14.
„Du kannst mich jetzt wieder loslassen. Ich kann auch alleine laufen!", merkte ich an, nachdem ich schon seit geraumer Zeit probiert hatte, mich aus seinem Griff zu befreien.
„Das bezweifel ich auch nicht..." erwiderte er nur gelassen.
„Und warum hältst du mich dann immernoch fest...? Hast du Angst, dass ich abhau', oder was?!", spöttisch musterte ich ihn. Er lief schräg vor mir, so, dass ich nur einen Teil seines Rückens sah. Doch trotzdem wusste ich, dass er stur nach vorne schaute, als hätte er ein genaues Ziel - das erkannte man an seinem Gang; gerade und pausenlos.
Seine Hand, die sich immernoch um mein Handgelenk schlang, verkrampfte kurz, als er anfing zu lachen. Schnell verstummte er aber wieder und schaute mich, leicht errötet, an.
„Also, eigentlich... Ja... Ich verstehe sowieso nicht, warum du das alles mitmachst...", seine Stimme klang unsicher und auch ein bisschen traurig. Warum?
„Ich hab doch gesagt, dass ich dir eine zweite Chance gebe... Aber wenn du mich schon festhältst -", ich legte meine Hand auf seine, die mich immernoch gepackt hielt „- dann wenigstens richtig... Mein Handgelenk ist schon ganz rot."
Ruckartig ließ er meinen Arm los, nur um eine Millisekunden später meine Hand in seine zu legen. Seine Hand war warm und größer als meine; es fühlte sich ungewohnt an. Ich probierte, die Zweifel und das Unwohlsein, welche in mir aufkeimten, zu ignorieren und konzentrierte mich nur auf seine Präsenz.
„Wo gehen wir eigentlich hin?", fragte ich, als ich wieder aus meiner „Ich-Muss-Mich-Sortieren"-Phase erwachte.
„Naja, also...", seine Ohren färbten sich rot. Warum war ihm das denn jetzt peinlich? War doch nur eine ganz normale Frage...?
„Hast du überhaupt ein Ziel?", ich zog eine Augenbraue hoch. War meine Menschenkenntnis so schlecht - sein Gang stand im Wiederspruch zu seinem Verhalten.
„Ja, also... Schon, irgendwie...", seine Stimme wurde immer leiser und endete in einem Flüstern.
„Hää...?!", mehr als diesen Ausdruck der Verwirrung brachte ich nicht heraus. Was war denn jetzt mit dem los? Sein Verhalten passte irgendwie nicht zur Situation.
„Also -", er seufzte ergeben „-, ich würde dir gerne etwas zeigen, aber... Ich bin mir nicht sicher, wie du es finden wirst... Eine andere Seite von mir...", sein Gesicht, das ich schon seit mehreren Minuten nicht mehr gesehen hatte, drehte sich nun noch weiter von mir weg. Ich lief schneller, um mich vor ihn zu stellen, doch er wollte mich partout nicht anschauen. Verzweifelt atmete ich aus, stellte mich aber wieder neben ihn, damit wir weitergehen konnten.
Seine Unruhe sprang auf mich über und die komischen Blicke der anderen Leute hier, die ich bis jetzt nicht bemerkt hatte, brannten sich plötzlich unangenehm in meinen Rücken.
Um die angespannte Stimmung etwas aufzulockern, erwiderte ich nach einer Weile: „Ich bin offen für neues... Es wird mir bestimmt gefallen."
Kaum merklich entspannte er sich ein bisschen, und hätte er mich angeschaut, dann hätte ich auch sein leichtes Lächeln bemerkt.
Wir liefen weiter in die Innenstadt; er - strikt und schnellen Schrittes; ich - eher planlos und umherirrend. Während wir so daherliefen, musterte ich die Umgebung. Ich war schon ein paar Mal in der Innenstadt gewesen - relativ selten, da ich die meiste Zeit Zuhause verbrachte - und doch fielen mir immer neue Sachen auf. Die Häuser, die, schnell betrachtet, keine Besonderheiten aufwiesen, waren so vielfältig, dass es mich schon oft zum Staunen gebracht hatte. Die Türen, die alle gleich wirkten, hätten unterschiedlicher nicht sein können - manche aus Holz, manche aber auch aus Kunststoff; bunt oder einfarbig; gleichmäßig oder mit Muster. Und selbst Türen, die in allen Kategorien gleich waren, wiesen trotzdem Unterschiede auf. Die eine Tür, die zu einem hellgrünen Mehrfamilienhaus gehörte, hatte - man erkannte es nur, wenn man genau hinschaute - einen kleinen Riss, der sich fast kreisförmig um den Türknauf zog. Das konnte ich allerdings nur bemerken, da ich direkt daran vorbeilief, um einem Ehepaar auszuweichen. Kurzzeitig ließ Erik dabei sogar meine Hand los, nur um sie danach noch fester und besitzergreifender zu umklammern.
Bei einer anderen Tür, einem hellbraunen Model aus Holz, zeichneten sich leichte Kratzspuren auf der unteren Hälfte ab - vermutlich Spuren einer Katze.
Ohne es zu bemerken - ich war ja gedanklich in der Welt der Türen versunken - waren wir auf dem großen Platz vor dem Rathaus angekommen. Die Pflastersteine, die den gesamten Platz bedeckten, waren teilweise ungleichmäßig gelegt und standen etwas nach oben, wodurch ich mehrmals stolperte. Erik hingegen lief weiterhin zielsicher über den Platz; wich allen Unregelmäßigkeiten geschickt aus. Als wir an einer Bank, am Rande des Platzes, ankamen, drehte er sich um und setzte sich hin. Dabei wurde ich - da wir uns immernoch an den Händen hielten - schwungvoll mit umgedreht und dann ruckartig nach unten auf die Bank gezogen. Erst wartete ich kurz, weil ich dachte, er würde etwas sagen. Doch als er nach mehreren Minuten weiterhin schwieg, ergriff ich doch das Wort:
„Und... Was genau wollen wir jetzt hier...?", gelangweilt starrte ich durch die Gegend und dann wieder zu ihm. Er hatte die Augen geschlossen, bewegte sich leicht im Takt der Musik, die von irgendwo her an meine Ohren drang.
Ohne die Augen zu öffnen, antwortete er: „Reden... Ganz in Ruhe; ungezwungen." Ungläubig starrte ich ihn an.
„Erzähl mir etwas über dich...", seine Stimme klang unglaublich ruhig und sein Körper war entspannt; er hätte jeden Moment nach hintenfallen und einschlafen können.
„Was soll ich dir denn erzählen... Hi, mein Name ist Tim und ich bin 16 Jahre alt...?!", verwirrt schaute ich ihn an; war mir seiner Absichten noch nicht ganz bewusst.
„Keine Ahnung, alles was man halt so wissen muss... Dein Lieblingsessen oder so... Ich will dich einfach näher kennenzulernen.", jetzt hatte er seine Augen doch geöffnet, schaute mich interessiert an.
„Ähm, also... Mein Lieblingsessen... Chilli con carne, aber ohne diese lila Bohnen - wie heißen die nochmal...? - Ach, keine Ahnung... Ist ja auch egal...", ein Lächeln hatte sich auf seinem Gesicht gebildet, während ich so dahergeredet hatte.
„Und, ja... Was kann man noch so erzählen... Meine Lieblingsfarbe ist rot, aber eher dunkelrot oder purpurrot...", gedanklich sah ich einen König vor mir. Einen König mit einer einfachen Krone und einem purpurroten Umhang.
„Dann, ähm... Lieblings-... Lieblingshobby - Warum grinst du so blöd? Ist etwas...?", er erschaute mir in die Augen und sein Grinsen war so breit, dass es schon gruselig wirkte.
„Nichts nichts, alles gut...", er probierte, ernst zu wirken, doch sein Lachen konnte er einfach nicht unterdrücken.
„Jetzt sag schon...", ruckartig schlug ich ihm auf den Bauch, so, dass er es nicht abwehren konnte. Lachen beugte er sich nach vorne und hielt sich den Bauch.
„Ok ok, also... Wie du das beschrieben hast, also das mit dem Essen und so, das war irgendwie... Niedlich", obwohl er immernoch nach vorne gebeugt war, konnte ich sehen, dass er ganz leicht errötete.
„Niedlich... Ich bin doch nicht niedlich...", ich probierte, ihn gereizt anzumotzen, doch auch ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
„Ich äußere mich dazu jetzt Mal nicht...", meinte er nur noch scherzhaft. Danach erzählte ich ihm noch ein paar Sachen über mich - von meinen Hobbys bis hin zu meiner Lieblingsmusik.
„Und was gibt es über dich so, was ich wissen sollte...?", fragte ich, nachdem ich gefühlt jede Minute meines Lebens erzählt hatte.
„Ähm, also... Meine Lieblingsfarbe ist blau, ich mag Lasagne und chinesische Nudeln, Hobbys - ich lese gern, auch wenn man es nicht erwartet und ich spiele Gitarre. Mein Musikgeschmack ist ziemlich umfangreich. Das einzige, was ich nicht mag sind Klassik und Jazz, damit kann ich mich einfach nicht anfreunden. Ja, ähm... Was soll ich noch erzählen...? -", er schaute in der Gegen herum und überlegte, bis er plötzlich erstarrte. Fragend schaut's ich ihn an.
„Es gibt da noch etwas -", seine Stimme war leise und rau, als er weitersprach „- Ich hatte Mal eine Schwester... Zwillingsschwester..."
„Hattest...?", vorsichtig schaute ich zu ihm. Ein trauriges Lächeln zierte seine Lippen... Seine schönen Lippen.
„Ja, sie ist vor zwei Jahren gestorben... Sie hatte eine Fehlbildung des Herzens und hat sich eine Krankheit eingefangen...", seine Augen waren glasig und er starrte in's nichts; schwelgte in Erinnerungen.
„Und... Hast du es verarbeitet?", ich konnte ihn nicht anschauen; wollte nicht seinen verletzten Ausdruck sehen.
Er antwortete nicht. Minuten lang antwortete er nicht. Starrte einfach nach vorne. Als ich die Stille nicht mehr aufhielt, drehte ich mich zu ihm. Erschreckt stellte ich fest, dass ihm eine Träne die Wange hinunter lief. Das passte nicht zu ihm; passte nicht zu dem Bild von ihm, das ich bis vor Kurzem noch im Kopf hatte. So hilflos, so verletzlich. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Sollte ich ihn trösten oder ihn umarmen; ihm sagen, dass alles gut wird... Nein, das wird es nicht. Ich drückte seine Hand, die immernoch mit meiner verschränkt war, um ihm zu zeigen, dass ich bei ihm war. Dass ich ihn sogar unterstützen würde, wenn er das denn wollte.
Plötzlich ließ er mich los und zog mich in eine enge Umarmung. Seine Arme schlangen sich um meinen Brustkorb und nahmen mir fast die Atemluft, doch das ignorierte ich - er hatte diese Umarmung einfach nötig. Still strich ich über seinen Rücken, während warme Tränen auf meine Schulter tropften.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, um ihn zu beruhigen. Der typische „Es-Wird-Alles-Gut"-Satz war im Moment wohl mehr als unangebracht. Doch wie konnte ich ihm helfen?
Ich hatte schon immer Probleme dabei, mich in andere Menschen hineinzuversetzen. Ich konnte viele Gefühle nicht erkennen, geschweige denn, nachvollziehen. Und auch jetzt, in diesem Moment, in dem viele Menschen Mitgefühl gezeigt hätten, spürte ich rein gar nichts. Es war ja nicht so, dass es mich freute. Ich wollte ja mitfühlend sein; ich wollte ihn trösten; wollte beruhigende Sachen sagen - doch ich konnte es einfach nicht. Denn ich fühlte dieses Mitgefühl nicht. Ich fühlte keine Trauer; konnte mir nicht vorstellen, was er in diesem Moment durchmachen musste. Und ich wollte auch nicht versuchen, ihn zu trösten. Denn ich wusste, dass ich irgendetwas falsches sagen und es dadurch nur noch schlimmer machen würde. Also sagte ich einfach nichts; blickte starr nach vorne und ließ es über mir ergehen.
Irgendwann, als seine Tränen schon längst versiegt waren - was mir aber gar nicht aufgefallen war - drückte er sich von mir weg; zog einmal schniefend die Nase hoch. Ich reichte ihm ein Taschentuch, mit dem er die Reste seiner Tränen weg wischen konnte und seine Nase ausschnaubte.
Danach starrte wir uns einfach still an. Keiner traute sich, etwas zu sagen, um die Stimmung nicht zu zerstören. Ich merkte, wie sein Blick immerwieder zu meinen Lippen wanderte und wunderte mich, warum er mich noch nicht im Laufe des Tages geküsst hatte. Ich hätte nichts dagegen, dass er es nicht getan hatte - ich wollte alles ja sowieso langsam angehen -, aber ich hätte nicht erwartet, dass er so zurückhaltend wäre.
Kurz zuckte ich zusammen, als ich seinen Atem auf meiner Haut spürte. Ich hatte nicht bemerkt, dass er mir so nah gekommen war. Seine Wärme - die von ihm ausging, wie Licht von einem Scheinwerfer - erfasste mich, brachte mich zum Glühen.
Doch sie brachte mich nicht zum Schmelzen...
Denn im letzten Moment - kurz bevor sich unsere Lippen berührten - sprang ich auf. Mein Gehirn hatte schon längst abgeschaltet, doch mein Instinkt ließ es ruckartig wieder anspringen. Und noch bevor Erik etwas sagen konnte, drehte ich mich um und rannte los.
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