Bangladesh

Die Brünette sitzt wieder im Dunkeln, im Hintergrund dröhnt Nirvana. Sie überlegt, was als Nächstes kommen könnte, bis ihr ein Thema einfällt, das sie schon einmal genommen hat. Irgendwo muss sie noch den Text haben.

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Die Blätter an den Bäumen sind dunkelbraun, manche schon fast schwarz. Der Himmel ist bedeckt mit Rauch und an manchen Tagen regnet es Schutt und Asche. Kinder schreien, wollen nach Hause, jedoch geht das nicht. Ihre Eltern sind entweder verarmt oder tot. Die Kleinen müssen arbeiten, um überleben zu können. Er atmet ein und bekommt doch keine Luft. Der Sauerstoff in diesem Teil von Bangladesh ist fast völlig verbraucht, weswegen sich seine Lungen mit Giftgasen füllen. Er wartet auf sie, schon seit vier Jahren kommt er tagtäglich hierher, aber weiß, dass sie nie kommen.
Weil sie tot ist!
Tot, und alles ist ihre Schuld. Niemand kann das je rückgängig machen, aber er wird sie rächen. Sie werden den Tag bereuen, an dem sie ihr das antaten.
Aber was soll er denn machen?
Er erinnert sich gerne an früher, als sie noch da war. Sie gingen zusammen zur Arbeit, obwohl er die Arbeit hasste und immernoch hasst, waren diese Momente magisch. Sie gingen zusammen, was wenigen vorbehalten wurde. Sie wurden sofort auf der Arbeitsstelle getrennt. Frauen, Männer und die Kinder. Die Kinder durften immer zusammenarbeiten, seit er dort arbeitete. Wie fies, denkt er heute. Jeder wurde getrennt von der Familie, den Freunden. Und das nur, um zu arbeiten. Kleidung für die Reichen herzustellen, was für eine Freude.
Wenn sie zusammen nach Hause gingen, in einen kleinen Slum, sang sie ihm manchmal was vor. Das waren rührselige Moment, bei denen ihm jetzt noch die Tränen kamen. Sie hatte so eine wunderschöne Stimme, die für immer zum Schweigen gebracht wurde. Sie sang auf vielen Sprachen, die wenigsten verstand er, doch alles hörte sich so schön an. Berührend, traurig, wehklagend, fröhlich, aufmunternd. Sie schaffte es alles Facetten in ihre Stimme zu bringen und so zu singen, dass er sie spürte. Er spürte die Hoffnung, die Freude und die Trauer. So hatte er nicht gefühlt, seit sie tot war. Er erinnert sich noch genau an den Tag. Er war stickig wie jeder andere. Er bekam kaum Luft, als er die monotone Arbeit verrichtete. Kleidung nähen taten die Frauen und Mädchen, weswegen ihm die Stiche entgingen, die sie täglich nach Hause trugen.
Er arbeitete gerade, als urplötzlich ein Knall die Stille durchriss, die immer über allem lag. Er hörte Schreie und irgendjemand rief, dass es passiert sei. Die eine Firma hatte einen Schaden und dabei starben alle Leute, die darin arbeiteten. Sie eingeschlossen.
Als er das hört, verstand er am Anfang nicht. Oder wollte nicht verstehen. Dann wiederholten sie sich und er sackte zusammen, innerlich. Die Tränen flossen, sein Herz wurde zerissen. Er sprach nicht mehr, weil er keine Worte an unwichtige Leute verschwenden wollte. Sie hörten ihm eh nicht zu, nur sie tat das. Er aß am Anfang zu viel, mehr als er sich leisten konnte. Kummerfressen. In diesen Momenten merkte er, dass er sie wirklich liebte. Erst dann verstand er, was Liebe ist und was sie bedeutete.
Natürlich ging er zu ihrer Beerdigung. Es war eine kleine Beerdigung, zu der keiner, außer er, kam. Eine anonyme Beerdigung, irgendwo auf einer Wiese. Er wusste nicht mehr genau, wo auf dieser Wiese sie lag, als die Beerdigung zu Ende war, aber er legte immer Blumen an den Rand. Jede Woche leistete er sich einen kleinen Blumenstrauß. Die Blumen, die er wählte, waren billig, schon fast tot, aber er liebt sie. Jetzt legt er keine Blumen mehr irgendwohin. Sie sind zu teuer. Eigentlich sollte nichts für sie zu teuer sein, da sie ihm das Wertvollste auf der Welt gab. So wertvoll, jeder hatte es, kaum einer würdigte es. Die Menschen nahmen es einander und gaben es jemand anderem. Jemandem, der für sie wichtig war. Keine Arbeiter, die sich abarbeiten. Wahrscheinlich haben sie eh keine Familie, denken sie sich.
Denken sie überhaupt?
Ist ihnen nicht alles egal?
Hauptsache sie haben alles. Wenn dafür mit Mord, Tod und Leid bezahlt werden muss, übersehen sie einfach alles. Ihre überteuerte Kleidung ist da, die Arbeiter sind woanders. In Bangladesh. Alles auf der Strecke, die er gerade geht, erinnert ihn an sie. Die Frau, die ihm das Leben zeigte und schenkte. An seine Mutter, die so vieles für ihn tat und nie was dafür verlangte, weil sie glücklich war, wenn er es war. Die Frau, die Geld sparte, um ihm ein kleines Holzpferd zu kaufen, über das er sich so gefreut hatte.
Sie ist tot, aber lebt dennoch in seinem Herzen.
Irgendwo.

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Bei diesem Text fließen die Tränen weiter über ihr Gesicht. Sie erinnert sich daran zurück, für was er eigentlich gedacht war. Eine Utopie, zum Vergleich. Die Utopie war eine dumme Idee von ihr, aber dieser Text war einer der klügsten Dinge, die sie je tat. Nun ist sie wirklich froh, dass sie ihn wiederverwenden kann. Er bedeutet ihr so unglaublich viel. Für sie ist es ein Segen, dass sie ihn an eine Freundin schickte.
Dann flüstert sie etwas in die Stille.

"Danke, Michelle."

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