Kapitel 7.5

Veidja überlegte kurz. Sie war nicht oft in der Menschenwelt gewesen. Das war die Angelegenheit anderer Engel, anderer Kasten. Bei den wenigen Gelegenheiten war es eher darum gegangen, ein Gefühl für die Menschen zu bekommen, damit sie wusste, wofür sie im Ewigen Krieg focht. Und darum, grundlegende Kenntnisse über die Welt, in der die Menschen lebten, zu erlangen. Sie war so anders, als der überschaubare Weiße Berg. Tiere gab es hier nicht, dort waren sie unabdingbarer Teil des Lebens und zugegebenermaßen faszinierend. Menschen hatten Begriffe für alles, waren wandelbar und schnelllebig. Damit man die Menschen als Engel auch nur einigermaßen verstand, musste jeder von ihnen eine Weile in diese Fülle eintauchen, so dass auf einer gemeinsamen Wissensbasis gearbeitet werden konnte.

Damals hatte sie dafür verschiedene Trachten getragen, meist hatten erfahrene Erhebende sie für sie ausgesucht. Am wohlsten hatte sie sich beim letzten Mal gefühlt in... Veidja konzentrierte sich und ließ Hosen aus einem festeren blau-verwaschenen Stoff entstehen, dazu stabile Schuhe in schwarz und ein enganliegendes, aber flexibles, kurzarmiges Hemd ebenfalls in schwarz, allerdings ohne Knöpfe. Sie konzentrierte sich auf das Alte Wissen, das in jedem Engel, und wohl auch Dämonen, angelegt war: Jeans, Turnschuhe, T-Shirt. Das waren die richtigen Begriffe dafür.

Als sie die Augen öffnete und N'Arahns Blick begegnete, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler begangen hatte. Einen Moment noch konnte er sich zurückhalten, dann brach er in lautes Gelächter aus. In diesem Moment kam sie sich sehr unzulänglich vor.


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„Wirklich?" Der Dämon beruhigte sich langsam, war jedoch noch nicht ganz zu Atem gekommen. „Das ist die Kleidung, die du für ein Tanzcafé wählen würdest? Du bist wohl nicht viel rausgekommen, hm?" N'Arahn konnte Veidjas Zorn in der Luft schmecken. Und da war noch etwas, so viel süßer. Scham. Ihr Fehlgriff war ihr peinlich. Der Höllenfürst kämpfte mit sich, zwei widerstreitende Empfindungen wollten seine Aufmerksamkeit. Er wollte sie provozieren, ihre Unkenntnis kommentieren und ihr zeigen, wie weit sie danebenlag. Und er wollte sie beruhigen, ihr sagen, dass jeder sich irren kann und ihr ihren Stolz wiedergeben. Beides, das wusste er sofort, wäre nicht der richtige Weg gewesen.

„Schau. Daran solltest du dich orientieren." Er streckte seinen Arm aus und ließ schattenhafte Bilder von Menschenfrauen in Kleidern entstehen. Beim Tanzen, bei Empfängen, bei Festen. Alles, an das er sich erinnerte. Und das ihm gefallen hatte.

Für einen kurzen Augenblick verspürte N'Arahn Erleichterung, dass die Fähigkeiten des Engels blockiert waren. Der Blick, den Veidja ihm zuwarf, hätte ihn ansonsten womöglich direkt in Asche verwandelt. Doch dann schloss sie kurz ihre Augen und... Nun, in einem solchen Kleid machte sie eine verdammt gute Figur. Und mit Verdammung kannte er sich nun mal aus.

Der tiefrote, fast ins Violette gehende, Stoff floss regelrecht an Veidjas Körper entlang. Das Kleid ließ ihre Schultern frei, die von ihren länger gewordenen Haaren umspielt wurden, bedeckte jedoch vollständig ihre Arme und reichte fast bis zu ihren Knöcheln. War da eine Korsage eingearbeitet? Als sie probeweise einen Schritt zur Seite machte, musste N'Arahn schlucken. Der Stoff lag bis zur Hüfte des Engels eng an, um ab dort weiter zu fallen. Für zusätzliche Bewegungsfreiheit war er jedoch bis zur oberen Hälfte ihres Oberschenkels geschlitzt. Schwarze Ranken zogen sich dort an den Stoffrändern entlang, tanzten bei ihren leichtesten Bewegungen.

„Gut." Seine Stimme hörte sich selbst für N'Arahn belegt und heiser an. Er hatte einen Engel im Abendkleid gewollt und genau das bekommen. Kurz schoss ihm durch den Kopf, dass selbst Llanna beeindruckt wäre. Aber diese beiden miteinander zu vergleichen...

Die Illusion verschwamm, Veidja stand wieder in ihrem weißen, schlichten Kleid da. Die Schatten behinderten sie hier zu stark, auch wenn er sie etwas gelockert hatte. In der Welt der Menschen würde sie die Veränderung aufrechterhalten können.

„Komm." Er verließ sich darauf, dass sie ihm folgte. Und wenn es nur war, um auszutesten, ob sie an diesem anderen Ort fliehen konnte. Was ihr nicht möglich sein würde. Doch sie veränderte sich, wenn sie einen Ausweg witterte, und das sah er gerne. Sie wirkte dann wacher, offener. Lebendiger.

Da N'Arahn es plötzlich eilig hatte, verschob er die steinernen Wände seiner Festung wie Bauklötze. Nur an einer Stelle konnte er das Portal öffnen, und er wollte nicht mehr warten. Der Engel eilte seinen langen Schritten nach, denn ganz knapp hinter ihr schloss sich der Fels wieder zu seiner vorherigen Form.

Kurz vor der unscheinbaren Nische mit den in den Boden gemeißelten Übergangsrunen trat der Höllenfürst wieder auf einen der regulären Gänge. Das Treiben auf den Wegen der Festung war für kurze Zeit zum Erliegen gekommen; keiner seiner Diener hatte ihm im Weg sein wollen. Jetzt bewegten sich die niederen Dämonen wieder, wenige drückten sich auch vorsichtig an ihm und seinem Engel vorbei.

N'Arahn bedeutete Veidja zu ihm in die Nische zu treten. Forsch überschritt sie die Runen und ignorierte seine ausgestreckte Hand.

„Leg das hier an." N'Arahn griff in die Schatten und zog ein schmales Armband aus ihnen hervor, das er der Kriegerin reichte. Sie nahm es und er konnte die Versuchung in ihren Augen sehen, es einfach auf den Boden zu werfen. Der Höllenfürst stieß ein kurzes Grollen aus.

„Du wirst es tragen, so oder so." Einen Augenblick rangen ihre Blicke miteinander, dann legte Veidja mit einer wütenden Bewegung das Armband um ihr Handgelenk. Sofort zog sich der silberne Streifen zusammen, bis er an ihrer Haut anlag. Der einzelne eingelassene Rubin glühte leicht auf; rote Schlieren sanken in die Haut des Engels, wurden transparent und verschwanden dann ganz.

Veidja verzog kurz das Gesicht, als würde der Vorgang schmerzen. Nun, wenn er es recht bedachte, tat es das wahrscheinlich auch. Dämonenfessel, die in einen Engel eindrang, das war wahrscheinlich nicht angenehm. Aber notwendig. Er würde seine Konzentration anderweitig benötigen und konnte seinen widerspenstigen Engel nicht lückenlos überwachen.

Nun zu etwas Weiterem, das ihr nicht gefallen würde. Innerlich seufzte N'Arahn.

„Die hier brauchst du auch noch." Er hielt Veidja ein Paar Tanzschuhe hin. Er hatte sich die Farbe des Kleides gemerkt, das sie gewählt hatte, und die Schuhe entsprechend gefärbt. Das würde dem Engel wahrscheinlich nicht einmal auffallen, der Absatz jedoch schon.

„Die trage ich nicht", knurrte Veidja ihn erwartungsgemäß an. Und er hatte sogar Verständnis. Die Schuhe waren zwar nicht besonders hoch, doch definitiv weit davon entfernt, typische Kampfstiefel zu sein. Also nicht gerade die Art Kleidungsstück, die ein Schlachtenengel wählen würde.

Eine Illusion war hier allerdings nicht ausreichend. Solche Schuhe veränderten den Gang, weshalb die nur halb-stoffliche Anpassung ihrer Kleidung die Schuhe nicht mit umfassen konnte.

„Doch, das wirst du." Er hatte nicht vor, in dieser Sache nachzugeben. „Ich gehe mit dir zu einer Tanzveranstaltung, und dort wirst du nicht barfuß aufkreuzen."

Er fixierte seinen Engel, fing ihren ablehnenden Blick ein. So etwas wie ein Hochgefühl durchströmte ihn. Sie kämpfte, legte sich mit ihm an. Die Besuche der anderen Höllenfürsten hatten sie nicht gebrochen oder auch nur eingeschüchtert. Das ist gut. Wirklich gut. Fühlte sich so Dankbarkeit an? Nicht. Das führt zu nichts.

„Ich sage dir, wie das jetzt abläuft. Du ziehst diese Schuhe an. Sobald ich das Portal öffne, legst du deine ausgehtaugliche Garderobe an. Wir mischen uns unter die Menschen, tanzen, haben Spaß." Ihr Widerstand war fast greifbar in der Luft zwischen ihnen.

„Andernfalls... Andernfalls läuft es genauso, nur dass ich dich dann wie eine Marionette mit mir führe." Er beugte sich vor und ließ seine Präsenz um sie herum fließen. Gerade so, dass sie seine Nähe deutlich spüren musste. Gerade noch ohne weiteren als den bisherigen Druck auszuüben.

Übergangslos wurde Veidjas Gesicht ausdruckslos, ihr Blick leer. N'Arahn hatte das Gefühl zu fallen. Er hatte das Portal doch noch gar nicht geöffnet? Nein, das war etwas anderes. Er spürte, wie Veidja aufgab. Und es zog ihn mit in die Leere, die es in ihrer Seele verursachte.

Ruckartig riss der Höllenfürst sich zurück, richtete sich auf und griff nach dem Arm des Engels. Seine Hand umschloss das Armband, zog Energie aus dem Rubin, schwächte ihn, milderte die Fessel.

Verdammtes Ding! Die Wirkung bei einem Engel unterschied sich doch sehr von der Anwendung bei Dämonen. Er würde vorsichtig sein müssen, doch für den Ausflug brauchte er dieses zusätzliche Kontrollinstrument.

Veidja blickte ihn verwirrt an und er hielt ihr wieder die Schuhe hin. Dieses Mal nahm sie sie und zog sie an. Allerdings nicht, ohne verächtlich zu schnauben, wie N'Arahn mit Belustigung und Erleichterung feststellte. Sie fing sich offensichtlich schnell wieder.

Er ließ Schatten in die Runen am Boden fließen, aktivierte sie nach und nach. Kurz vor dem Übergang änderte N'Arahn sein Aussehen, wie er es schon oft getan hatte. Schwarze Schuhe und Stoffhose, ein dunkelrotes Hemd, darüber eine ebenfalls schwarze Weste. Dafür verschwanden die Hörner und die auffällige Hautfarbe.

Nur ein Augenzwinkern später standen sie in einem weißen Treppenhaus. Der Übergang war einfach, doch die Luft in der Welt der Menschen roch irgendwie falsch. Unwillkürlich fuhr N'Arahn mit der Zunge über seine Zähne. Stumpf, bis auf leidlich spitze Eckzähne. Es war jedes Mal wieder eine Enttäuschung. Nur einer der Gründe, warum er sich nicht allzu häufig hier aufhielt. Veidja schien es nicht besser zu gehen.

Der Engel sah eindeutig zweifelnd zu ihm auf. „Und nun?" Sie war eine strahlende Erscheinung, trotz ihres düsteren Gesichtsausdruckes und des dunklen Kleides. Sie würde nur gerade so als Mensch durchgehen. Glücklicherweise waren Menschen im allgemeinen zu selbstbezogen, um leichte Abweichungen in den Lichtverhältnissen zu bemerken.

„Jetzt gehen wir tanzen." N'Arahn hakte sich bei Veidja unter und führte sie in Richtung Musik.

„Die Roten Tiefen können fast alles bieten. Aber reines Tanzen, ohne Intrigen, ohne Hintergedanken, einfach Freude an der Bewegung zur Musik, das bekommst du nicht."

„Und so etwas reizt dich, Dämon?" Ihr spöttischer Unterton war verletzend gemeint, aber das war ihm gleichgültig. Sie würde es schon noch verstehen. Wenn sie bei ihm blieb, dann... Nein, auch dieser Gedanke führte zu nichts.

„Manchmal", antwortete er knapp.

Auf den Gängen nach dem Treppenhaus kamen ihnen lachende, schick gekleidete Menschen entgegen, ins Gespräch vertiefte Grüppchen. Manche eilten an ihnen vorbei, um bei einem bestimmten Lied auf der Tanzfläche zu sein.

N'Arahn horchte, aus welchem der Räume Musik kam, die ihn ansprach. Veidja hatte sich schnell an die neuen Schuhe gewöhnt und bewegte sich nun sehr elegant an seiner Seite. Sie würde sich auch schnell in jeden Tanz einfinden; einer der großen Vorteile, wenn man Fähigkeiten und Kenntnisse in dieser Welt im Grunde einfach aus der Luft ziehen konnte. Engel und Dämonen absorbierten diese als Anderweltler gleichermaßen. Je näher sie an ihren eigenen Vorlieben und Fähigkeiten lagen, desto schneller geschah dieses Lernen. Wohl eine Art Überlebensstrategie, überlegte N'Arahn müßig. Wer hatte sonst schon die Zeit, sich mit allem zu beschäftigen, was die Menschen so trieben.

Spontan entschied der Höllenfürst sich für einen Raum, in dem sich einige Paare zu einer Rumba durch den Raum bewegten. Er zog Veidja mit sich und führte sie in ihren ersten Tanz.


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