19.
Der Gang war rammel voll, obwohl der Unterricht jeden Moment anfangen würde. Mit beiden Armen schütze ich keinen Körper, während ich mich durch die Massen drängelte. Erik, der bis vor kurzem noch vor mir lief, war irgendwo in der Menge verschwunden, weshalb ich nur, ab und zu, seine Haare sah. Ich legte einen Zahn zu, um ihn wieder einzuholen, doch er war einfach zu schnell und hatte noch nicht bemerkt, dass ich weiter hinten war. Als es zur Stunde klingelte, lichtete sich das Gedränge ein wenig. Ich nutze die Chance, schlüpfte an den letzten Schülern vorbei und kam keuchend am Zimmer an. Erschöpft stütze ich meine Hände auf meine Knie und schloss die Augen.
„Da bist du ja endlich.”, ertönte es über mir und genervt schaute ich zu Erik, der von oben auf mich heran grinste.
„Du hättest mir ja mal helfen können!”, zischte ich nur.
Natürlich hatte er es leichter. Schließlich hatten alle Angst vor ihm und machten deshalb sofort Platz, sobald er kam.
„Soll ich dich ab jetzt tragen, meine Königin...?”, lächelte er mich unschuldig an und tätschelte mir den Kopf.
Schnaufend schlug ich seine Hand weg und ging, an ihm vorbei, ins Zimmer. Der Grund, für den regen Betrieb auf den Gängen, war das Schulfest, welches morgen stattfinden sollte. Alle waren schon mächtig aufgeregt, denn dieses Jahr wurde das Schulfest erstmalig von den Schülern organisiert. Dank meiner häufigen Abwesenheit in den letzten Tagen, wurde ich nicht mit zum Organisieren beordert.
Schnell setzte ich mich auf meinen Platz, der, wie alle anderen auch, mit Girlanden geschmückt wurde. Die Schüler hatten sich mächtig Mühe gegeben, ein gutes Fest daraus zu machen. Doch in meinen Augen war das alles nur verschwendete Zeit. Was war an einem Schulfest schon so toll, als das man mehrere Tage zum Organisieren verschwendete. Langsam trudelten auch die anderen ein und der Unterricht ging, mit aufgeregtem Getuschel, los.
Den ganzen Tag über gab es kein spannenderes Gesprächsthema mehr. Nicht nur der Unterricht, sondern auch die Pausen und jede frei Minute wurde zum Informationsaustausch benutzt. Erik, der, entgegen meiner Erwartungen, mit viel Vorfreude auf das Fest blickte, beteiligte sich andauernd an den Gesprächen. Währenddessen saß ich nur daneben und beobachtete alle, wie sie die letzten Vorbereitungen trafen.
„Gehst du morgen eigentlich mit mir zum Schulfest?”, fragte er plötzlich und riss mich damit aus meinen Gedanken.
Verwirrt schaute ich ihn an, bis ich den Inhalt seiner Frage verstand. Sofort zeigte ich ihm einen Vogel.
„Vergiss es. Ich geh' doch nicht auf dieses behinderte Fest!”
Mit einer bettelnten Schnute und großen Augen schaute er mich an. Mein Herz wurde sofort weich, doch ich hatte nicht jahrelang geübt, um jetzt auf so einen einfachen Hundeblick reinzufallen. Schnell drehte ich mich weg, um nicht dich noch nachzugeben und sagte, mit fester Stimme:
„Nein, ich will da nicht hingehen. Find dich damit ab oder geh alleine!”
Enttäuscht drehte Erik sich weg und beteiligte sich wieder eifrig an den Vorbereitungen. Und Mal wieder faszinierte mich, wie facettenreich sein Charakter doch war. Zum einen konnte er ein richtiger Badboy sein, mit allem, was da halt dazugehörte. Aber er konnte auch unglaublich gefühlvoll und romantisch sein. Und jetzt war er sogar wie ein kleines Kind - aufgedreht und verspielt. Zunehmend fragte ich mich, welcher dieser Charakterzüge sein richtiger war. Oder waren vielleicht alles Teile seines kompletten Charakters. Doch wie konnte er so schnell zwischen diesen unterschiedlichen Zügen wechseln. Verwirrt probierte ich wieder in die Realität zu kommen und als sich meine Augen wieder fokussiert hatten, starrte ich direkt in Erik seine. Ein leichtes Grinsen - ich wusste nicht, ob er sich freute, dass ich ihm Aufmerksamkeit schenkte, oder ob er zweideutig dachte - schlich sich auf seine Lippen. Daraufhin stand er auf und ging zur Essensausgabe, während ich ihm mit meinen Augen einmal quer durch die Cafeteria folgte. Fröhlich pfeifend kam er zurück und stellte ein Tablet vor meiner Nase ab.
Verwirrt schaute ich ihn an, als er nach einer Pommes griff und schob das Tablet zu ihm, damit er essen konnte. Doch stattdessen gilt er mir die Pommes hin und wartete darauf, dass ich sie direkt aus seiner Hand aß. Dass wir von mehreren Schülern abgestattet wurden, schien ihn dabei nicht zu stören. Vorsichtig beugte ich mich vor und nahm die Pommes zwischen meine Zähne; versuchte, ihn partout nicht zu berühren. Leicht lächelnd hielt er mir die nächste hin und auch diese nahm ich wieder. Ich probierte, mich nur auf ihn zu konzentrieren, um die Blicke der anderen besser ausblenden zu können. Leise vernahm ich Getuschel aus dem Raum, aber ich wollte mir den perfekten Moment nicht zerstören lassen. Erik fütterte mich bis zu letzten Pommes, dabei aß er selber keine. Schlussendlich sah er trotzdem so aus, als hätte er eine rießen Portion gegessen, denn er strahlte bis über beide Ohren.
Langsam schlenderten wir über den Schulhof. Die Sonne schien und endlich fühlte es sich auch so an, als wäre Sommer. Schließlich rückten die Ferien immer näher.
„Hast du in den Ferien schon was vor?”, erklang Erik's Stimme neben mir. Als ich zu ihm sah, versuchte er verzweifelt, seine Haare aus seinem Gesicht zu streichen. Doch jedes Mal fuhr der Wind wieder in die Strähnen und wirbelte sie durcheinander. Leicht drehte ich mich zu ihm und strich ihm eine Strähne hinters Ohr; so, dass sie auch dort blieb. Schlagartig errötete er und als mir meine Tat bewusst wurde, könnte ich auch nicht ganz neutral bleiben. Ich starrte ein paar Minuten lang in die Ferne und nutzte die Stille, um mich wieder zu sammeln. Als ich erneut zu ihm sah, lächelte er verträumt vor sich hin. Kurzzeitig hatte ich das Gefühl, dass ich ihn gerade wieder ganz neu kennengelernt hatte.
„Nicht das ich wüsste. ”, antwortete ich nun endlich auf seine Frage. Anscheinend hatte er auch schon wieder vergessen, dass er sie gestellt hatte, denn er schaute mich verwirrt an.
„Ferien. Ich hab noch nichts geplant.”, sagte ich schnell, um mich zu erklären.
Verstehend nickte er.
„Vielleicht können wir uns ja mal treffen...”
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch und schaute ihn fragend an.
„Natürlich nur, wenn du willst...”, schob er noch schnell hinterher und sah mich hoffnungsvoll an. Leicht musste ich lächeln, weil er so niedlich war.
„Klar.”, damit gingen wir schweigend weiter.
Unsere Hände hatten sich schon vor längerer Zeit gefunden und mein Daumen streicht vorsichtig über seine Haut. Obwohl es relativ warm war, war seine Hand kalt und seine Fingerspitzen fühlten sich an, wie Eisklötze.
„Meine Hände sind immer ziemlich kalt.”, erklärte er, nachdem ich ihn darauf ansprach.
„Aber jetzt habe ich ja dich, damit du mich wärmst.”, lachte er und auch ich stieg mit ein.
Als wir bei mir Zuhause ankamen, wartete er schon ungeduldig, dass ich die Tür auf schloss.
„Willst du jetzt jeden Tag zu mir kommen, nur um mit mir zu kuscheln?”, fragte ich und kramte nach meinem Schlüssel.
„Klar. Du bist immer so schön warm und bequem.”, dabei lächelte er, wie eine schlafende Katze und schmiegte seine Schulter sogar leicht an meiner. Grinsend öffnete ich die Tür und trat ins Innere. Sofort nachdem ich meine Schuhe ausgezogen hatte, lief ich zum Fenster. Ich riss es auf und atmete die, mehr oder weniger, frische Luft ein. Dank des kurzfristigen Wetterumsturzes und der Tatsache, dass ich nie lüftete, war es im ganzen Haus stickiger, als in einer Sauna. Erik stellte sich neben mich, aber mehr an die Wand, um den leichten Wind nicht abzubekommen. Fragend schaute ich ihn an.
„Ich bin durch und durch ein Wärmemensch. Ich friere sogar schon bei Werten um die 20°.”, erklärte er.
Verstört schaute ich ihn an. Wie konnte man bei solchen Temperaturen nur frieren, während manche Menschen sogar schwitzten.
„Lass mich raten, deine Lieblingsjahreszeit ist der Sommer.”
„Japp. Und ich bin im Hochsommer geboren. Das hat mein Temperaturempfinden bestimmt auch beeinflusst.”, ob er das ernst meinte oder nicht, wusste ich nicht, doch ich sagte einfach nichts dazu. Weiter starrten wir gemeinsam aus dem Fenster, genossen die Ruhe und auch die Anwesenheit des anderen. Irgendwann spürte ich Erik's Kopf auf meiner Schulter und ein leises Grummeln drang an mein Ohr.
„Bist du müde?”, fragte ich leise, um die Spannung nicht zu zerstören. Er rieb seinen Kopf leicht an meiner Schulter, was ich als ein Nicken deutete. Langsam wendete ich mich vom Fenster ab und führte ihn zum Sofa. Sofort schlief er ein, nachdem er sich hingelegt hatte. Still saß ich im Sessel, ihm gegenüber, und beobachtete ihn. Er atmete ruhig und gleichmäßig; sah dabei sogar ein bisschen aus, wie ein Baby. Leicht musste ich lächeln, bei dem Gedanken und fragte mich, wie er wohl als kleines Kind aussah. Vielleicht sollte ich ihn mal nach Fotos fragen. Bei der Gelegenheit könnte ich auch gleich seine Familie kennenlernen. Wie seine Eltern wohl so waren. Vielleicht waren sie ja voll streng und er hatte deshalb Angst, sich zu outen. Und was war mit seiner Schwester. Wie hatte sie ausgesehen. Fragen über Fragen und die einzige Person, die diese beantworten konnte, lag schlafend vor mir auf der Couch.
Langsam Strecke ich mich. Ich hatte wohl doch längst hier gesessen, als ich dachte. Vorsichtig erhob ich mich und deckte Erik zu. Plötzlich griff er nach meinem Handgelenk und zog mich zu sich.
„Bleib hier...”, sagte er und schaute mich dabei verschlafen an. Leicht rutschte er an die Rückenlehne der Couch, um mir etwas Platz zu machen. Doch die Aufregung ließ mich so sehr zittern, dass ich mich nicht traue, mich zu ihm zu legen.
„Ich setze mich da drüben auf den Sessel, ok?”, fragte ich leise.
Unzufrieden grummelte er, gab auch dann aber trotzdem geschlagen. Vorsichtig setzte ich mich wieder von und beobachtete ihn weiter.
Irgendwann - ich war schon kurz davor, selbst einzuschlafen - öffnete sich die Haustüre und mein Vater trat herein. Wäre ich nicht so müde gewesen, dann wäre ich sofort aufgesprungen. Er war mehrere Tage nicht Zuhause gewesen und ich hatte noch ein paar Anschuldigungen, ihm gegenüber. Er betrat das Wohnzimmer und starrte mir direkt in die Augen. Keiner von uns beiden wollte das unausgesprochene Blickduell verlieren, doch irgendwann drehte er seinen Kopf in Erik's Richtung und musterte ihn. Es beginnt eine Weile, in der niemand etwas sagte und ich erwartete auch nicht, dass er irgendetwas sagen würde. Dich dann schaute er mich wieder ab und fragte mit ernster Stimme:
„Wer ist das?”
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