17.

Den ganzen Morgen über kam mein Vater nicht zurück. Ich hatte gestern Abend noch gehört, dass er das Haus verlassen hatte. Er wirkte gestern Abend extrem wütend, aber ich war ja auch wütend gewesen. Ich war auch jetzt noch wütend. Dass er mich einfach geschlagen hatte. Er war noch nie so ausgerastet; bis jetzt hatte meine Mutter ihn ja immer beruhigt. Aber so schlimm war er trotzdem nie. Und die Erinnerung, dass er mich geschlagen hatte. Das machte mich gleich noch wütender. Ich probierte, nicht noch mehr darüber nachzudenken - schließlich hatte ich jetzt schon das Bedürfnis, gegen eine Wand zu schlagen.
Auf dem Weg zur Schule dachte ich - mal wieder - an Erik und seine Veränderung. Er wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen; egal was ich tat. Wütend, über meine Gedanken, trat ich die Steine weg, die auf dem Weg lagen. Sie hüpften durch die Gegend und landeten dann auf der Straße. Wenn die Autos über die kleinen Kiesel fuhren, dann knirschte es jedes Mal und manchmal flogen die Steinchen an der Seite wieder auf den Gehweg. Fasziniert beobachtete ich, wie ein kleiner Vogel - die Vogelart war mir ungewiss - auf die Straße flog und einen der Steine in den Schnabel nahm. Er schüttelte seinen Kopf und sein Gefieder; warf den Stein aber wieder auf die Straße, bevor er weg flog.

Ich kam ein paar Minuten zu spät, weil ich auf dem Weg getrödelt hatte. In letzter Zeit hatte ich die Schule irgendwie ziemlich vernachlässigt. Den Lehrer - irgendein Vertretungslehrer - störte das überhaupt nicht, er ignorierte mich einfach und machte weiter, mit dem Unterricht. Ausnahmsweise schaffte ich es sogar, mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Mündlich war ich zwar nicht so gut - ich meldete mich fast nie -, dafür hatte ich aber den Großteil der Aufgaben richtig. Ein bisschen stolz war ich schon, als der Unterricht zuende war und ich fast keine Fehler gemacht hatte.
Müde legte ich meinen Kopf auf dem Tisch ab; wartete, bis alle anderen das Zimmer verlassen hatten. Ich hob meinen Kopf wieder; schaute aus dem Fenster. Auf dem Schulhof standen schon ein paar Schüler und immer mehr strömten nach draußen. Die Geräusche drängen nur gedämpft zu mir, bis ich das Fenster öffnete und den Kopf raus streckte. Der Wind blies mir warm in's Gesicht und die Sonne blendete. Es war eindeutig wärmer geworden, als die letzten paar Tage. Ich schloss meine Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und lauschte einfach nur den Geräuschen. Da ich im zweiten Stock war, konnte ich die Stimmen ziemlich gut hören und auch einzelne Gesprächsfetzen erhaschen.

„Dieser... Ich hasse ihn... Immer schlechte Noten... Doofer Lehrer”, hörte ich eine weibliche Stimme. Vermutlich beschwerte sie sich über einen Lehrer. Amüsiert drehte ich meinen Kopf in eine andere Richtung, um auch ein anderes Gespräch zu belauschen. Diesmal war die Stimme viel lauter, wodurch ich alles verstehen konnte:

„Ja, er hängt nur noch mit ihm ab... Er ist so verweichlicht; er und diese Schwuchtel!”, erschrocken, über diesen spottenden Ton, öffnete ich meine Augen. Direkt an der Wand unter dem Fenster stand eine Gruppe Jungs. Sie fingen an zu lachen, nachdem der, der gesprochen hatte, endete. Der Junge, der gegenüber von der Wand stand, schaute beim Lachen nach oben und entdeckte mich. Er hörte auf zu lachen und sagte irgendwas zu seinen Freunden; lächelte spöttisch. Sofort schossen alle Köpfe nach oben und grinsten mich gemein an.

„Na Schwuchtel, hast wohl niemanden zum anmachen...?”, rief einer von ihnen und ich erkannte seine Stimme sofort; er hatte auch vorher schon über mich geredet. Genervt zeigte ich der Gruppe meinen Mittelfinger und drehte mich vom Fenster weg. Gelangweilt spielte ich ein bisschen an meinem Handy, bis die Pause wieder zuende war.

Den ganzen restlichen Tag war ich unaufmerksam; starrte nur aus dem Fenster. Dabei dachte ich aber nicht nach - im Gegenteil; ich hatte es endlich geschafft, alle Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Diese Ruhe in meinem Kopf ließ auch meinen Körper ruhig werden und am Ende des Schultages fühlte ich mich ausgeschlafener, als jemals zuvor in meinem Leben. Fröhlich machte ich mich auf den Nachhauseweg. Dass mich jemand verfolgte war mit schon klar, als ich die Schule verließ und mir war auch klar, wer es war.

„Wenn du mich jetzt bis nach Hause verfolgen möchtest, dann hättest du auch einfach fragen können.”, sagte ich spöttisch; wusste, dass er es gehört hatte. Beschämt trottete Erik neben mich; schaute errötet auf den Boden.

„Woher wusstest du, dass ich es war?”, fragte er leise. Offensichtlich war es ihm peinlich.

„Man hört es an deinem Gang... Du schleifst mit deinem einen Fuß immer über den Boden...”, ich zuckte mit den Schultern. Erstaunt schaute er mich, mit großen Augen, an.

„Das ist dir aufgefallen...?!”, er probierte gar nicht, seine Verwunderung zu verstecken.

„Natürlich, schließlich verfolgst du mich ja auf Schritt und Tritt.”, ertappt schaute er wieder auf den Boden. Die nächsten Minuten liefen wir einfach schweigend nebeneinander her. Der leichte Wind bließ mir warm ins Gesicht und wirbelte meine Haare durcheinander. Die Strähnen hingen in mein Gesicht; kitzelten meine Nase. Plötzlich spürte ich etwas warmes an meiner Hand - Erik's Hand. Ich schielte leicht zu ihm und sah, wie er errötet den Kopf weg drehte. Das hatte er heute schon ziemlich oft getan. Ich wartete ein bisschen, ob er noch irgendetwas tut, doch es blieb ruhig neben mir.

Also drehte ich mich gespielt genervt zu ihm um:„Jetzt nimm schon meine Hand!” Er zögerte kurz, doch dann griff er schnell nach meiner Hand und verschränkte unsere Finger miteinander.

„Und schau' mich nicht so perplex an...”, meckerte ich weiter, konnte mir ein Lächeln aber nicht verkneifen. Hand-in-Hand liefen wir bis zu mir nach Hause. Kurz zögerte ich, als wir das Grundstück betraten - wie er wohl über mein Zuhause dachte? Doch dann gab ich mir selbst einen Ruck und ging zum Haus. Ich musste ihn sogar ein bisschen hinter mir her ziehen, weil er ganz im Aussehen unseres Gartens vertieft war. Ich schloss die Tür auf und horchte erstmal kurz ins Haus - niemand da. Erleichtert öffnete ich die Tür ganz und trat ein. Ich musste Erik's Hand los lassen, um mir meine Schuhe auszuziehen. Als ich mich wieder nach oben beugte, sah er mich ganz beleidigt an. Belustigt stöhnte ich, sagte aber nichts dazu und zeigte nur auf seine Schuhe. In Windeseile hatte er sie auch ausgezogen und wir gingen die Treppe hoch, in mein Zimmer. Fasziniert schaute Erik sich in meinem Zimmer um; musterte jedes Detail, jeden Winkel, sogar den Riss in meiner Zimmerdecke. Danach ging er langsam zum Bett und starrte dieses an.

„Du kannst dich schon Mal hin setzten... Ich geh nochmal schnell aufs Klo. Mach's dir gemütlich.”, sagte ich zu Erik; sah noch, wie er sich angespannt auf's Bett setzte, bevor ich das Zimmer verließ.

Nach zehn Minuten verließ ich das Bad wieder. Ich war nicht nur auf dem Klo gewesen - ich hatte mich auch kurz sammeln müssen. Die Tatsache, dass Erik in meinem Haus war, ließ mich nicht so kalt, wie ich gedacht hatte. Ehrlich gesagt, interessierte mich sogar seine Meinung und das hatte es bis jetzt noch nie getan. Ich atmete noch einmal tief ein, bevor ich wieder mein Zimmer betrat. Erik saß immernoch steif und angespannt auf meinem Bett. Starrte aus dem Fenster. Hatte sich keinen Millimeter bewegt. Ich beobachtete ihn noch kurz, im Türrahmen stehend, bevor ich mich langsam in seine Richtung bewegte. Anscheinend hatte er mich nicht bemerkt, denn er zuckte heftig zusammen, als ich mich neben ihn setzte. Erschrocken schaute er mich an, drehte seinen Kopf dann aber peinlich berührt zur Seite. Ich seufzte, schaute dann aber auch nach vorne. Und wartete. Wartete. Und es passierte nichts.
Nach einer Weile - anfangs hatte ich die Sekunden, anhand des Tickens der Uhr, mitgezählt, doch irgendwann wurden es zu viele - griff Erik nach meiner Hand. Ich schaute zu ihm, doch er schaute mich nicht an; sagte nichts; tat nichts. Still saßen wir weiterhin so da. Genoßen die Gesellschaft des anderen.
Mein Rücken schmerzte schon seit längerem, durch das Stille sitzen, doch ich wollte mich nicht bewegen und die angenehme Stille unterbrechen. Doch irgendwann hielt ich es nicht mehr aus; ich ließ mich einfach nach hinten auf's Bett fallen. Dabei zog ich Erik mit mir mit, wobei dieser mit seinem Kopf auf meiner Brust landete. Schmerzerfüllt zischte ich auf. Zuerst wollte ich ihn weg schieben, doch dann drehte er sich plötzlich auf die Seite und machte es sich auf meiner Brust gemütlich. Verdattert schaute ich ihn an; wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht finden sollte. Wieder trat eine Stille ein, doch plötzlich empfand ich sie nicht mehr als so angenehm. Plötzlich war es mir eher peinlich.

„Warum wolltest du eigentlich mit zu mir nach Hause kommen?”, fragte ich schnell - meine Stimme war ganz rau durch die Anspannung - und unterbrach damit die Stille. Ich hatte das Gefühl, meine Frage echote minutenlang im Raum, bis Erik endlich antwortete.

„Weiß nicht... Ich wollte einfach Mal sehen, wie es hier so ist... Und ich wollte kuscheln.”, dabei schaute er ganz unschuldig zu mir und lächelte. Verwirrt schaute ich ihn an; wusste nicht, was ich sagen sollte. Langsam stütze er sich neben mir ab. Sein Gesicht kam meinem immer näher und ich hatte ein bisschen Angst, er würde mich küssen. Eigentlich wäre Küssen kein Problem - ich hatte weder Angst davor, noch Ekel. Doch mir war, seit er anfing meine Hand zu halten, klar, dass ich ihm gnadenlos verfallen würde, sobald wir uns küssten. Ich merkte diese, langsam aufsteigenden, Gefühle deutlich und ich hatte auch kein Problem damit, mich zu verlieben - wenn ich bedachte, wie schnell ich ihm mein Herz schenken würde, obwohl er mir so viel schlechtes angetan hatte, dann bekam ich sogar ein bisschen Angst vor mir selbst. Doch ich wollte, bevor ich diese Gefühle zuließ, erst sicher gehen, dass er es auch wirklich ernst meinte. Mir war klar, dass Liebe nicht unendlich lang halten musste, doch ich wollte nicht, dass er mir mein naives Herz brach, kurz, nachdem ich es ihm anvertraut hatte.
Doch glücklicherweise stoppte er, eine Hand breit, vor meinem Gesicht und starrte mir einfach in die Augen. Langsam fing er an, mein komplettes Gesicht zu mustern. Er schaute mich an, als würde er mich nie wieder sehen und müsse sich jedes Detail einprägen.

„Du bist so unglaublich... Unglaublich schön.”, hauchte er. Ich konnte ihn einfach nur angucken; erstarrt wie Eis. Was sollte man auch in so einer Situation sagen? Dann fing er glücklich an zu lächeln und machte es sich wieder auf meiner Brust bequem.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top