Intermezzo - Heten

Reich der Menschen - Gegenwart

Sie hatte ihre Arbeit zu ihrer Zufriedenheit und schneller als erwartet zuende geführt. Es war keine große Aufgabe gewesen, aber auch die kleinen Anstöße konnten gewichtige Auswirkungen haben.

Menschen, selbst diejenigen unter ihnen, die sich als Liebhaber der reinen Logik betrachteten, fühlten und verhielten sich meist sehr irrational. Selten waren sie bereit, für ein Ziel alles andere zu opfern. Das machte sie gleichzeitig berechenbar und unvorhersehbar. Heten lächelte. Dadurch verlangte ihr ihre Arbeit immer wieder Neues ab und das gefiel ihr. Nicht, weil Arbeit Spaß machen sollte; Spaß war ein überbewertetes Konzept. Es war gut, weil ihr Geist dadurch wach, flexibel und herausgefordert blieb. Ließ ihre Aufmerksamkeit nach, würde sie beginnen Fehler zu machen. Und Fehler waren in ihrer Position die Vorboten eines schnellen Todes.

Gerade jedoch hatte sie etwas Zeit, bevor sie in die Roten Tiefen zurückkehren musste, und ließ sich daher durch die belebten Straßen der kleinen Stadt treiben. Menschen jeden Alters schlenderten oder hetzten an ihr vorbei, unterhielten sich, aßen, tranken, träumten. Niemand beachtete sie. Hier und da fing sie etwas auf, das kurz ihr Interesse weckte. Ein undankbarer Gedanke, ein taumelndes Gefühl; Ausbrüche, die sie nutzen könnte.

Doch sie ließ die Menschen und Gelegenheiten an sich vorbeiziehen. Hielt sie sich etwas zurück, begrenzte ihren Einfluss auf eine Einflüsterung hier, ein gut argumentiertes Angebot dort, wurden die Engel vielleicht erst auf ihr Wirken aufmerksam, wenn es zu spät war. Wenn ihre langfristigen Pläne bereits Fahrt aufgenommen hatten.

Wieder zogen sich die Mundwinkel der Höllenfürstin wie von selbst nach oben. Geduld war eine wichtige Tugend und sie hatte einen schier unerschöpflichen Vorrat davon.

Mit leichten Schritten flanierte sie an den Schaufenstern der Einkaufsmeile vorbei. Dies hier war eigentlich ein perfekter Platz für die Verführer, überall lockte Konsum. Grell stachen die Farben auf ihre Augen ein, so dass ein Teil von ihr sich nach der nüchternen Umgebung ihrer kleinen Festung zurücksehnte. Sie konnte Prunk und Verschwendung nichts abgewinnen, es war nicht logisch, seine Ressourcen dafür herzugeben. Natürlich konnte es Gründe dafür geben: Eindruck schinden zu wollen, Macht zu demonstrieren, zu zeigen, dass man es sich leisten konnte. Doch das war nicht ihr Weg. Weder an ihrer Festung noch an ihr selbst war etwas üppig oder stach heraus.

In einem Schaufenster betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie konnte in jeder Menge mit Leichtigkeit verschwinden. Ihre in der Fensterscheibe nur durchsichtig zu erkennende Gestalt war hager, nicht groß, aber auch nicht klein. Sie hatte sich an das Reich der Menschen und ihre Aufgabe angepasst, trug einen gut, aber nicht hervorragend geschnittenen hellgrauen Hosenanzug. Kurze Fingernägel, verwaschen blaue Augen, schulterlange, offene Haare mit Ponyschnitt. Das einzige, das hätte markant sein können, war die weiße Haarfarbe, doch die Tendenz zum Grau ließ sie für Menschen nur älter und seriöser wirken, weshalb sie sie nicht verändert hatte.

Kurz ließ sie ihre Finger durch die Strähnen an ihrer Schläfe gleiten. Es war ungewohnt, den Hörnerkranz dort nicht zu spüren, doch ihn zu verbergen war eine Notwendigkeit. Sie fühlte kein Bedauern.

Sie nickte sich selbst zufrieden zu und setzte ihren unverplanten Weg fort. Doch irgendwie hatte der Gedanke an die anderen Höllenfürsten sich festgesetzt. Wie viele von ihnen sorglos mit ihren Ressourcen umgingen. Sich extravagante Lebensstile zulegten, den Genuss oder andere unwichtige Nebensächlichkeiten über ihre Aufgaben stellten. Heten verzog das Gesicht.

Die neueste unerfreuliche Entwicklung in dieser Hinsicht war ein Kriegstreiber namens N'Arahn. Er war in den Besitz eines Engels gelangt, weigerte sich aber bisher, diesen auch anderen zur Verfügung zu stellen. Anscheinend nutzte er den Engel in seiner Arena. Ein leises enttäuschtes Seufzen entfloh der Ränkeschmiedin. Und wieder: Verschwendung. Mit ihren Untersuchungsmethoden würde sie sicherlich interessantere Ergebnisse erzielen, als die vorhersehbare Erkenntnis, dass Schlachtenengel gut kämpfen konnten.

Dabei war der Kriegstreiber ihr bisher als einer der eher vernünftigeren Höllenfürsten erschienen. Als jemand, der sich auf das Wesentliche konzentrierte und ohne großes Aufheben zu verursachen, seine Arbeit machte. Ärgerlich. Aber es lohnte sich nicht, darauf mehr Energie zu verwenden; eine gemeinsame Beschwerde war an Ihn herangetragen worden und N'Arahn würde sich daher bald vor Ihm verantworten müssen.

Gedankenverloren glitt die Dämonin wie ein Schatten durch die Menschen. Abrupt musste sie anhalten, als direkt vor ihr ein Pärchen aus einem Geschäft geschossen kam. Die beiden hatten nur Augen für einander und das kleine Kästchen, das sie mit sich trugen. Sie kicherten und rochen so sehr nach glücklicher Aufregung, dass Heten angewidert die Nasenflügel weitete.

Ein schneller Blick in die Auslage des Geschäfts ließ sie auf einen Schmuckhändler schließen. Genau, da stand es ja. In großen Lettern, in Gold natürlich: Juwelier.

Sie sah dem Pärchen nach, das sie beinahe umgerannt hatte. Sicherlich, das war ein Affront, den sie in den Roten Tiefen nicht hätte dulden können. Hier... war es gleichgültig. Jetzt Zeit oder sogar Mana auf eine kleinliche Rache zu verschwenden, hätte allem widersprochen, von dem sie wusste, dass es richtig war. Kurz beglückwünschte sie sich dazu, ihr Ego so unter Kontrolle zu haben. Ständig Emotionen unterworfen zu sein, denen man Genüge tun musste, war bestimmt sehr anstrengend.

Das Glitzern der Ausstellungsstücke hinter dem ausgezeichnet geputzten Glas fing ihre Aufmerksamkeit. Die Uhren, Ketten und Ringe waren ansprechend drapiert, kein Schmuckstück verdeckte den Blick auf ein anderes. Die Preisschilder ließen sich gut lesen, blieben trotzdem sehr dezent. Der Hintergrund und die Beleuchtung setzten alles hervorragend in Szene. Nun, zumindest etwas. Sie gab der Choreographie der Auslage gute Noten, und war ob der sinnvollen Nutzung der Ressourcen etwas milder gestimmt.

Trotzdem schüttelte die Dämonin den Kopf über all den Luxus, der hier als bedeutsam dargestellt wurde. Wenn man die Zeit messen wollte, reichte auch der Blick auf eine Uhr, die wenig Geld kostete. Edelmetalle an Fingern und Ohren lenkten einen im ungünstigsten Fall zudem ab, oder brachten Neider auf den Plan.

Eitelkeit und Gier. Wieder nickte sie ihrem Spiegelbild zu, in der nüchternen Feststellung, dass sie selbst zum Glück von solchen Regungen verschont blieb. Aber sie waren ein wichtiges Werkzeug, wenn es darum ging, die Menschen in ihrem, und somit in Seinem, Sinne zu beeinflussen.

Kurz dachte sie an den jungen Bankangestellten, den sie mit einer „unschuldigen" Bemerkung während eines Gesprächs auf eine idiotensichere Möglichkeit gestoßen hatte, etwas Geld abzuzweigen. Seine Gier würde ihm keine Ruhe lassen, bis er es zumindest ausprobiert hatte. Und seine Eitelkeit ließ ihn glauben, dass er nicht erwischt werden konnte. Beide zusammen würden ihm mit gnadenloser Gewissheit das Genick brechen und dabei noch einige andere mit in einen Strudel aus Verleumdung, Lügen und Angst ziehen. Winzige Saat, große Wirkung. Heten konnte ihre Zähne in einem kleinen, grausamen Lächeln im Schaufenster aufblitzen sehen.

Sie passierte den Eingang des Geschäfts, sog kurz den typischen Geruch solcher Läden in sich auf. Freude und Stolz hielten sich die Waage mit Enttäuschung und Scham. Dazu natürlich Poliermittel, Parfüm, Metall in verschiedenen Ausprägungen und vieles mehr. Sie schnaubte abfällig.

Die nächste Auslage schimmerte nicht weniger als die erste. Heten fühlte Erleichterung, dass sie den Juwelier gleich hinter sich lassen konnte.

Ein blaues Glänzen, nur ein Aufblinken im Augenwinkel. Die Höllenfürstin blieb wie angewurzelt stehen. Nein, nein, nein. Doch sie wusste, sie hatte keine Chance. Ihr Herzschlag hatte sich von einem Moment zum anderen verdoppelt, ihre Wangen brannten. Wieso bin ich nicht abgebogen?

Sanft, fast zärtlich legte sie ihre Fingerspitzen auf das Glas. Da war er. Nur etwa halb so lang wie ihr Daumen, zart ziseliert. Beinahe wäre er zwischen den größeren, prunkvolleren Stücken untergegangen. Jetzt, wo sie ihn entdeckt hatte, stach er für sie aber heraus, als würden riesige leuchtende Pfeile auf ihn zeigen.

Der kleine Anhänger in Form eines Sichelmondes trug feine Verzierungen, die einen winzigen Saphir behutsam umfassten. So zerbrechlich, so unwiderstehlich. Wunderschön.

Wärme durchströmte die Dämonin. Sie fühlte sich leicht, gleichzeitig hatte sich ein atemraubender Druck um ihre Brust gelegt.

Heten schloss die Augen für einen Moment, versuchte, sich zu beruhigen. Mit einem letzten liebevollen Blick auf den silbernen Mond löste sie ihre Finger vom Schaufenster und tauchte in die wohlbekannten Gerüche des Juweliers ein.

Erst, wenn sie diesen Anhänger auf ihrer Haut spüren würde, erst wenn sie ihn bei sich in Sicherheit wissen würde, könnte ihr Herz wieder Ruhe finden.


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