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„Heute hat echt jeder die Möglichkeit, auf TikTok ganz live zu zeigen, wie er sein Leben verhunst", sage ich und wische mit dem Daumen das Video nach oben. Das nächste erscheint auf dem Bildschirm meines Smartphones. Ein Kerl mit Glatze erzählt Flachwitze. Ich wische nochmal. Musik unter einer schrillen Stimme und ein Kerl, der im Bett liegt und dazu lipsynct. Zwei Mädels, die tanzen. Der Lärm aus meinen blechernen Handylautsprechern übertönt den rotzigen Deutschpunk, der aus den Boxen von Bismarcks Auto dröhnt. Durch die offenen Fenster strömen Frühlingswind und Autobahnabgase und noch mehr Lärm herein.
„Was hast du jetzt auf einmal mit TikTok, Alter?", lacht Bismarck am Steuer. Er heißt natürlich nicht wirklich so und irgendwann wird er ein Gesetz erlassen, das uns verbietet, ihn so zu nennen. So würde es zumindest der echte Bismarck machen, glaube ich.
„Da sind Leute, die stechen sich vor der Kamera Ohrlöcher", erzähle ich, ohne den Blick zu heben. Ich bin bei einem Video angelangt, das extra für Männer ist. Die Männer werden ihn verstehen, sagt der durchtrainierte Kerl, die Frauen werden weinen. Okay.
„Gib mir mal lieber noch ein Bier", höre ich Bismarcks Stimme über die des unsympathischen Kerls hinweg. Der erzählt, dass Frauen denken, dass das Bett ihnen alleine gehört. Und dass das zu weit gehe, Bitch.
„Ey, Vincent, gib mal 'n Bier aus der Kühlbox", sage ich über die Schulter, während ich dabei zusehe, wie der unsympathische Kerl seine Freundin in die Decke einwickelt und dann gegen den Spiegelschrank wirft. Natürlich nur die Decke, aber was er damit aussagen will, ist klar. Witzig, wirklich. Ich überlege, einen Kommentar zu schreiben, während der geschmacklose Müll von vorne beginnt. Dann will ich mir das aber nicht nochmal geben und wische weiter. Schlechtangezogene Menschen tanzen zu schlechter Musik.
Von hinten höre ich Schluckgeräusche, dann ein Rülpsen, ehe ein Reißverschluss erklingt. Vincent, der übrigens auch nicht wirklich so heißt, ist der Proviantbeauftragte. Heißt, wir müssen aufpassen, dass er nicht das ganze Bier wegsäuft, bevor wir ankommen oder etwas abgekriegt haben.
„Deine Ohrlöcher haste dir doch auch selbstgestochen", meint Vincent und ich spüre die kalte Bierdose an meinem Oberarm. Ich hebe den Blick und halte ihm das Handy hin.
„Guck dir das an, voll bescheuert", sage ich und nehme ihm mit meiner freien Hand die Dose ab. Seine Finger sind mit kleinen, schwarzen Tattoos bedeckt, die er sich selbst gestochen hat. Lange, schmuddlige Dreadlocks umrahmen sein Gesicht und hängen über seinen Rücken. Das ausgewaschene Blau hebt sich von seinem ausgebleichten schwarzen T-Shirt ab.
In dem Video rennt eine junge Frau mit blondem Haar ein Dach entlang. Dann springt sie. Sie kommt mit den Füßen voran auf dem Boden auf und prallt wie ein Gummiball von der Wiese ab, wird zurückgeworfen und bleibt auf dem Rücken auf der Wiese liegen.
„Pack das Ding weg, Alter. Und gib mir endlich mein Bier", lacht Bismarck.
Vincent zuckt mit den Schultern. „Ich würde das auch machen", meint er.
Ich ziehe das Handy wieder zurück. „Ja, klar. Aber nicht um Klicks zu kriegen." Ich lege es auf meinem Oberschenkel ab und sperre es, damit das nervige Geplärr verstummt. Die Bierdose gibt ein Zischen von sich, als ich sie öffne, und dampft dann. Ich reiche sie Bismarck, der sie an die Lippen setzt und einen genüsslichen Schluck trinkt.
„Stimmt", sagt Vincent und reicht mir ebenfalls ein frisches Bier.
Vincent tut ziemlich viele dumme Dinge. Vincent hat versucht zu sterben, deswegen heißt er Vincent. Wegen Vincent van Gogh. Dem verrückten Künstler, der sich in die Brust geschossen hat. Vincent ist auch Künstler, finde ich zumindest. Unsere Lehrerin in der Schule hat seine Zeichnungen wütend in den Müll geworfen, wenn er mal wieder nicht zugehört hat. Da hat er angefangen, mit Tinte unter seiner Haut zu malen, denn die Hand konnte sie ihm schlecht abhacken.
„Genau das meine ich ja", sage ich. „Ich hab so viel Scheiße gemacht in meinem Leben und ich bin froh, dass das Internet nichts davon weiß. Stellt euch mal vor, ich würde so TikToks machen, später, im KUZ."
„Wovon? Wie alle besoffen in irgendeiner Ecke schnarchen?", fragt Bismarck. Er streckt seinen linken Arm aus dem Fenster und lässt die Luft zwischen seinen Fingern hindurchsausen.
„Davon, wie irgendwer auf die grandiose Idee kommt, das erste Mal H auszuprobieren, einen Löffel aus der Küche leiht und irgendwer anfängt rumzubrüllen, weil harte Drogen nicht am offenen Tisch konsumiert werden sollen", sage ich. „Am besten davon, wie ich auf diese Idee komme ..."
„Wär ja schon bescheuert genug", meint Bismarck.
„Genau. Aber das dann noch ins Internet zu laden ..." Ich schüttelte den Kopf.
„Kein Arbeitgeber würde dich noch einstellen", sagt Bismarck.
„Es wäre dein gesellschaftlicher Tod", stimmt Vincent zu.
„Aber so'n Arbeitgeber, der auf TikTok abhängt, will ich eh nicht", sagt Bismarck, während ich von meinem Smartphone abgelenkt werde. Das Display leuchtet auf, ich werde angerufen.
„Willst du überhaupt einen Arbeitgeber?", fragt Vincent.
„Stimmt. Nee", lacht Bismarck.
Mein Handy klingelt. Adolf, verkündet es.
„Gesellschaftlichen Tod finde ich ja eigentlich ziemlich erstrebenswert", meine ich und nehme das Handy in die Hand. „Adolf ruft an", teile ich den anderen mit.
„Alter, du sollst sie nicht immer so nennen!", seufzt Bismarck und dreht die Musik am Radio leiser.
Adolf ist Bismarcks Freundin. Sie heißt natürlich auch nicht wirklich so – aber der Name passt. Sie ist nämlich eine ziemliche Führerpersönlichkeit. Deshalb sind wir auch versehentlich ohne sie losgefahren. Ich wische den grünen Hörer nach oben und halte das Smartphone an mein Ohr. „Pizzeria Anarchia, Sie sprechen mit dem Chefkoch der anarchistischen Küche. Abhören oder hochjagen, was darf's heute sein?", melde ich mich.
„Irgendwann haben wir den Verfassungsschutz am Arsch, nur wegen deinen komischen Telefonsprüchen", sagt Bismarck, während Adolf im Telefonhörer sagt: „Du bist nicht witzig, wirklich nicht."
„Mach's doch wie andere und meld dich als Pferdemetzger, gestern geritten, heute mit Fritten, oder als China-Restaurant, gestern miaut, heute mit Kraut oder so", redet Bismarck weiter, während Adolf fragt, wo wir eigentlich bleiben.
„Wir müssen uns irgendwie verpasst haben", sage ich.
„Verpasst?", fragt Adolf streng.
„Ja, Sir", sage ich und widerstehe dem Reflex zu salutieren, wie ich es tun würde, wenn sie mir gegenüberstünde. Sie hasst das und Bismarck hasst das auch.
„Du bist so inkonsequent. Niemand hätte den Führer mit Sir angesprochen", lässt Vincent von der Rückbank verlauten.
„Was willst du damit sagen, wir haben uns verpasst?", fragt Adolf.
„Stimmt", sage ich.
„Was?", fragt Adolf. In ihrer Stimme liegt ein genervter Unterton.
„Frag das am besten deinen Freund", sage ich und will Bismarck das Handy ans Ohr halten, aber er duckt sich zur Seite und wehrt es mit der Hand, in der er die Bierdose und das Lenkrad hält, ab. Das Lenkrad lässt er los, das Bier schwappt über.
„Ich kann nicht, ich fahre!", sagt er.
„Du fährst?", klingt Adolfs empörte Stimme aus dem Lautsprecher. Noch schlimmer als die TikToks. „Seid ihr etwa ohne mich los?"
Ich halte mir das Handy wieder ans Ohr. „Jawohl, Herr Führer."
„Boah, Fliege, Alter, lass das doch mal. Du nervst echt krass", regt Adolf sich auf. „Was heißt das, ihr seid ohne mich los? Was soll das?"
„Das, was es halt heißt. Wir sitzen im Auto und fahren und du nicht. Warst nicht da."
„Ich war arbeiten!"
„Die Revolution schläft nicht", stimme ich zu.
Sie seufzt genervt und gereizt.
„Ich empfehle mich. Heil Adolf", sage ich und will gerade auflegen, als mein Kopf nach rechts geworfen wird und mein Handy aus meiner Hand in den Fußraum rutscht. Wäre das Fenster nicht offen, wäre ich jetzt sehr schmerzhaft dagegen geprallt. Ich drehe den Kopf und blicke Bismarck an, der extra die Bierdose in die andere Hand genommen hat, um mir eine zu verpassen.
„Es ist echt nicht witzig, Fliege. Echt nicht", regt er sich auf.
„Deine Freundin lässt du trotzdem zuhause sitzen, weil du keinen Bock hast, dass sie dir in deinen Suff reinredet", erwiderte ich und fische mein Handy aus dem Fußraum. Ich sehe, wie Adolf auflegt. Hat sie bestimmt noch gehört meinen letzten Satz. „Dabei hat sie schon recht. So am Steuer saufen ist nicht deine beste Idee."
„Halt die Fresse", sagt Bismarck und trinkt aus seinem Bier.
Vincent sagt nichts dazu, aber Vincent hätte wahrscheinlich kein Problem damit, wenn wir auf den Tanklaster vor uns auffahren und in Flammen aufgehen würden.
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