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ℒ𝒾𝒶

»Nochmal von vorne!«, rief meine Mutter in die Runde. »Und dieses Mal bitte mit ein wenig mehr Begeisterung!«

Ihr Verhalten kotzt mich mittlerweile so sehr an, dass ich enorm viel Mühe aufbringen musste, nicht an Ort und Stelle aus der Haut zu fahren.

»Nikolas, könntest du bitte einmal mit deiner Schwester laufen, um zu ihr zu zeigen, wie es wäre, wenn sie eine halbwegs anständige Begleitung zur Hochzeit mitgebracht hätte? Danke.«

Ich ballte meine Hände zu Fäusten und presste meine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Es würde nicht mehr viel fehlen, bis ich explodierte.

Nick schien das nicht entgangen zu sein. Er hakte sich mit einem gespielten Lächeln bei mir ein und warf mir ein leises »Entspann dich, Lia. Es ist nur ein Probelauf, nicht weiter« zu.

»Wie zum Henker soll ich mich entspannen, wenn Mom jede auch nur erdenkliche Gelegenheit nutzt, um mir eins reinzudrücken, hm?«, knurrte ich zurück.

»Liana! Kinn hoch und Brust raus. Oder willst du auf den Fotos etwa so aussehen, wie der Glöckner von Notre Dame?«

»Das genügt, Mom«, erwiderte Nick. »Lia macht das ganz hervorragend. Abgesehen davon, werden ohnehin alle Augen auf Ally gerichtet sein.«

»Ja, wie auch immer.« Mom reckte ihr Kinn und warf einen prüfenden Blick in die Menge. »Apropos Alabama, wo ist sie?«

»Sie sollte bald hier sein«, antwortete Adele. »Sie hat mir geschrieben, dass sie auf dem Weg in die Stadt aufgehalten wurde.«

»Nun, dann hoffe ich, dass sie zumindest an ihrem großen Tag pünktlich ist.« Nach dieser Aussage war Nick derjenige, der besänftigt werden musste. Ich stemmte meine Hand gegen seine Brust und schüttelte mahnend mit dem Kopf.

Zeitgleich ertönte ein schrilles »Entschuldigung!«, woraufhin wir uns allesamt umdrehten. Eine keuchende Ally, bekleidet in einem beigen Strandkleid watschelte uns entgegen, in ihrer Hand einer ihrer Flipflops, den sie auf dem Weg zum Strand offensichtlich irgendwo zerstört hatte.

»Ally, was ist passiert?«, wollte Nick von seiner zukünftigen Braut wissen, ehe er sich von mir löste und besorgt auf sie zuging, um nach ihrer Hand zu greifen.

»Oh, na ja, wisst ihr ... ich habe das diese alte Schulfreundin getroffen und festgestellt, dass wir auf dieselbe Uni gehen.« Allys Haar war total verwuschelt und sie sah aus wie ein gerupftes Huhn. Allerdings schien sie das nicht sonderlich zu stören, was man von meiner Mutter nicht gerade behaupten konnte. »Sie studiert sogar Kunst im Hauptfach – kaum zu glauben, dass ich ihr nie begegnet bin ...«

»Alabama«, Mom räuspert sich lautstark, »komm bitte endlich zum Punkt. Ansonsten stehen wir noch übermorgen hier.«

»Ja, natürlich! Entschuldigt bitte!« Ich war immer wieder fasziniert darüber, wie Ally mit derartigen Situationen umging. Wie sie es schaffte, nicht auszurasten, obwohl sie in der Vergangenheit so viele Gründe gehabt hätte, es doch zu tun. In meinen Augen war das ihre ganz persönliche Superkraft. »Jedenfalls habe ich diesen Fahrradfahrer übersehen, der mich beinahe umgefahren hätte.«

»Alles in Ordnung, Schatz?« Nick begutachtete Allys Stirn. »Hast du dich verletzt?«

»Nein, nein!«, beteuerte sie mit einem Lächeln. »Ich hatte Glück, weil keine zwei Meter weiter ein Obststand aufgebaut war. Die Orangenkästen haben meinen Sturz abgefangen. Dummerweise ist mein Flipflop dabei kaputtgegangen und ...«

»Und was, Alabama? Gibt es noch eine Pointe zu dieser reizenden Geschichte?« Nick funkelte unsere Mutter wütend an, weil er es gar nicht leiden konnte, wenn jemand Ally oder ihn selbst mitten im Satz unterbrach.

»Jepp!« Ally streckte begeistert klingend ihren Zeigefinger in die Luft. »Bei meinem Sturz sind sämtliche Orangen auf die Straße gerollt und haben ein kleines Verkehrschaos ausgelöst. Als Entschädigung für den entstandenen Schaden habe ich dem Orangenmann all seine Orangen abgekauft.«

Wir prusteten so laut los, dass sich bei vielen von uns sogar Tränen aus den Augenwinkeln lösten. Nur Mom war mal wieder immun gegen Allys charmante Art, mit den Dingen umzugehen.

»Und was gedenkst du mit all den Orangen zu tun?«, fragte sie in einem ernsten Ton.

»Na ja, wir können sie nicht alle allein aufessen, weil es doch ziemlich ... ziemlich ... ziemlich viele sind.«

»Und was genau heißt«, Mom malte Anführungsstriche mit ihren Fingern in die Luft, »ziemlich viele?«

»Ein ... Dutzend in etwa.« Nick legte den Kopf schief, während Adele und ich uns vor Lachen nicht mehr einkriegen konnten. »Aber immerhin hätten wir die Frage geklärt, ob wir nun weißen oder braunen Tequila anbieten möchten. Und den Rest der Orangen würde ich gerne dem Saint José Kinderkrankenhaus spenden. Die sind ziemlich gut vernetzt und haben vor Ort viele Ehrenamtliche, die wiederum jemanden kennen, der jemanden kennt, dessen Cousin dritten Grades jemanden kennt. Versteht ihr, was ich meine?«

»Wann genau sollen wir die Orangen denn holen?«, erkundigte sich Jonah, der sich bisher eher bedeckt gehalten hatte.

»Jetzt sofort. Ich habe auch schon mit dem Krankenhaus telefoniert, sie warten auf uns.«

»Aber, was ist mit der Probe?« Es war immer so, dass Mom aus der Haut fuhr, wenn etwas nicht so lief, wie sie sich das vorgestellt hatte.

»Wir proben morgen!«, schlug Ally vor.

»Nein, das geht auf keinen Fall. Morgen bin ich nicht anwesend und ohne mich wird diese Probe ein ...«

»Voller Erfolg«, ergänze Nick ihren Satz, bevor sie etwas Falsches sagen konnte und Ally damit möglicherweise kränkte. »Wir werden ohne dich proben. Schließlich haben wir ja noch eine zweite Schwiegermutter, die uns unterstützen kann.«

Mom fasste sich empört an die Brust. »Also Nikolas, ich glaube nicht, dass ...«

»Aber ich glaube, dass Allys Eltern uns mit Sicherheit genauso gewissenhaft unter die Arme greifen werden, wie du, Mom.«

Und damit war das letzte Wort gesprochen. Blieb nur zu hoffen, dass unsere Mutter sich auch in Zukunft zurückhalten würde.

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