kinder!" Depp holt meinen vorwitzigen Sprössling aus seinem Fahrerhaus und behält ihn der Einfachheit halber gleich auf dem Arm. „Deiner?", erkundigt er sich bei mir. Und als ich nicke: „Hast du noch ein paar von der Sorte?"
„Keine Angst, das sind alle", beruhige ich ihn.
„Und Finley hat euch alle zusammen aufgesammelt?"
„Ja", kräht Lars ihm ins Ohr, dass Depp zusammenzuckt. „Dabei wollten wir bloß ein Eis haben. Wir sind nämlich umgezogen und die Glocke war so laut und Ragi hat so lange gebraucht, um mir alles vorzulesen ..."
„Nenn mich nicht so! Und außerdem hast du doch ewig gebraucht, dich zu entscheiden!"
Depp wirkt etwas überfordert, Finley lächelt nur. „So sind sie die ganze Zeit."
„Ist das nicht anstrengend?"
„Nein, eher erfrischend."
„Na, wenn du meinst ... du warst ja schon immer leicht verrückt!"
Nun taucht Escamillo auf. „Frucht und Wasser, Depp! Was brauchst du, Brot, Wasser, Strom?"
„Ja, alles", ist die Antwort. „Und mit Finley habe ich auch noch ein Geschäft vor."
„Das sollten wir heute noch durchziehen. Ich habe keine Milch mehr und kann also auch kein neues Eis mit den Früchten machen. Morgen wollte ich eigentlich zu den Weideebenen aufbrechen."
„Kommen wir da mit?" Lars ist inzwischen auf Finleys Arm gewechselt und umklammert dessen Hals.
„Wenn du möchtest, gerne."
„Dein Weltenspringer ist noch lange nicht aufgeladen", erinnert ihn Escamillo. Finley nickt. „Aber solange würde ich Iduna und ihre Jungs gerne weiter bei mir haben. Wenn es euch recht ist", wendet er sich an mich. „In meinem Wagen findet man euch nicht so leicht, da ich ja ständig unterwegs bin."
Komisch, irgendwie klingt er nicht ganz ehrlich. Eher so, als wäre ihm das letzte Argument gerade erst eingefallen.
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