15.
Der Morgen danach...
Es gibt viele unterschiedliche ‚Morgen danach', je nach dem, was davor passiert ist. Doch, egal was vorher passiert ist, eigentlich gibt es doch nur zwei Möglichkeiten, wie der Morgen danach aussieht. Entweder es ist ein wunderschöner Tag; alle Probleme gelöst. Oder es ist ein scheiß Tag.
Bei mir war es leider Zweiteres. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, sondern nachgedacht. Nachgedacht über gestern; ob ich bereit war; bereit für einen Kuss. Die Zweifel - über seine kurzfristige Veränderung und, ob er mich vielleicht nur verarscht - begleiteten mich überall mit hin und bauten, sobald wir uns näher kamen, eine dicke Mauer zwischen uns. Doch das störte mich nicht - eigentlich fand ich es sogar ziemlich gut. Denn die Zweifel, die immer an mir nagten, beschützen mich vor unüberlegten Taten; vor Naivität; vor Verletzungen.
Und trotzdem, obwohl ich Erik mit Misstrauen gegenüberstand, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich hatte ihn dort einfach stehen lassen; ohne Erklärung. Vielleicht sollte ich ihm sagen, warum ich weg gerannt war; weg gerannt wie ein Angsthase - etwas, wofür ich mich im Nachhinein sogar schämte. Doch wollte ich das überhaupt; wollte ich mich vor ihm rechtfertigen? Eigentlich müsste er wissen, warum ich gegangen war.
Nachdem ich mich aus meiner Bettdecke gepellt hatte - und dabei fast auf den Boden klatschte - schlurfte ich ins Bad. Das Grusel-Gesicht, das mir im Spiegel entgegenschaute, zog meine Laune gleich noch mehr runter. Meine allwährenden Augenringe waren um ein Vielfaches gewachsen und hatten sich von hellblau zu lila verdunkelt. Meine Haare standen in alle Richtungen, obwohl das keine Besonderheit war. Meine Augen - rot unterlaufen und glasig - lagen müde in meinen Augenhöhlen und ich hatte das Gefühl, sie würden gleich raus fallen. Meine Unterlippe war an manchen Stellen mit Blut bedeckt - ich sollte mir endlich angewöhnen, immer darauf herum zu kauen. Ich putze meine Zähne - sogar zweimal, um den eckelhaften Geschmack aus meinem Mund zu bekommen und ging schnell duschen, um wach zu werden - doch ich fühlte mich immernoch, wie ein alter Sack Kartoffeln. Müde und frustriert zugleich, ließ ich mich auf mein Bett fallen. Lustlos - obwohl das eine maßlose Untertreibung war - starrte ich an die Decke. Der kleine Riss, der es in den letzten Jahren geschafft hatte, sich um das Dreifache zu vergrößern, reichte jetzt von der einen Ecke diagonal bis zur anderen. Und auch die Wände hatten kleine Risse, an denen manchmal Putz abblätterte. Vielleicht sollte ich Mal mein Zimmer renovieren. Nicht nur die Wände hatten einen neuen Anstrich nötig - auch die Möbel waren schon uralt. Mein Schrank hatte zwei Löcher in der Wand, die ich als kleines Kind da rein gebohrt hatte und die Ecken waren schon ganz abgerundet.
Nachdem ich drei Brötchen in mich rein gestopft hatte - um irgendwie die Kraftlosigkeit zu verdrängen - machte ich mich fertig für die Schule. Eigentlich war ich fast eine Stunde zu früh dran, da ich sehr früh aufgestanden war, doch das störte mich nicht. Schlussendlich war es aber gut, dass ich so früh aufgestanden bin, denn ich brauchte sehr viel länger für den Schulweg, als normalerweise.
Eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn betrat ich das Schulgebäude. Ein paar Schüler waren schon da, doch es herrschte immernoch Stille, die mich freudig in Empfang nahm. Sofort lief ich zum Unterrichtsraum, der leider noch nicht offen war, wodurch ich draußen warten musste. Ich spielte ein bisschen auf meinem Handy rum, bis sich ein Schatten in mein Sichtfeld legte. Zuerst dachte ich, es wäre Erik, der mit mir wegen gestern reden wollte, doch dann wurde ich von einem anderen Jungen angelächelt. Er kam mir bekannt vor, doch ich hatte keine Ahnung, wo ich ihn schon Mal gesehen hatte.
„Hey...", auffordernd grinste er mich an; wusste anscheinend, wer ich war.
„Ähm... Hey...?", vorsichtig lächelte ich zurück; hoffte, dass er mir seinen Namen sagen würde.
„Alec... Erinnerst du dich...? Du hast mich vor Erik beschützt.", klärte er mich auf, immernoch lächelnd, aber kurzzeitig enttäuscht - vermutlich weil ich mich nicht mehr an ihn erinnerte. Doch jetzt wusste ich wieder, wer er war. Vor meinem inneren Auge lief die Schlägerei nochmal ab. Wie Erik auf Alex sprang und auf ihn einschlug; wie er mich erwischt hatte und dann abgehauen war; wie ich Alec komisch fand, weil er alles so entspannt gesehen hatte.
„Stimmt, ja... Du hattest vergessen, Erik's Hausaufgaben zu machen... Und... Was willst du jetzt von mir...?", der Typ war mir mehr als suspekt. Kam einfach nach ein paar Tagen zu mir und wollte sich unterhalten, oder was?!
„Also, erstmal wollte ich mich bedanken... Das hab ich zwar schon Mal gemacht, aber doppelt hält besser...", er fing an zu lachen, als hätte er einen superlustigen Witz erzählt. Verstört schaute ich ihn an.
„Und außerdem wollte ich einfach... Ein bisschen quatschen; meinen Retter kennen lernen."
Wir redeten eine Weile, bis wir beide zum Unterricht mussten. Nach diesem Gespräch war mir aber klar, dass er einen kleinen Knacks in der Schüssel hatte. Anstatt dass er auf Erik wütend wäre, fragte er mich, wie er sich am besten mit ihm anfreunden könnte, da Erik sich ja ziemlich oft bei mir aufhielt. Danach war ich so verstört von ihm, dass ich schnell probierte, dass Thema zu wechseln.
Im Unterricht starrte ich nur aus dem Fenster, was ich - wohlbemerkt - in letzter Zeit ziemlich oft tat. Und zum gefühlt, tausendsten Mal fragte ich mich, ob ich schwach war, ob ich zu schnell verzieh. Ich hatte Erik gesagt, er würde mich nicht bekommen; dass er sich aus meinem Leben raushalten soll und trotzdem dackelt er mir jetzt ständig hinterher und wollte mich sogar küssen. Und diese ganze Veränderung - die suspekter er nicht sein könnte - hat er durchlaufen, nur um mir zu gefallen. Nur, damit ich ihm verzeiehe; weil ‚er mich liebt'. Umso mehr ich darüber nachdachte, umso unwirklicher erschienen mir seine Taten - aber diese Gesichtsausdrücke, wie liebevoll er mich angeschaut hatte oder wie er vor Scham errötete, sowas konnte man nicht einfach spielen, zumindest nicht so gut. Ich war hin- und hergerissen. Einerseits wollte ich ihn hassen, für alles was er mir angetan hatte und auch, dass ich wegen ihm vor der ganzen Schule geoutet wurde - obwohl meine Sexualität gar nicht bewiesen war. Aber andererseits wollte ich ihm auch glauben; wollte glauben, dass er sich für mich ändert; dass er mich liebt.
Mein Kopf brummte schon unentwegt vom vielen Denken und ich hatte echt Angst, dass er explodieren würde. Also probierte ich, mich abzulenken; schaute zum Fenster hinaus. Der Wind wirbelte ein paar Blätter umher; sie bewegten sich in ihrem stillen Tanz, ließen sich von nichts aufhalten. Die Bäume wiegten sich leicht dazu - als würden sie das Schauspiel betrachten und applaudieren. Dafür, dass der Sommer schon vor ein paar Tagen angefangen hatte, lag immernoch ein Frühlings-Stimmung in der Luft. Die Temperaturen hielten sich noch im aushaltbaren Bereich und vereinzelt regnete es noch. Doch spätestens in den Sommerferien - die in knapp zwei Wochen beginnen würden - würde das Wetter sommerlicher werden; die Tage heißer und länger; die Nächte kurz. Doch wenn man beachtete, dass sich das Schuljahr schon dem Ende zuneigte, fühlte es sich überhaupt nicht so an. Meine Laune und auch die Vorfreude auf die Sommerferien hielten sich noch immer in Grenzen. Auch hatte ich nicht wirklich Lust, ein Zeugnis zu bekommen. Den Überblick über meine Noten hatte ich schon längst verloren und spätestens bei den Unentschuldigten Fehltagen würde mein Vater ausrasten.
Plötzlich wurde ich von etwas in die Wange gepieckst und schreckte hoch. Neben mir saß Alec und grinste mich fröhlich an.
„Na, du Tagträumer.", sein Grinsen wurde noch breiter, während ich hingegen eher genervter wurde. Seine Fröhlichkeit war ja fast zum kotzen.
„Was willst du...?", ich probierte, meine Stimme freundlicher klingen zu lassen, als ich mich eigentlich fühlte, aber er ignorierte meine schlechte Laune sowieso.
„Ich hab dich gesucht und weil du nicht auf dem Hof warst, kam ich hier her... Und du hast Besuch...", deine zeigte er über seine Schulter hinweg zur Tür. Dort stand Erik, mit dem Rücken zu uns. Seufzend stand ich auf und ging zu ihm. Dabei würdigte ich Alec mit keinem Blick mehr, weshalb ich auch nicht da, wie er uns kritisch hinterher schaute. Ich packte Erik, der immernoch mit dem Rücken zu mir stand und mich nicht bemerkt hatte, am Handgelenk und zog ihn mit auf den Schulhof in eine ruhige Ecke. Bevor ich mich hinsetzte, ließ ich ihn los und nach ein paar Minuten setzte er sich auch hin.
„Warum hast du mich nicht selber geweckt...? Du sitzt doch nur zwei Reihen vor mir...", fragte ich in die kurze Stille hinein, die entstanden war.
„Naja, ich-... Ich hab mich nicht getraut... Wusste ja nicht, wie du nach gestern reagieren würdest...",seine Stimme war leise und betreten schaute er zur Seite. Danach wurde es wieder still. Ich wusste nicht, wie ich jetzt fühlen sollte. Sollte ich wütend auf ihn sein, weil er mir keine Zeit gelassen hatte und ihn, hier und jetzt anschreien...? - Nein, das wäre unfair. Woher sollte er denn wissen, ob ich bereit war. Ich hatte ihm durch das Händchen-Halten falsche Signale geschickt und daher konnte ich ihn eigentlich gar nicht beschuldigen.
„Ich bin noch nicht bereit dafür...", ich flüsterte fast, als ich aussprach, worüber ich so lange nachgedacht hatte. Ich merkte wie er mich anschaute; auf eine Erklärung wartete, während ich nur den Boden anstarrte.
„Händchen-Halten ist ok... Aber Küssen-... Ich hab einfach Angst, dass du mich nur verarschst... Ich will dir ja glauben-", dabei schaute ich ihn in die Augen „- wirklich... Aber diese kurzfristige Veränderung... Das kommt mir alles noch ein bisschen zu schnell." Er schaute mich eine Weile an - verständnisvoll -, bevor er seinen Blick nachdenklich über den Schulhof schweifen ließ.
„Weißt du, ich war letzte Woche auf dem Friedhof bei meiner Schwester... Das war gleich nachdem wir im Theater waren... Ich hab ihr alles erzählt... Wie ich dich-", er schluckte und senkte seine Stimme, bis es nur noch ein Murmeln war „-... Wie ich dich angefasst habe... Und was ich dir in der ganzen Schulzeit angetan habe... Ich hab ihr auch erzählt, dass ich dich neu kennengelernt habe, dass du nicht mehr der kleine, schwache Junge warst, der alles ignoriert hat. Ich hab ihr erzählt, dass du angefangen hast, dich zu wehren und auch, wie du mir das erste Mal in die Fresse geschlagen hast-", bei dieser Erinnerung musste er lächeln und auch ich konnte mich noch gut dran erinnern „-... Und wäre Simon nicht gekommen, dann hättest du mich locker zu Brei geschlagen.", er lachte kurz, was aber schnell in ein ersticktes Husten überging.
„Mir war schon immer klar, dass ich dir unrecht tat, aber ich mochte es, diesen kleinen, unsicheren Jungen zu sehen. Das hat mir das Gefühl von Stärke gegeben. Dieses Selbstbewusstsein, das mir seit dem Tod meiner Schwester fehlte. Doch als du anfingst, dich zu wehren, da sah ich, wie stark du warst; stark, aber ohne körperliche Stärke. Ich war so neidisch darauf, dass du diese Demütigung so lang ausgehalten hast, dass du immer wieder aufgestanden bist. Und ab da wusste ich, dass ich auch so sein wollte. Dass ich stark sein wollte, ohne andere dafür verletzten zu müssen. Und in deiner Gegenwart, da hab ich mich anders gefühlt. Ich hatte nicht mehr dieses Gefühl von Überlegenheit, ich habe mich dir gleichgestellt gefühlt. Aber das war mir egal, in deiner Nähe war mir egal, wie schwach ich körperlich war oder wie wenig ich aushielt. Sobald ich dich sah, wie motiviert du warst, wie du mit erhobenem Kopf durchs Leben gingst und dich nichts endgültig zum Erliegen bringen konnte, da hab ich mich auch stark gefühlt. Zuerst dachte ich, dass ich bei jedem dieses Gefühl hatte, aber sobald ich mich von dir entfernte, sobald ich dich aus den Augen verlor, verschwand auch das Gefühl. Ich probierte in deiner Nähe zu bleiben, denn dann fühlte ich mich nicht mehr wie ein Vogel ohne Flügel; ein Vogel der schwach am Boden lag und keine Perspektive mehr hatte. Mit dir fühlte ich mich frei, war nicht mehr an die Trauer, über den Tod meiner Schwester, gefesselt. Und da wurde mir klar, dass ich mich in dich verliebt hatte.
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