6.
Ein nervtötendes Geräusch riss mich aus meinem Schlaf. Meine Augen waren verkrustet, wegen der Tränen und ich spürte das Salz auf meinen Wangen. Mein Körper fühlte sich an, als wäre ich tot. Ich konnte nicht klar denken und fühlte mich leer. Ich hatte einen Teil von mir selbst verloren. Ich konzentrierte mich wieder auf das nervige Geräusch und merkte, dass es von meinem Handy kam. Ich wurde also angerufen - zu diesen unchristlichen Zeiten? Obwohl, wie spät ist es? 1:32 Uhr. Warum ruft mich jetzt jemand an?! Ich schaute auf mein Handy, um eine unschöne Entdeckung zu machen: Erik rief mich an! Was wollte dieses Arschloch?! Mich auslachen; mich anschreien? Das wollte ich mir echt nicht geben.
Mit einem genervten Schnauben drückte ich den Anruf weg und probierte, mich wieder in den Schlaf zu wiegen. Doch leider wurde ich nach einer Minute erneut gestört. Wütend drehte ich mich zu meinem Handy. Natürlich war es immer noch der gleiche verhasste Anrufer, wie vor ein paar Minuten. Ich schnaubte und wollte den Anruf gerade wieder weg drücken, doch Erik würde weiterhin anrufen, daher nahm ich den Anruf doch an.
„Was?!" zischte ich nur ins Telefon.
„Tim? Bist du das?" fragte Erik, er klang müde.
„Neh, weißt du. Hier spricht Tim's Mutter." antwortete ich nur kalt auf seine Frage.
„Könnte ja sein. Ich weiß ja nicht, wer so an dein Handy geht." meinte er nur gelassen. Und plötzlich würde mir klar, dass so etwas nicht passieren kann. Die ganze Trauer stürzte erneut auf mich ein und ich verfluchte mich selbst, dass ich den Anruf beantwortet hatte. Die Tränen bahnten sich wieder einen Weg über meine Wangen und ich musste das Bedürfnis, laut los zuschreien, unterdrücken.
„Tim? Bist du noch dran? Das war doch nur ein Scherz, nimm das bitte nicht zu ernst." hörte ich Erik's Stimme aus dem Handy kommen.
Ich konzentrierte mich wieder auf das Gespräch: „Lass mich einfach in Ruhe, Ok? Seit ich dich kenne, geht mein Leben nur noch bergabwärts. In der Schule, hier Zuhause. Alles wird nur noch scheiße!" zum Ende hin schrie ich schon fast. Kurzzeitig herrschte Stille, dann sprach Erik. Seine Stimme war ruhig, vielleicht sogar besorgt: „Tim...? Kann es sein, dass da noch etwas anderes ist, was dich gedrückt, außer unserem Streit heute?" ich überlegte kurz, ob ich es ihm sagen sollte, aber ich wollte mich irgendjemanden öffnen. „Meine Mutter ist gestorben!" sagte ich nur und dann fing ich an, lauthals zu schluchzen.
„Was... Wie.... Wann ist sie gestorben?" Erik klang sehr verwirrt.
„Heute.... Bei dem Brand... Kam in den Nachrichten... Alle tot." meine Stimme war brüchig, während ich meine Tränen weg wischte.
„Oh, du tust mir so leid. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, seine Mutter zu verlieren. Wenn du reden möch-" fing er an, dich ich unterbrach ihn gereizt.
„Du kannst dir dein Mitleid sonst wohin schieben. Ich hab keinen Bock auf deinen Scheiß, also lass mich einfach in Ruhe."
„Aber... Ich wollte-" setzte er erneut an, doch ich legte einfach auf. Ich hatte keinen Nerv mehr für sowas. Inzwischen war es fast Zwei Uhr. Ich legte mich wieder aufs Sofa und fiel schnell in einen unruhigen Tag.
Mein Handy riss mich aus dem Schlaf, aber das war, ehrlich gesagt, besser, als die Albträume, die mich die ganze Nacht lang geplagt hatten. Ich schaltete meinen Alarm aus und stand auf. Das Sofa war bequemer, als ich dachte. Da ich schon - oder besser gesagt, noch immer - angezogen war und keine Lust hatte, Zähne zu putzen, ging ich direkt in die Küche. Mein Frühstück bestand aus einem Apfel und etwas Müsli, doch es reichte, da ich sowieso keinen Hunger hatte. Nach meinen Albträumen fühlte ich mich leer und ausgelaugt. Ich empfand weder Trauer, noch Wut oder etwas anderes. Normaler Weise würde ich diesen Zustand als unnormal bezeichnen, doch gerade jetzt fand ich ihn ziemlich praktisch. Ich hatte keine Lust, den ganzen Tag heulend in der Ecke zu liegen. Und diese Kälte, die ich spürte, würde mich vielleicht vor meinen Mitmenschen beschützen. Nichts an sich ran zu lassen; keine Angst spüren - das waren Eigenschaften, die einen vor Mobbing, vor Ärger, vor allen Situationen beschützen konnten. Und wer weiß, wie sich die anderen verhalten werden, nachdem, was gestern passiert ist. Ob ich der einzige bin, der ein Elternteil verloren hat, oder gibt es da noch andere Leute an meiner Schule?
Nachdem ich fertig gefrühstückt hatte, setzte ich mich aufs Sofa. Ich hatte noch genug Zeit, darum checkte ich meine Nachrichten.
Zwei neue Nachrichten von John und Papa.
John: Es tut mir so leid, was mit deiner Mutter passiert ist. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich bin immer für dich da.
Ich antwortete nicht auf seine Nachricht. Ehrlich gesagt war mir ziemlich egal, wer Mitleid mit mir hatte und wer nicht.
Papa: Ich habe erfahren, was mit Mama passiert ist. Es tut mir so leid. Ich komme schon am Wochenende wieder, damit du nicht alleine bist.
LG dein Papa
Ungewollt entfuhr mir ein Stöhnen. Jeder normale Mensch wäre in so einer Situation dankbar, dass er unterstützt wird. Aber mich nervte das ganze. Egal, wie viel Mitleid ich bekam, niemand konnte mir meine Mutter zurückgeben, also könnten sie es auch lassen.
Ich schob alle Gefühle, alle Gedanken und jede Hoffnung in die hinterste Ecke in meinem Kopf und machte mich auf den Weg zur Schule. Unterwegs traf ich untere Nachbarn, die gerade vom Einkaufen zurück kamen. Sie sprachen mich an, erzählten mir, wie leid es ihnen tue und dass ich jederzeit zu ihnen kommen könnte. Doch das war mir alles egal. Ich wollte einfach nur weg; weg von den nervigen Leuten; weg von den Erinnerungen.
In der Schule wurde es nicht besser. Die einen zeigten Mitleid mit mir und die anderen spotteten, dass ich nur Aufmerksamkeit wollte. Den Unterricht brachte ich schweigend hinter mich. Ich redete nicht, ich beantwortete keine Fragen, ich schaute einfach nur aus dem Fenster. Die Lehrer schimpften mit mir oder machten sich Sorgen, doch ich ignorierte sie.
In der Mittagspause begab ich mich in die Cafeteria, um mir etwas zu kaufen - ich hatte vergessen, etwas mitzunehmen. Ich setzte mich an einen Tisch in der Ecke. John wusste zum Glück nicht, dass ich hier war. Er hatte mich die ganze Zeit lang ausgefragt. Das nervte tierrischst.
Von meinem Tisch aus hatte ich eine gute sich über die gesamte Cafeteria. Selbst beim Essen unterteilten sich die Schüler in Gruppen.
Plötzlich ertönte eine Durchsage, dass sich bitte alle Schüler in der Aula treffen sollen. Die Cafeteria leerte sich langsam und auch das Gemurmel würde leiser. Als fast alle Schüler weg waren, stand ich auf, nahm mein gekauftes Brötchen und verließ auch die Cafeteria.
Die Aula war riesig, so das alle Schüler darin unterkamen. Ich suchte mir einen freien Platz und ließ mich lautlos auf den Stuhl fallen. Mein Blick fiel auf die Größe Leinwand, die an einer Seite angebracht war. Also würden wir etwas anschauen. Vielleicht einen Film oder so. Die Schule ließ ihre Schüler gerne irgendwelche Dokus schauen, aber dass alle Schüler da waren, war schon etwas verwunderlich. Sonst wären es immer nur ein paar Klassen, vorzugsweise 10. Klasse und aufwärts.
Alle starrte auf die Leinwand, flüsterten und fragten sich vermutlich, genauso wie ich, was das hier werden sollte.
Dann wurde plötzlich das Licht gedimmt und nur ein Scheinwerfer richtete sich auf die Bühne, vor der Leinwand. Ein Schüler, vermutlich 11. oder 12. Klasse, trat ins Scheinwerferlicht. Ich kannte ihn - Er war der Schülersprecher; ein sehr hohes Tier und ziemlich beliebt unter den Schülern. Er könnte irgendetwas befehlen und alle würden es tun; er könnte etwas sagen und alle würden es glauben. Eigentlich stand er, vom Einfluss her, direkt unter dem Schulleiter, was super passte, da er der Sohn des Schulleiters war. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die beiden auf eine dumme Idee kämen, dann müsste die gesamte Schule darunter leiden.
Der Schülersprecher räusperte sich und sofort war es mucksmäuschenstill in der gesamten Aula. Keiner traute sich, irgend ein Geräusch zu machen, manche hielten sogar die Luft an.
„Liebe Schülerinnen und Schüler. Wie ihr sicher wisst, bin ich euer hoch angesehener Schülersprecher. Ihr fragt euch sicher, warum wir uns hier versammelt haben. Lasst es mich euch erklären.
Wie ihr wisst, ist unsere Gesellschaft sehr tolerant gegenüber anderen. Doch was wir nicht tolerieren, ist Homosexualität!", meinte er mit fester Stimme. Irgendwie ist es schon traurig, dass unsere Schule so homophob ist. Dabei kann doch niemand etwas für seine Sexualität. Aber das liegt vermutlich daran, das die meisten Schüler Christen sind.
„Leider... Leider ist mir zu Ohren gekommen, dass es einen homosexuellen Schüler an unserer Schule gibt. Er wurde mehrfach im Umgang mit einem anderen Schüler gesehen und es gibt auch ein Beweisfoto." nachdem er das gesagt hatte, nahm er eine Fernbedienung und drückte auf einen Knopf. Der Biemer fuhr langsam hoch und die Stimmung im Raum wurde immer angespannter. Als langsam ein Bild erschien, kehrte Stille in der Aula ein. Das Bild war nich sehr unscharf, dich man erkannte, dass es sich um einen Toilette-Vorraum handelte. In der Mitte könnte man zwei Personen erkennen, wobei diese eine mit dem Rücken zur Kamera stand und nur das Gesicht der anderen langsam erkennbar wurde.
Und natürlich, wie es auch kommen musste, war ich die Person, die auf dem Foto sichtbar wurde. Ich erinnerte mich noch gut daran, das war nach dem Elterngespräch in der Schule. Ich musste aufs Klo und dann kam Erik rein. Aber außer uns war doch gar niemand mehr in der Schule, schließlich war es schon Abend gewesen. Aber doch, einen Person war noch da gewesen. Jemand, dessen Eltern streng gläubig waren. Jemand, dem ich sowas niemals zugetraut hätte, doch es gab keine andere Möglichkeit. Es müsste John gewesen sein. Er war kurz vorher dort, um mich zu holen, damit wir gehen konnten. Vielleicht war er nochmal zurück gekommen oder so. Auf jeden Fall müsste er es gewesen sein. Während meiner Gedankengänge hatte ich nicht bemerkt, dass mich alle anschauten. Doch, Dank der Kälte in meinem Körper, war es mir egal. Es war mir auch egal, dass mein Ruf nun komplett im Arsch war und es war mir egal, dass Erik mich entschuldigent anschaute. Ihn könnte man natürlich nicht erkennen, sonst hätte der Schülersprecher - zufälligerweise gleichzeitig ein Freund von Erik - dieses Foto niemals öffentlich gemacht.
Es war totenstill in der Aula, als ich mich von meinem Stuhl erhob. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, bis ich John entdeckte. Er hatte die Hände in seinen Stuhl gekrallt und starrte regungslos auf den Boden. Ich hingegen drehte mich um und verließ die Aula.
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