Wichtelpäckchen 7 ✨
Die Geister, die mich riefen...
präsentiert von noensparty
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"Du schmeißt mich raus?" Augen, die mir geweitet entgegenblicken. Ein leises Keuchen, das ihm dabei entweicht. Ich versuche den Blick nicht abzuwenden und nicke.
"Und das kurz vor Weihnachten?" Seine Stimme, die mir fassungslos entgegen flüstert. Wieder nicke ich nur, doch diesmal mit einem deutlichen Seufzen auf den Lippen.
"Warum?" Es klingt zu schrill für den kräftigen Mann vor mir. Ich verziehe die Lippen. Es würde schwerer werden als gedacht.
"Du weißt warum...", antworte ich knapp. Sekundenlang starrt er mir entgegen. Ich kann regelrecht sehen, wie es in seinem Kopf arbeitet.
"Kannst du das überhaupt, ...", er schluckt deutlich, mehrfach "so einfach?" Ein tonloses Lachen entweicht mir.
"Natürlich kann ich das! Es ist schließlich meine Agentur." Ich verdrehe genervt die Augen, "und du warst über sechs Wochen krank im letzten Jahr." Fünfundvierzig um genau zu sein.
"Ja, verdammt war ich, aber doch nur, weil meine Frau,-", nicht das Drama schon wieder. Bevor er mir mit erneuten Entschuldigungen kommen kann, unterbreche ich ihn.
"Spar dir das. Warst du krank oder deine Frau?" Die Worte kommen mir fast schon zu leicht und schnell über die Lippen. Mein Gegenüber schüttelt sprachlos den Kopf. Deutliche Panik liegt jetzt in seinen Augen.
"Weißt du überhaupt, was du mir damit antust?" Ich seufze, sehe auf die Tasse mit dem dampfenden Kakao vor mir. Warum hatte ich mich heute auch noch gegen Kaffee entscheiden müssen? Süße, braune Flüssigkeit, die mit einem echten Kakao so gar nichts gemein zu haben scheint. Statt Milch schmecke ich nur pappiges Milchpulver heraus und doch nehme ich noch einen Schluck. Alles ist mir gerade recht, damit ich nicht weiter in das entsetzte Gesicht meines ehemaligen Mitarbeiters blicken muss.
"Willem!" Ich höre seine Worte, deutlich, das Zittern darin. Ich sehe wieder zu ihm auf. Die Person vor mir wirkt verändert, erinnert kaum noch an den durchaus fähigen und selbstbewussten Programmierer, den ich vor drei Jahren eingestellt hatte.
"Bitte!", fleht er mich an, sein Gesicht dabei deutlich gerötet. Ich mustere ihn, kann ich es nachempfinden? Diesen Schmerz, den seine Augen so deutlich ausdrücken? Innerlich schüttle ich das Bild, die Emotionen, die er mir entgegenwirft, schnell ab. Nein. Ich fühle keine Schuld, schließlich habe ich dem Mann Monat für Monat ein überdurchschnittlich hohes Gehalt gezahlt, fürs Blaumachen.
"Weißt du was?", beginne ich, lehne die Schulter zurück und sehe ihn ernst an.
"Du kannst auch direkt gehen." Ich will gerade nichts mehr, als diese Scharade endlich zu beenden. Die Augen von Viktor weiten sich, falls er es bis hierhin nicht glauben wollte, so realisiert er es jetzt. Wie ein Fisch auf dem Trockenen öffnet und schließt sich sein Mund wieder und wieder. Diesmal weiche ich seinem Blick aus, will den deutlichen Schimmer in seinen Augen nicht sehen.
"Du bist so ein kaltherziges Arschloch!", wispert er. Fassungslos. Solche Gespräche laufen nie gut, das war mir bewusst... aber das heute war sogar für mich ein neuer Tiefpunkt. Er beschimpft mich? Für all das, was ich ihm ermöglicht habe?
"Echt jetzt? Du beleidigst mich?", schnaube ich aufgebracht.
"Das ist keine Beleidigung, sondern einfach nur die verdammte Wahrheit!" Ein dunkler Schatten legt sich über sein Gesicht.
"Du weißt wahrscheinlich noch nicht mal, was das bedeutet jemanden zu lieben, für jemanden da zu sein und dafür sein eigenes Wohl unter das des Anderen zu stellen!", redet er sich weiter in Rage. Ich verdrehe nur die Augen dabei. So eine Ansprache hat mir gerade noch gefehlt. Ich presse die Lippen zusammen, er erwartet doch jetzt keine Antwort von mir? Wie kommt er überhaupt auf die Idee, mich auf dieser Ebene anzugreifen? Mein Privatleben geht meine Mitarbeiter nichts an und ich hielt bisher Arbeit und Privates strikt getrennt. Soweit das in so einer kleinen Agentur eben möglich war.
"Wahrscheinlich hast du noch nie jemanden geliebt!" Wie um seine Worte zu untermauern, knallt er seine flache Hand auf den Tisch. Die Vibration davon geht bis zu meiner Tischseite hinüber. Ich zucke nicht mal mit der Wimper. Schon lange lasse ich mich von nichts und niemandem mehr einschüchtern. Stattdessen sehe ich ihn weiter an, ohne jede Regung in meinen Augen, nichts was darauf hindeuten könnte, was ich wirklich fühle. Wir liefern uns ein stummes Blickduell.
"Nein", wispert er schließlich, als ich zu keiner Antwort ansetze.
"Wer könnte so einen Eisklotz wie dich schon lieben?"
Dann steht er endlich auf, genauso wie ich. Ich überrage den Mitte Dreißigjährigen fast um eine Kopflänge und blicke ernst auf ihn herab. Sein Mund klappt ein weiteres Mal auf, er setzt zum Sprechen an, doch im nächsten Moment schließt er ihn wieder, schiebt sich grob an mir vorbei und rempelt dabei gegen meinen Arm.
"Du bist wirklich undankbar!", knurre ich ihm wütend hinterher, Viktor dreht sich um und sieht mir bitterböse entgegen.
"Weißt du, was ich dir wünsche?", zischt er.
"Dass du endlich mal an dir selbst spürst, wie du die Menschen um dich herum behandelst! Denn ich kenne wirklich niemanden, der so kaltherzig ist!" Damit verschwindet er und ich lasse mich nochmals auf den Stuhl zurückfallen und seufze tief und erleichtert auf. Das wäre geschafft. Kurz darauf höre ich wieder Schritte, genervt sehe ich zur Tür. Vielleicht sollte ich für heute einfach Feierabend machen.
Es ist Becca, meine Sekretärin. Mit einem mir unklaren Blick sieht sie mir entgegen. Langsam wird der Ausdruck in ihrem Gesicht klarer, sie wirkt geschockt. Wäre nicht das erste Mal, dass sie mich so ansieht. Innerlich mache ich mich schon auf ihre Standpauke gefasst.
"Was?", fahre ich sie an und streiche mir mit der Hand über die Augen. Mein Kopf beginnt zu dröhnen, als würden zwei kleine Holzhammer unaufhörlich auf meine Schläfen klopfen.
"Ich...", beginnt sie leise.
"Was willst du sagen? Etwa wiederholen, dass ich ein kaltherziges Arschloch bin?", zische ich und reibe mir dabei über die Schläfen.
"Willem... ich... weiß, dass es dir nicht gut geht...", murmelt sie und presst die Lippen zusammen.
"Das geht dich nichts an!" Wütend funkle ich Becca an.
"Will, bitte! Wie lange kennen wir uns schon?"
"Du arbeitest für mich, mehr nicht!", knurre ich und stehe auf. Große grüne Augen starren mich an, sind sprachlos auf mich gerichtet. Mein Gewissen flüstert leise auf mich ein, weiß, dass es recht hat, zumindest was Becca betrifft. Doch für heute habe ich mein Soll an unangenehmen Situationen deutlich überschritten, im Grunde habe ich schon mehr gesagt, als sonst üblich für mich. Viel mehr. Ich bin ihr keine Erklärung schuldig. Die meiste Kommunikation mit meinen übrigen drei Mitarbeitern führe ich sonst per E-Mail oder WhatsApp. Dieses ganze Zwischenmenschliche ist nichts für mich. Ständig die richtigen Worte zu finden, den Leuten bloß nicht dabei auf die Füße zu treten und sie gleichzeitig zu vernünftiger Arbeit anzutreiben. Es geht mir einfach nur an die Substanz und ist der Part, der mich am meisten nervt an meiner Agentur. Sie sollen mich in Ruhe lasse und ich tue es im Gegenzug genauso. Und solange sie gute Arbeit leisten und nicht ständig krank machen oder die Deadlines nicht einhalten, sind für mich Gespräche, insbesondere solche wie mit Viktor, nicht erforderlich. Und doch fällt es mir schwer an diesem Tag wieder zur Ruhe zu kommen, meine Nerven zu beruhigen. Mein Kopf dröhnt unaufhörlich, doch allein in meiner Wohnung zu sein, ist jetzt auch keine Option. Ich mache spät Feierabend, bin wieder der letzte, der das Büro verlässt. Es ist schon längst dunkel, als ich meine Sportsachen überziehe und meine Joggingrunde einläute. Doch selbst das hilft heute nicht, egal wie sehr ich versuche mich auf den Rhythmus meines Körpers und meinen Atem zu vertiefen - wie kleine Lichtblitze taucht dabei sein Gesicht in der dunklen kalten Nacht wieder und wieder in meinem Kopf auf.
Sander.
Und dazu der Vorwurf von Viktor, ich könnte nicht lieben. Wenn er nur wüsste! Das hatte ich getan, einmal und es hatte mir fast das Herz herausgerissen, es war zu viel, zu tief, zu echt. Und ich bekam Angst, verdammte Angst mich in ihm, mit ihm, zu verlieren.
Seitdem sind fast sechs Monate vergangen, an der ich meine wohl erste und einzige große Liebe verlassen hatte. Von diesem Tag an habe ich kein Wort mehr mit ihm geredet, jeden seiner Anrufe ignoriert. Ja, vielleicht bin ich dadurch kühler geworden - kaltherzig, wie Viktor sagt. Vielleicht ist es wirklich so, dass, wenn man Gefühle so lange ignoriert und verdrängt, irgendwann ein Teil von einem selbst dabei abstirbt, der Teil, der einfach nicht mehr gebraucht wird. Schon vor Sander war ich nicht gerade jemand gewesen, der Gefühle gut zulassen konnte, doch nachdem ich die Geschichte mit ihm beendet hatte, war die Welt plötzlich wieder so grau und leer wie zuvor und nichts darin riss mich noch da raus. Klar hatte ich weiter Bettbekanntschaften, aber niemand ging mir so buchstäblich unter die Haut wie Sander damals.
Und so sehr ich es auch wollte, ich konnte ihn nicht vergessen und doch wusste ich, dass ich niemals den Mut finden würde, ihn jemals wieder zu kontaktieren. Mein Glück dabei, er lebt in Amsterdam und ich in Berlin. So werden wir uns also ganz sicher niemals mehr zufällig über den Weg laufen. Und so waren die Wochen und Monate seit unserem ersten und einzigen Wochenende vergangen. Auf den Frühling folgte ein hitziger Sommer, die Blätter der Bäume wurden rot und braun, bis sie schließlich ganz abfielen, die Temperatur sank unaufhörlich gen Gefrierpunkt und plötzlich stand der Winter vor der Tür. Und damit auch die mir meist verhasste Jahreszeit. Weihnachten und die ganze Zeit davor macht mir nur jedes Mal wieder zu bewusst, dass ich wie jedes Jahr alleine in meiner Wohnung sitzen werde. Und von meinen oberflächlichen Bekanntschaften erwarte ich nicht, dass sie ihre Zeit an diesen Tagen mit jemandem verbringen, der nur Dunkelheit im Kopf hat. Für mich ist es jedes Jahr dasselbe Spiel, ich gebe vor, es genau so zu wollen, um damit den mitleidigen Blicken meiner Kollegen zu entkommen, nur um mich dann zu Weihnachten, von morgens bis abends dem Punsch, Rum und zum Schluss noch dem alten Whiskey meines Großvaters hinzugeben. Immerhin bekommt so niemand meinen Kater am nächsten Tag mit.
Doch noch bin ich abgelenkt, zehn Tage vor Weihnachten. Mit meiner Arbeit, den kaum umsetzbaren Wünschen meiner Kunden, den herannahenden Deadlines. Meine Agentur im Herzen von Kreuzberg läuft gut, gerade zu dieser Jahreszeit.
Wenn ich will, und das tue ich in den letzten Wochen fast immer, verbringe ich den Großteil und an die zehn Stunden meines Tages dort. Danach gibt es noch einen Abstecher zu meinem Lieblingstunesier, zwei Straßen weiter und die obligatorische Joggingrunde, damit ich überhaupt müde werde und irgendwie schlafen kann.
Sport, das Laufen ist meine Rettung, das was die Wut in mir im Zaum hält, schon seit etlichen Jahren - vorher hatte sich das Gedankenkarussell in mir unaufhörlich gedreht, ging von meiner Familie, zu meiner beschissenen Kindheit, zu meiner Mutter, die mir das Herz versteinert hatte und natürlich zu ihm, Sander.
Seit einem halben Jahr tue ich im Grunde nichts anderes als zu arbeiten und Sport zu machen.
Es hilft für einen kurzen Moment zu vergessen, doch es hilft nicht dabei, meine Taten ungeschehen zu machen.
Wenn man so lange wegläuft, solange die eigenen Gefühle ignorierte, wird die Fassade, die man vorgibt zu sein, immer mehr das, was man wirklich ist.
Ich gelte als kühl und unnahbar und mittlerweile... Viktor hatte vielleicht wirklich recht damit, wenn er sagte, ich würde immer mehr wie ein Eisklotz wirken. Seine Worte setzen mir mehr zu als vermutet. Nicht sein Vorwurf, kühl zu sein, sondern dass ich nicht fähig sein soll zu lieben.
Und doch, ich musste an meiner Entscheidung festhalten, nie wieder wollte ich jemanden so nah an mich heran lassen, wie den blonden Mann aus Amsterdam. Nie wieder so tief fühlen.
Gerade vor Weihnachten schien es wie ein Hürdenlauf für mich, dieser seltsamen Herzlichkeit da draußen aus dem Weg zu gehen.
Doch selbst in den Clubs, in die ich fast jedes Wochenende ging, war meinen Bekanntschaften plötzlich so viel mehr nach reden zumute, nach kuscheln nach dem Sex und dabei schütteten sie mir ihr Herz aus, sagten mir Dinge, die ich nicht hören wollte, an die ich erst recht nicht mehr denken wollte.
Dabei wollte ich jeden, der meinem Herz auch nur annähernd so etwas wie dieses durchdringende Gefühl wieder geben konnte, aus meinem Leben haben. Ich konnte das nicht nochmal zulassen.
Auch heute ist wieder einer dieser grau-nassen Hürdenlauf-Dezember Tage.
Ich habe mir meine dicke Daunenjacke angezogen und die Kapuze des Hoodies darunter tief ins Gesicht gezogen. Die meisten begegnen mir mit einem skeptischen bis misstrauischen Blick. Manche lassen sich jedoch nicht mal davon abschrecken und lächeln mir in ihrer weihnachtlichen Glückseligkeit offen und freudig entgegen.
Nächstenliebe, und ich könnte kotzen. Ich lächle selten, meine Augen sind dunkel, genauso wie meine Haare schwarz sind. Nichts an mir soll die Leute um mich herum auf die obskure Idee bringen, mich anzusprechen. Und sollen sie mich doch halten für was sie wollen, sollen sie doch hoffen, was sie wollen, ich bin niemandem mehr eine Rechenschaft schuldig. Schon lange nicht mehr. Und ich habe es genau so gewollt.
Im Büro begrüßt mich Becca an diesem Morgen schon mit einem viel zu breiten Lächeln - noch nicht mal ich schaffe es mit meinem Anblick ihr das Grinsen aus dem Gesicht zu treiben.
"Hi", begrüße ich sie knapp und gehe direkt durch zu der kleinen Kaffeeküche.
Kaffee ist neben Sport so etwas wie mein Lebenselixier. Etwas, dass mir an solchen Tagen, noch so was wie ein Lächeln auf die Lippen zaubern kann.
Doch gerade heute gibt die Kaffeemaschine nur noch ein Röcheln und sterbendes Rattern von sich.
"Ernsthaft?" Fassungslos starre ich den großen schwarzen Kasten, der mit einem Bild von einer brünetten Frau für unendlichen Kaffeegenuss wirbt, an. Ein weiteres Zischen folgt, doch kein Kaffee. Wütend lasse ich meine Handfläche gegen das harte Plastik knallen.
Ein letztes Röcheln, dann ist es still.
Natürlich spüre ich Beccas Blick auf meinem Rücken. Wütend öffne ich den Kühlschrank und finde dort noch einen verschlossenen Plastikbecher mit dem Wort Frappuccino drauf. Sieht Kaffee-ähnlich aus, denke ich hoffnungsvoll und ziehe die Aluminiumfolie von dem Becher, gönne mir einen tiefen Schluck, meine Mundwinkel verziehen sich in dem Moment nach unten als mich eine übermäßige Süße, die nur noch entfernt an den der dunklen Bohnen erinnert, am Gaumen trifft. Widerlich.
"Was stehst du da noch? Willst du rausfinden, ob ich die Pampe hier runterkriege?" Ich drehe mich zu ihr, halte den Becher hoch.
Sie schüttelt den Kopf und lächelt glatt immer noch dabei.
"Was dann?", bohre ich weiter und versuche noch einen Schluck von der bräunlichen Pampe vor mir. Es wird nicht besser, mein Hals zieht sich regelrecht abwehrend zusammen. Ob das Zeug überhaupt wach macht und sich dieser Geschmacksterror an meiner Zunge somit überhaupt lohnt?
"Hast Besuch", grinst sie. Ich würde am liebsten mit der Hand nach ihrem Schmollmund greifen und ihr die Mundwinkel nach unten ziehen. Becca, oder Rebecca, wie sie eigentlich heißt, war vom ersten Tag an so anstrengend zu mir. Und doch leistet sie erstaunlich gute Arbeit und ist wohl so was wie mein letzter Bezugspunkt zu den Mitarbeitern und zu außergeschäftlichen Aktivitäten in meinem Leben. Zumindest schafft sie es jeden Monat mir eine Sushi Einladung abzuringen. Ich muss natürlich bezahlen. Eine Leidenschaft, der wir beide frönen und die ich wohl nur mit ihr teile.
"Klar."
Ich verdrehe die Augen, denn es ist unmöglich, dass jemand hier ist um mich zu treffen, kein Kunde jedenfalls, soviel ist sicher. Mein Mitarbeiter Mats ist für die Inhouse Meetings mit Kunden zuständig. Mit meiner verschlossenen Art bin ich der Kundenschreck, das war mir durchaus bewusst.
"Jetzt geh schon! Er wartet!" Sie gestikuliert fordernd mit ihren schmalen Händen.
Ich seufze und starre auf den Inhalt der bräunlichen Pampe vor mir, dann gehe ich zum Mülleimer und lasse ihn dort, wo er besser aufgehoben ist. Becca wirft mir einen empörten Blick zu, es wird doch nicht ihrer gewesen sein?
Meine Füße tragen mich nur unwillig in den großen Besprechungssaal mit den bodentiefen Fenstern und Blick auf das Kottbusser Tor.
Ein letztes Mal atme ich tief ein und versuche meine beste Seite für diesen unangemeldeten Kunden hervorzukitzeln. Kaum dass ich eintrete, erstarre ich. Auf seinen Anblick kann ich mich nicht vorbereiten, niemals.
"Was tust du hier?", belle ich sofort los, anstatt noch einmal tief durchzuatmen, meine Kraft zu sammeln, für ihn. Braune Augen sehen mir belustigt entgegen.
"Hab 'nen Anschlag auf dich vor.", murmelt der Brünette mir gegenüber, seine Füße auf meinem Tisch. Ich starre zu seinen Schuhen, makellos, schwarz, Leder, sicher teuer.
Ich will ihn anschreien, ihn packen und aus dem Büro schmeißen, doch das kann ich nicht... nicht mit ihm. Stattdessen schlucke ich all die Wut hinunter und versuche ihm nicht zu deutlich zu zeigen, was ich davon halte, dass er hier einfach so unangemeldet aufgetaucht ist.
"Wo soll ich dich diesmal raus ziehen?", sage ich in einem erstaunlich ruhigen Ton.
"Eigentlich sollst du mich nur begleiten.", grinst er und räkelt sich in dem Bürostuhl.
Hätte ich heute doch nur meine morgendliche Energie durch meinen geliebten Kaffee erhalten, so aber fühle ich mich bei seinem Anblick nur seltsam erschöpft und matt.
"Du hast wirklich Nerven hier aufzutauchen!" Leise und abgehackt kommt es aus meinem Mund.
"Hab ich das? Wer ist denn damals einfach abgehauen?" Er zieht die Beine vom Tisch und sieht mich durchdringend an.
"Ist dein Gedächtnis so schlecht? Du solltest wissen, warum ich gegangen bin." Meine Hände beginnen zu zittern, ich balle sie zu Fäusten, jetzt bloß keine Schwäche zeigen.
"Schwachsinn, du hast uns damals im Stich gelassen!" Wie ein Messer schneiden seine tadelnden Worte in meine Brust. Die Wut in mir gewinnt deutlich an Überhand, sie schwappt regelrecht über die Oberfläche.
Ich kann und will ihn hier nicht sehen, nicht an einem der wenigen Orten, an denen ich mich noch sicher fühle. Nicht gut, aber sicher, immerhin.
"Sag einfach was du willst! Geld? 'Nen Platz zum Untertauchen?"
Der Dunkelhaarige steht auf und funkelt mich dabei zornig an.
"Halt einfach mal die Klappe und hör mir zu, verdammt!", seine Hände abwehrend vor sich haltend. Eine Geste, die mich verwirrt.
Ich presse mühsam die Lippen zusammen.
"Du musst mich begleiten.", gibt er von sich, mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Begleiten, wohin? Warum sollte ich überhaupt jemals wieder irgendetwas für ihn tun? Ich schulde ihm absolut nichts!
"Spinnst du? Und überhaupt, wohin?" Und doch ist da diese stichelnde Neugier, wir haben uns seit über zwei Jahren nicht gesehen. Hat er sich verändert? Konnte er das überhaupt?
"Nach Amsterdam!", grinst er mir breit entgegen.
Das, was womöglich mal mein Herz war, setzt in dem Augenblick kurz aus.
Er merkt es nicht und plappert weiter, "... ich habe 'ne unglaubliche Chance bekommen, eine große Firma, die mich einstellen will, du müsstest nur als mein Leumund aussagen."
Ich schüttle den Kopf, immer und immer wieder.
Nein - für meinen Bruder würde ich nicht noch einmal die Hand ins Feuer legen und mich verbrennen.
"Warum sollte ich das tun?", frage ich fassungslos.
"Fuck man, ich hab' nichts ausgefressen, okay?" Er kommt ein paar Schritte auf mich zu. Ich stehe immer noch an der Tür.
Durch die ungewollte Nähe erkenne ich einen lange nicht gesehenen Ausdruck in seinen Augen. Aufrichtigkeit? Verwundert blicke ich ihn an.
"Es geht um einen Job, 'nen richtig guten Job. Ich hab' mich verändert, okay? Ich hab' seit Jahren nichts mehr geklaut oder Leute verarscht!"
"'Ein Job, in Amsterdam?" Unmöglich.
"Ja man, in Amsterdam! Meine Freundin wohnt da, ich will bei ihr wohnen, aber ohne Job und halt ohne Leumund wird das schwer und nein, die wissen nichts von meiner Vergangenheit, deswegen brauch' ich ja dich!" Wieder das Grinsen in seinem Gesicht, es macht mir eher Angst.
Ich ziehe mir den Stuhl vor mir heran und starre ihn einfach nur noch an. Luke lässt sich neben mich fallen.
Tatsächlich, bei näherem Betrachten wirkt er anders, er hat immer noch die kantigen Gesichtszüge, von denen ich mich selbst nicht frei machen kann, aber der Ausdruck in seinen Augen, diese Gier, die ich immer darin gesehen habe, scheint weg zu sein.
"Freundin?", hake ich nach.
"Jepp, steht nicht jeder aus der Familie auf Typen." Sein Lachen dunkel und dröhnend folgt.
Lachen ist das letzte, nach dem mir jetzt ist.
"Ernsthaft?" Die dämlichen Witze, um mich aufzuziehen, scheinen geblieben zu sein.
"Sorry, ist mir so rausgerutscht... es tut mir leid, okay? Alles mit Mum, dass ich dich damals mit da rein gezogen hab', aber verdammt, das ist bald zehn Jahre her!"
"Acht"
"Acht?"
"Es ist erst acht Jahre her!", gebe ich gereizt von mir.
"Verdammt lange Zeit, trotzdem."
"Und warum sollte ich dir dann helfen?"
"Warum, Fuck? Weil du mein einziger Bruder bist!" Er wedelt mit den Armen, als müsse er mir die Tatsache damit noch mehr verdeutlichen.
"Und es ist doch auch nur für ein Wochenende, wir können bei Noora wohnen und du stellst dich denen kurz vor, erzählst denen, was für ein toller Kerl ich bin und ich krieg' den Job!"
"Klingt aus deinem Mund schon wieder viel zu einfach. Wer ist Noora, deine Freundin?"
Er nickt, ein Strahlen geht dabei über sein Gesicht. Ich schüttle mich innerlich, selbst mein Bruder hat jetzt eine Beziehung, ist sesshaft geworden? Vielleicht ist das hier auch einfach gerade nur ein Albtraum und ich kann nicht aufwachen?
Wie sagt man, Familie ist dicker als Blut? Kann schon sein, trotzdem, der Hass auf meinen Bruder wird nicht von einem auf den anderen Tag verschwinden, doch mir ist bewusst, dass ich dringend aus dieser Tretmühle hier heraus muss, ich Abwechslung brauche, wenigstens um endlich mal wieder eine Nacht durchzuschlafen und von meinen Problemen wegzukommen. Und kurz vor Weihnachten Zeit mit dem letzten wohl noch lebenden Mitglied meiner Familie zu verbringen, scheint auf einmal nicht mehr ganz so obskur auf mich.
Der wahre Grund für meine Zustimmung liegt aber nicht an meiner plötzlich wiederentdeckten Nächstenliebe, sondern einfach an seinem Ziel, Amsterdam.
Die Erinnerung an ihn und die Nacht damals ist regelrecht in mich eingemeißelt.
Sein offenes Lächeln, seine funkelnden aquamarine-farbenen Augen, die hellen blonden Haare, wie seine Finger so hauchzart über meine Brust strichen, sich ihren Weg weiter hinab tasteten, meinem Körper dabei einen wohligen Schauer bereiteten.
Sander, der so wissend meine empfindlichsten Stellen fand, mich dort küsste, berührte, außer Atem brachte.
Unsere Hände, damals fest miteinander verschränkt, als wir uns liebten, kaum ein Stück dafür voneinander abrückten, uns ununterbrochen in die Augen sahen, den Namen des jeweils anderen auf den Lippen. In dieser Nacht hatte ich so deutlich diese Liebe, dieses Feuer für mich in ihm gesehen und in mir gespürt. Und ich hatte es zurückgegeben, war einmal aufrichtig und ehrlich gewesen, hatte ihm nichts vorgespielt, war einfach nur ich selbst gewesen.
Doch das mit Sander ist jetzt nicht mehr als ein Andenken, tief in meinem Kopf verankert, nichts was sich nochmal wiederholen wird. Und auch wenn ich weiß, dass es längst zu spät für uns ist, kann ich keine Nacht schlafen, ohne dass er mich in meinen Träumen heimsucht.
Zeit heilt alle Wunden? Nicht bei Sander und mir, als würde uns irgendetwas Unausgesprochenes verbinden. Eine Verbindung, die ich einfach nicht verstehe, nicht lösen kann. Zumindest von meiner Seite.
Dabei besteht überhaupt kein Grund fürs Hoffen, seine Nachrichten, seine Briefe, seine Anrufe hatten schon vor drei Monaten und zehn Tagen aufgehört.
Er hat sicher längst schon jemand Neues gefunden, jemanden, der ihn nicht zurückstößt. Sander ist wie die Sonne, um die sich jeder drehen will, der jeden mit seinen Strahlen in den Bann zieht - ich dagegen bin wie der Novemberregen und eine eisige dunkle Winternacht.
Etwas, was niemand will und braucht.
*
Es ist seltsam nach so langer Zeit wieder mit meinem älteren Bruder zusammen zu sein, ich will ihm nichts aus meinem Leben erzählen, ehrlich gesagt, gibt es auch nicht wirklich viel zu berichten.
Es gibt nur die Agentur und den Sport für mich. Gut, ab und an die Abende mit Becca und die Nächte in den Clubs, anonyme Sex-Bekanntschaften inklusive.
Doch nicht mal das wirkt noch wie eine Abwechslung, lässt mich besser fühlen.
Alles ist zu einer Gewohnheit geworden, kein Schritt, den ich Tag für Tag tue, füllt mich mehr aus.
Ich funktioniere nur noch, aber ich fühle dabei das Leben nicht mehr in meinen Adern. Nicht so wie damals, dieses pure Glück, das pochende Herz, dieses feine Ziehen in meinem Bauch, als ich, wie auch jetzt mit meinem Bruder, unterwegs nach Amsterdam war. Doch gerade fühle ich mich einfach nur kalt und regelrecht gelähmt.
Natürlich hämmert die Frage buchstäblich in mich ein, soll ich ihn treffen? Meine eigenen, wie in Stein gemeißelten Regeln über Bord werfen und ihm schreiben, sobald ich in Amsterdam bin?
Kann ich das, kann ich überhaupt noch - aus meiner Haut heraus?
So sehr und oft ich es schon versucht habe, die Abende mit Rebecca, die Club-Bekanntschaften, ich stoße die Menschen, denen etwas an mir liegt, immer wieder von mir.
Im Grunde bin ich ein mürrischer, gelangweilter Idiot geworden, der ihm nichts, aber auch gar nichts bieten kann.
Mein Bruder fängt plötzlich an zu pfeifen und wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum.
"Ich hab' gesagt, was ist mit deinem Liebesleben? Gibt es jemanden?" Ich seufze über die Frage. Es ist klar, dass seine Neugierde an meinem Leben in den Stunden der Fahrt irgendwann wieder aufflammen würde. So war es schon früher gewesen.
"Nein", antworte ich knapp.
"Echt jetzt? In Berlin gibt's doch sicher 'ne Menge von deiner Sorte".
"Ey, ernsthaft?", blaffe ich ihn an.
"Sag ja bloß, musst doch nur in so 'nen Club und schon hast du die Auswahl, sind bestimmt ganz verrückt nach dir.", fantasiert er weiter.
"So der Badboy-Typ, der niemals die Lippen verzieht und immer grimmig drein blickt, wer will das nicht?" Ein Glucksen verlässt seinen Mund.
"Halt einfach die Klappe, okay? Ich begleite dich, ja, aber hör auf mir Fragen zu meinem Leben zu stellen!"
Mit hochgezogenen Augenbrauen sieht er mir entgegen. Mustert mich eindringlich.
"Schau auf die Straße!", fahre ich ihn an und greife erschrocken nach dem Lenkrad, als das Auto beginnt nach links zu schliddern.
Luke schüttelt den Kopf und schaut endlich wieder nach vorne.
"Fuck, bist du echt noch so angepisst?" Seine beiden Hände umgreifen das Lenkrad jetzt deutlich fester. Ich zische leise.
"Ob ich noch angepisst bin, dass ich deinetwegen zwei Jahre auf Bewährung bekommen habe und fast im Knast gelandet bin?" Ich hatte mich getäuscht, mein Bruder ist noch derselbe Idiot wie vor zwei Jahren.
"Ich war dort drei verdammte Jahre! Also wirf mir das nicht vor!"
"Und hättest du gewollt, dass ich auch rein geh', oder was soll der Mist hier gerade?"
Luke seufzt deutlich hörbar auf.
"Oh komm schon, Will, krieg dich wieder ein! Dir geht's doch gut, du hast diese Hipster-Agentur, verdienst 'ne Menge Kohle damit, hör auf zu jammern."
Am liebsten würde ich die Tür aufreißen und einfach raus springen. Zu deutlich wird mir in diesem Moment wieder der Hass auf meinen Bruder bewusst. Doch dass mein Verhalten kindisch und äußerst gefährlich wäre, ist mir durchaus klar.
So begnüge ich mich damit, die Arme zu verschränken und zu schweigen - es ist der einzige Weg, wie damals schon, mit ihm und seinen Fragen zurechtzukommen.
Ich folge ihm nicht zu der Wohnung seiner Freundin - nehme mir stattdessen ein Zimmer im Stadtteil Negen Straatjes. Vorher haben wir noch geklärt, wo ich morgen Mittag zu dem Treffpunkt an seiner zukünftigen Firma hinkommen soll.
Jetzt habe ich noch mindestens sechs Stunden Zeit bis ich überhaupt an sowas wie schlafen denken kann. Soll ich zu ihm gehen?
Ein Blick aus dem Fenster des Zimmers offenbart mir, dass auch in Amsterdam Weihnachten deutlich auf den Straßen zu erkennen ist. Direkt auf dem Platz vor mir ist ein bunter Weihnachtsmarkt aufgebaut. Überall leuchten Lichterketten, ein riesiger Tannenbaum thront in der Mitte, um den sich die Holzbuden sammeln. Menschen die kichern, Kinder die glucksend vor einem kleinen Karussell stehen. Daneben an einer Wäscheleine in den Stadtfarben, rot und weiß, hängen übergroße Strümpfe nach dem immer wieder einige der Kinder versuchen zu greifen. Überall diese heimelige Weihnachtsstimmung, natürlich auch hier, wo ich eigentlich einfach nur weit weg davon sein wollte.
Genervt drehe ich mich um und krame mir ein paar frische Sachen aus meinem Koffer und gehe duschen.
Hier zu sein, macht es nur noch schlimmer. Was habe ich mir auch gedacht? Dieses nagende Gefühl in mir, mein Herz, das kaum dass wir die Grenze der Stadt erreicht haben, wieder so überdeutlich begonnen hat zu schlagen. Als hätte es die letzten Monate in einer Art Winterschlaf verbracht. Auch die kalte Dusche hilft nicht, das seltsame Gefühl bleibt.
Ich spüre dieses nervöse Kribbeln bis in die Spitzen meiner Zehen. Ich kann jetzt nicht hier rumsitzen und nichts tun. Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe, reibe über meinen flachen Bauch. Alles in mir ist in Aufruhr.
Ich nehme mein Handy in die Hand und rufe unseren Chat auf, drei Monate und zwölf Tage.
Seine letzten Worte tun so weh. Gerade jetzt, gerade hier.
[01:02] Sander: Ich hätte niemals gedacht, dass du auch zu mir so sein wirst.
Viktors Worte kommen mir wieder in den Sinn, ich bin nicht so kalt, so lieblos. Ich klammere mich an die Hoffnung, die mein Verstand versucht mir zu geben. Dann hole ich tief Luft und schreibe.
[17:02] Willem: "Hey"
Und lösche es im nächsten Moment wieder.
"Fuck!", fluche ich vor mich hin, stehe auf, wandere in dem kleinen Zimmer umher wie ein Tier im Käfig.
Ratlos lasse ich mich wieder in das Bett fallen und gebe mich meiner inneren Dunkelheit hin.
Ich muss eingedöst sein, erst das sanfte Vibrieren meines Handys lässt mich hochschrecken, aus einem Traum, natürlich mit Sander. Seine blauen Augen kann ich selbst jetzt, im wachen Zustand noch regelrecht vor mir sehen.
Ich reibe mir über die Augen und ohne auf das Display zu schauen, nehme ich ab.
"Hmm?", brumme ich.
Ich höre nichts, außer das Atmen von jemandem, tief und fest.
"Hallo?", frage ich verwirrt nach.
"Wer ist da?" Ich nehme das Telefon von meinem Ohr und betrachtete den Namen darauf, mein geschundenes Herz bleibt stehen.
"Sander!", keuche ich.
"Warum? Warum meldest du dich jetzt?" Ich kann durch das Telefon die Bitterkeit in seiner Stimme hören.
"Ich... ich bin hier", stammle ich.
"Hier?"
"In Amsterdam." Meine Hand beginnt zu zittern.
"Shit.", höre ich ihn zischen.
"Es... tut mir leid", bringe ich noch über die Lippen, endlich. Doch da hat er schon aufgelegt.
Scheiße, ich habe es versaut, so richtig, irgendetwas in mir drängt mich zu einer letzten Verzweiflungstat und sendet ihm die Adresse von einem Kaffee hier in der Nähe und eine Zeit.
Wütend über mich selbst stapfe ich los, über den Weihnachtsmarkt der jetzt mit deutlich mehr Menschen gefüllt ist. Ihr Lachen dringt so deutlich, so schmerzvoll an meine Ohren.
Es riecht nach Zimt, Plätzchen und Glühwein, Jingle Bells wird in Endlosschleife gespielt.
So schnell ich kann, drücke ich mich durch die Menge, ernte böse Blicke und ziehe mir die Kapuze meines Hoodies dabei noch tiefer ins Gesicht.
Das Café ist nicht weit weg, es ist fast leer um diese Uhrzeit. Ich kann schon von außen durch die Scheibe erkennen, dass er nicht da ist. Seufzend trete ich ein und bestelle mir einen schwarzen Kaffee.
Ich hatte im Grunde auch nichts anderes erwartet. Eine dahin gestammelte Entschuldigung, ein halbes Jahr zu spät, würde ihn kaum zurück zu mir bringen.
Sicher könnte ich jetzt auch zu seiner Wohnung gehen, aber was würde das noch ändern? Nach allem, was ich ihm angetan habe, habe ich in seinem zu Hause nichts verloren.
Und er hat garantiert nicht ein halbes Jahr darauf gewartet, dass ich endlich aus meiner Haut rauskomme und ihn anrufe. Er hat sein Leben hier in Amsterdam und ich tue so etwas wie leben in Berlin.
Eine Stunde sitze ich da, trinke einen schwarzen Kaffee nach dem nächsten, starre aus dem Fenster und dem bunten Treiben der Menschen dort draußen zu. Wie sie mit bunten Tüten beladen an dem Fenster vorbei marschieren - es ist wie ein zufälliger Einblick in das Leben dieser Fremden.
Ungeniert beobachte ich aus meinem sicheren Versteck, wie ein Paar um die Größe des Weihnachtsbaums streitet, ihre lauten Stimmen kann ich auch hinter dem Glas noch deutlich hören, irgendwann lenkt der Mann ein und nur wenig später sehe ich ihn einen monströsen grünen Baum hinter sich herziehen.
Kaum sind die beiden aus meinem Sichtfeld verschwunden, stellt sich ein junges Paar vor das Fenster und küsst sich, ach was verschlingt sich regelrecht. Ich seufze laut auf und bin froh als sie endlich verschwinden. Erst ein deutliches und glucksendes Kinderlachen weckt wieder meine Aufmerksamkeit. Zwei Brüder, bewaffnet mit jeweils einer riesigen Zuckerwatte gehen mit breitem Grinsen auf ihren verschmierten Mündern vorbei, gefolgt von ihren deutlich gestresster drein blickenden Eltern. Ein leichtes Ziehen geht durch meine Brust.
Es gibt ein merkwürdiges Bild ab, es gibt kein gut und schlecht, weiß und schwarz dort draußen, jedem hier, genauso wie in Berlin macht diese Zeit des Jahres auf ihre Art und Weise zu schaffen.
Und doch, wenn es irgendwo einen Ort auf dieser Welt gäbe, an dem ich diesen weihnachtlichen Lichtern und dieser ganzen geheuchelten Glückseligkeit entkommen könnte, würde ich jetzt dort sein.
Aber weder ein dunkler Wald noch eine einsame Insel auf den Fidschis wird mich jetzt retten können.
Ich weiß selbst, dass nicht die Menschen mit ihren glücklichen Gesichtern da draußen daran Schuld sind, dass ich so viel Wut und Hass in mir fühle.
Dass der Kern meiner Probleme mit Weihnachten so viel tiefer liegt, in meiner Kindheit begraben ist, in meinem Kopf weggesperrt.
Doch der weihnachtliche Trubel da draußen, selbst der Anblick eines Weihnachtsbaums, bringt den Schmerz Jahr für Jahr zuverlässig zurück und lässt die Tür in meinem Kopf wieder aufgehen.
Der Weihnachtsabend war der Tag, an dem meine Mutter mich und meinen Bruder ins Heim brachte, als wären wir nicht mehr als ein paar unliebsame Tiere, die angefangen hatten zu nerven. Mit meinen damals zwölf Jahren läutete dieser Abend das Ende meiner Kindheit ein.
Wütend starre ich auf meinen Kaffee, die Fassungslosigkeit über den Tag vor fast zwölf Jahren zerrt noch heute an mir. Doch ist es Grund genug, allen und jedem zu misstrauen? Ich will mich ja ändern und doch fällt es mir auch so viele Jahre später noch so verdammt schwer überhaupt jemandem zu vertrauen und jemanden, ihn, an mich heran zu lassen.
Ich sehe wieder auf, hoffe auf weitere Ablenkung von meinen dunklen Gedanken und blicke genau in die Hoffnung, die ich damals so unbedacht abgewiesen hatte.
Sanders wunderschöne blaue Augen sehen mir entgegen.
Ich erstarre, lasse fast die Tasse in meiner Hand fallen.
Sein Blick ist wütend auf mich gerichtet, er gestikuliert mit den Armen und winkt mich aus dem Laden. So schnell ich kann, schnappe ich mir meine Jacke und gehe zu ihm.
"Hey", stammle ich, befangen.
Er zieht die Augen zusammen und lässt seinen Blick von Kopf bis Fuß über mich wandern. Selbst seine Augen auf mir reichen, um dieses unsagbare Kribbeln in meinem Bauch wieder auszulösen.
"Siehst fertig aus."
"Du siehst wunderschön aus", purzelt es aus mir so unbedacht heraus.
Er schüttelt den Kopf, scheint deutlich genervt. Aber er ist hier! Ein Lächeln, das erste ehrliche seit Monaten kommt mir über die Lippen. Einfach nur vor ihm zu stehen, setzt etwas in mir in Gang. Ein sanftes Ziehen in meiner Brust.
Sein Blick ist immer noch auf mich gerichtet, ich verkneife mir jedes weitere Wort und sehe ihm hoffnungsvoll entgegen.
"Komm mit."
"Wohin?" Doch da dreht er sich schon um und geht.
Ich kann kaum Schritt halten mit ihm, er stürmt regelrecht voran.
Wir verlassen die Einkaufsstraßen, gehen am Bahnhof vorbei, durch enge Gassen hindurch, überqueren mehrfach die Grachten, kommen an weniger schönen mehrstöckigen Wohnhäusern vorbei. Die Gegend ist mir fremd, die Straßenbezeichnungen sagen mir nichts und nur noch vereinzelt kommen uns Menschen entgegen.
Erst als die Straßenzüge immer dunkler werden und die Straßenbeleuchtung nur noch sanft auf uns hinab flackert, hält er an und dreht sich wieder zu mir um.
Wir stehen auf einer Straße, die mit Pflastersteinen gesäumt ist. Um uns herum scheint nichts und niemand zu sein. Ein eisiger Windhauch erfasst mich und lässt die Kälte unter meine Jacke und mein Shirt fahren. Ich fröstele, verschränke die Arme vor mir.
Was tun wir hier? Unsicher blicke ich ihm entgegen. Sanders Blick wirkt so kühl, so fremd.
"Willst du mich umbringen?", scherze ich.
Sanders Augen ziehen sich zusammen.
"Was willst du eigentlich?", fragt er ohne auf meine Frage zu reagieren.
Verwundert mustere ich ihn. In seinem Gesicht liegt kein Anzeichen dafür, dass er sich mit mir hier nur einen Scherz erlaubt.
Ich sehe mich verwirrt um, wir stehen an einer der vielen Grachten, direkt neben einer Brücke. Neben uns schaukeln ein paar alte Holzkähne.
Links von uns befindet sich ein hohes, altes und ziemlich verfallenes Fabrikgebäude. Die meisten bodentiefen Fenster darin sind längst durchschlagen.
"Was...?", stammle ich unsicher.
"Weißt du es überhaupt?" Seine Augen scheinen mich in dem Moment regelrecht zu durchbohren. Ich erkenne ihn kaum wieder, das Bild vor mir hat kaum etwas mit dem fröhlichen und unbeschwerten Mann zu tun, den ich damals getroffen habe.
"Was soll das?"
"Was das soll?" Er sieht zur Seite und bläht die Wangen auf.
"Warum stößt du alle von dir weg?"
Ich mache eine unbeholfene Geste mit meinen Händen. Das jetzt hier mit ihm zu erörtern, scheint mir weder der richtige Moment noch der richtige Ort.
"Sag es! Was willst du?", fordert er mich auf. Seine Stimme ist immer noch eiskalt, es trifft mich. Sander kratzt mit seinen Worten an der Oberfläche meines Panzers, weiß, dass er mich nicht kaltlässt. Mir hätte bewusst sein müssen, dass, sobald ich ihn wiedersehe, mein Herz sehnsüchtig nach ihm verlangen würde, mein Innerstes in mir aufschreit und jede Faser meines Körpers nach ihm greifen will.
Doch das darf ich nicht, nie wieder. In mir brennt es schmerzhaft bei der Erkenntnis.
"Sander...", flüstere ich, "ich weiß, dass du sauer bist... Es tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe... Ich, -"
"Spar dir das und antworte!" Er kommt einen Schritt auf mich zu und sieht mir direkt in die Augen, deutlich fordernd.
Die Sekunden verstreichen, das Bellen eines Hundes dringt leise an mein Ohr. Es muss weit weg sein, hier ist es wie ausgestorben.
"Nicht viel.", gebe ich leise zu.
Mein Leben schien bisher zwar nicht perfekt, aber ich hatte darin alles, was ich brauchte, zumindest um ein relativ unbeschwertes Dasein zu führen.
Doch seit Sander in mein Leben getreten ist, schien das mir bei Weiten nicht mehr zu reichen. Eigentlich wollte ich seitdem nur noch eins, ihn.
Er schnaubt, seine Lippen pressen sich zusammen.
"Und was genau?"
Ich kann es nicht zugeben, nicht hier, nicht jetzt, wie sehr ich ihn wirklich brauche.
"Warum willst du das überhaupt wissen?" Meine Stimme hat sich der Umgebung angepasst, wirkt ganz rau und leise.
"Soll ich dir sagen, was ich wollte?" Deutlich lauter, fast schrill.
Seine Augen verändern sich, die Eiseskälte wird wärmer, heller, sie weiten sich. Er schluckt, schwer.
Ich nicke ganz schwach, wage kaum zu hoffen.
"Bis vor einem halben Jahr, dich!", er beißt sich auf die Unterlippe und sieht dann zur Seite.
Meine Lippen beben.
"Und jetzt?"
Sein Kopf bewegt sich kaum merklich, ein leises Keuchen presst sich zwischen seinen Lippen hervor. Es ist diese winzige Geste, das minimal hörbare Geräusch, das mir in aller Deutlichkeit zeigt, wie sehr ich ihn verletzt habe. Ich ertrage es kaum, sein Schmerz überträgt sich regelrecht auf mich, mein Magen zieht sich zusammen, mein Herz pumpt bis zum Hals. Es tut weh.
"Antworte!", keucht er leise, seine Nasenflügel blähen sich auf.
Ich habe ihm all diesen Kummer, dieses Leid angetan und doch schaffe ich es nicht, die Worte zu sagen, die er hören will.
"Ich weiß es nicht.", flüstere ich stattdessen.
"Du weißt es nicht?" Fassungslos blickt er mich an.
Dann nimmt er plötzlich meine Hand und zieht mich mit sich, direkt auf die eiserne Tür des zerfallenen Fabrikgebäudes zu.
Ich bin viel zu überrascht, um Widerstand zu leisten und die unerwartete Berührung seiner Finger an meiner Haut, lässt alles andere als Angst in mir aufkommen. Es ist das winzige Glimmen von Hoffnung.
Doch diese wird augenblicklich zerstört als ich ihm folge.
Auf das, was mich dort drinnen erwartet, bin ich in keinster Weise vorbereitet.
Die Fassade des Gebäudes, das alte und kaputte, von Efeu umrankte Gemäuer hat mir rein gar nichts über sein innerstes Verraten.
Im ersten Moment ist es nur absolute Dunkelheit, die mich trifft, doch als meine Augen sich an die Umgebung gewöhnen, erkenne ich das Flackern von Kerzen auf dem Boden.
Wir stehen in einem Flur, Tapete hängt von den Wänden, Löcher darin, zeigen morsches Holz dahinter.
In den Ecken und an der Wand neben mir kauern drei Gestalten.
Meine Nase kräuselt sich, mein Magen zieht sich zusammen. Es riecht nach Zigaretten, Schnaps, Erde und deutlich nach Urin.
Das Flackern der Kerzen lässt die Figuren vor mir unwirklich wirken, fast wie Geister, die nur einen schwachen orangefarbenen Schimmer mit dunklen Löchern im Gesicht tragen.
Und doch erkenne ich, dass es Menschen sind. Große, aufgerissene Augen starren uns entgegen. Ein Zischen geht durch den Raum, der Boden knarzt unter ihren erschrockenen Bewegungen auf.
Ich unterdrücke einen Schrei, der mir in der Kehle brennt.
Doch Sander bleibt nicht stehen, er lässt meine Hand los und geht zu einer der Gestalten rechts in der Ecke. Ich spüre den warnenden Schrei zu gehen in meinem Kopf, aber meine Beine bewegen sich nach vorne.
Es ist die Angst um Sander, die mich nicht wegrennen und erstarren lassen. Sander, der gerade im Begriff ist, etwas absolut Dummes zu tun!
Ich stelle mich neben ihn, schaue mit offenem Mund auf die Gestalt vor mir hinab. Versuche den Geruch, den das Gebäude und die Menschen darin verströmen zu ignorieren, nicht zu tief einzuatmen.
Bei näherer Betrachtung erkenne ich helle Haare, tief eingefallene Augenhöhlen, Wangen die spitz herausragen. Es ist ein Mann, dessen Alter ich nicht schätzen kann, er könnte an die fünfzig sein, aber genauso gut auch Mitte zwanzig, wie ich.
Seine Haut wirkt wie Pergamentpapier, ist an Armen und Beinen rissig und spröde, wie seine Lippen. Ich erkenne die deutlichen Einstiche an seinen Gelenken.
Er hat sich gegen die Wand hinter sich gelehnt und scheint bereits wieder das Interesse an uns verloren zu haben. Leise und mit rauer Stimme murmelt er vor sich hin. Sander beugt sich zu ihm hinab.
"Was willst du?", fragt er ihn.
"Ernsthaft?", fahre ich ihn an, Panik kriecht in mir auf. Was soll das hier?
Der Mann sieht uns aus seinen glasigen Augen entgegen, öffnet den Mund leicht, grinst breit dabei und klappt ihn im nächsten Moment wieder zu. Dann lacht er laut und schrill auf.
Ein Schauer, so tief und durchdringend, geht durch meinen Körper.
Die Hand des Mannes geht nach oben, gleitet nach vorne, greift nach Sanders schwarzer Lederjacke.
Nackte Panik ergreift mich, mein Verstand schreit nur noch 'raus, raus, raus'.
Ich zerre an Sanders Arm, ziehe ihn zu mir herauf.
"Was soll das, Sander?", flüstere ich aufgebracht. Ich zerre weiter an ihm, doch er bewegt sich kein Stück von dem Unbekannten weg.
Wütend blickt er mich an.
"Das sind Menschen, keine Monster! Menschen, die vergessen wurden, die nichts mehr haben auf das sie hoffen können."
"Sander...", versuche ich ihn mit leiser Stimme zur Vernunft zu bringen, doch er sieht mir weiter aus zusammengekniffenen Augen entgegen.
"Bist du einer von ihnen? Hast du aufgegeben, wie sie?", faucht er.
Ich schlucke. Die Augen der Männer verfolgen mich regelrecht aus ihren Ecken heraus.
Sie beginnen miteinander zu sprechen, Worte, die ich nicht verstehe, sie bilden einen seltsamen und verzerrten Singsang in meinem Kopf. Mir wird schwindelig, mir wird schlecht. Ich will nur noch hier raus.
Ein weiteres Mal zerre ich an Sanders Jacke, diesmal gibt er nach und mit letzter Kraft ziehe ich ihn zurück zur Tür, stoße diese mit dem Fuß auf und schubse ihn regelrecht aus dem dunklen Loch zurück in die klare, kalte Winternacht.
Fassungslos sehe ich zu ihm. Seine Kehrseite hebt sich kaum von der schwarzen Nacht ab, nur seine hellen, blondierten Haare stechen hervor.
Wütend greife ich nach seinem Handgelenk, drehe ihn zu mir.
"Sag mal, spinnst du?", schreie ich ihn an.
Er zuckt nicht einmal zusammen. Sein Blick ist auf mich gerichtet, aber kaum zu deuten. Neben Wut schwingt darin etwas anderes mit.
Ich habe meinen Griff um seine Hand immer noch nicht gelockert. Die Wärme seiner Haut an meiner brennt sich regelrecht hinein.
"Was ist dein Problem?", knurrt er und schüttelt mich ab.
"Was mein Problem ist? Du schleppst mich in ein verdammtes Drogenhaus? Was soll das?"
Sander schließt kurz die Augen und bewegt kaum merklich den Kopf.
"Denk mal nach."
Immerhin, denke ich, wir redeten wieder miteinander...
Das Problem mit Sander ist - er kennt mich zu gut.
Er kennt meine Antwort schon, bevor ich sie ihm geben kann und er kennt dieses unendliche Gedankenkarussell in meinem Kopf. Er weiß, was mich beschäftigt und vor was ich davon laufe... nur eine Sache wusste er nicht, dass ich es auch bei ihm tun würde.
Bevor ich damals zu ihm nach Amsterdam gekommen bin, haben wir fast ein Jahr geschrieben. Er war mein Rettungsanker. Jeden Abend, wenn ich fertig und deprimiert nach Hause kam, baute er mich auf, jeden Tag war er der einzige auf den ich mich noch freute. Er wusste um meine Probleme, meine Vergangenheit und doch habe ich gerade jetzt keine Antwort für ihn.
Weder konnte ich ihm beantworten, was ich wollte, noch wohin ich wollte. Die Lethargie der letzten Monate lähmt mich regelrecht.
"Morgen" Sander sieht mich aus zusammengezogenen Augen an, während er spricht. "kommst du zu der Adresse, die ich dir nachher schicke!" Und damit verschwindet er einfach und lässt mich mit einem riesigen Fragezeichen zurück in der Dunkelheit.
*
In der Nacht finde ich nur schwer Schlaf, kaum bin ich eingeschlafen, verfolgen mich die verzerrten Gesichtszüge der Männer in dem Haus.
Sie wispern in mein Ohr, strecken ihre dünnen zerstochenen Arme nach mir aus, knurren, bellen, wie Tiere. Ich versinke in ihren dunklen Augenhöhlen, falle tiefer und tiefer in die Schwärze darin hinab.
Schweißgebadet schrecke ich aus dem Albtraum auf, ein Wimmern dabei deutlich aus meiner Kehle dringend.
Ich lasse mein Gesicht in die Hände fallen, reibe darüber, als könnte ich die schrecklichen Bilder damit irgendwie vertreiben. Ein stumpfer Schrei perlt von meinen Lippen.
Ich bin nicht wie sie! Wieso sagte Sander das nur?
Ich habe jetzt so viele Fragen in meinem Kopf, so viele mehr als Antworten.
Nach einer kalten Dusche und ohne Frühstück stehe ich um 8 Uhr morgens an der Adresse, die mir Sander gestern noch gesendet hatte.
Nur dass es keine Adresse, sondern ein Grabstein ist, vor dem ich stehe. Auf ihm ist der Name Thijs Granten eingraviert.
Verwirrt sehe ich mich um. Es ist eines von nicht mehr als ein paar dutzend Gräbern auf dem alten Friedhof, aber eindeutig das, was er meint. Der Name stand mit in der Adresse.
Das kann nicht sein ernst sein!
Wütend drehte ich mich um und sehe ihm direkt ins Gesicht, mit ernster Miene kommt er mir entgegen.
"Was soll das?", blaffe ich ihn ohne jede weitere Begrüßung an. Meine Geduld ist am Ende, die Nacht zu kurz.
Wir stehen auf einem verdammten Friedhof, es wird gerade erst hell, mir friert der Arsch ab und zu allem Überfluss fängt es in dem Augenblick auch noch an zu regnen.
"Das fragst du ziemlich oft. Hast du eine Antwort für dich darauf gefunden?"
"Sander! Verdammt, lass es, ich war ein Arschloch, ja, aber hör auf so komische Spiele mit mir zu spielen."
"Spiele?", faucht er.
"Ich versuch' dich zu retten, du Idiot!", fährt er mich aus zusammengezogenen Augen an.
"Mich retten?", schnaube ich. "Vor wem willst du mich denn bitte retten?"
Sander schüttelt den Kopf und fängt laut an zu lachen, sein Blick weicht dabei nicht einmal von mir. Es ist kein glückliches Lachen, es klingt eher als würde er daran ersticken.
"Du kapierst echt gar nichts mehr, oder?", keucht er.
Mir fällt keine Antwort mehr ein, auch wenn ich langsam ahne, was er mir sagen will, aber ich will es nicht hören.
"Hast du dir die Grabinschrift durchgelesen?"
Ich verdrehe die Augen.
Was auch immer mir Sander damit sagen will, scheinbar konnte er es mir nicht einfach so sagen. Also drehe ich mich erneut um und stakse zu dem Grabstein zurück.
Der Name prangt groß in der Mitte des Grabsteins, darunter entdecke ich erst nur das Geburts- und Todesdatum aus dem 18. Jahrhundert.
Efeu rankt sich an dem alten Grabstein entlang, Moos wächst herauf. Ich erkenne erst auf den zweiten Blick, dass noch eine weitere Inschrift unten eingemeißelt ist und schiebe das Unkraut zur Seite.
Gottlob, er ist tot!
In Niederländisch, frei von mir übersetzt.
Es ist fast schon komisch, doch innerlich macht mich dieser dämliche letzte Satz auf dem Grabstein nur noch nervöser.
"Was meinst du, würde auf deinem stehen?" Sander hat sich hinter mich gestellt. Obwohl es regnet und der eisige Wind mir unter die Klamotten zieht, wird mir augenblicklich wärmer.
Seine Frage, Was willst du? schreit in mir ein weiteres Mal auf, gestern dieses Drogenhaus, heute dieser Grabstein...
Mir wird wieder kälter, ich verschränke die Arme vor meiner Brust.
"Keine Ahnung,", schnaube ich, "würde eh keiner kommen, also wird es auch niemanden interessieren, ob da überhaupt was drauf steht."
Sander seufzt. Ich drehe mich zu ihm, wir stehen so dicht beieinander, dass ich endlich wieder seinen so betörenden Duft in der Nase habe. Unbewusst schließe ich kurz die Augen. Die mir so bekannte und so vermisste Note aus Pfefferminz-Nuancen mit einem Hauch von Zimt steigt mir in die Nase, rüttelt mich durch.
Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange, versuche die Gefühle in mir wieder unter Kontrolle zu bringen, doch mein Herz schlägt nur noch einen Takt schneller.
Sander tritt einige Schritte von mir weg, versieht mich mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht.
"Denk drüber nach, Willem!", flüstert er, als würde er damit auch gleichzeitig sagen wollen, wenn du dich traust.
"Und morgen kommst du zu der Adresse, die ich dir schicke!"
Ich schüttle ungläubig den Kopf. Wo soll das hinführen?
"Und wohin lockst du mich dann? Direkt in ein Beerdigungsinstitut?", rutscht es mir genervt heraus.
Sander seufzt ein weiteres Mal.
"Was denkst du, warum ich das tue?"
Diesmal bin ich es, der bitter auflacht.
"Weil ich am Ende bin, ein kaltherziges Arschloch, dass jemanden so Unglaubliches wie dich garantiert nicht verdient hat?" Ich hebe die rechte Augenbraue bei meinem Satz.
Interessiert mustert mich Sander, dann stiehlt sich ein Lächeln auf seine erdbeerroten Lippen.
"Hey, du kommst der Wahrheit endlich näher!" Und damit verschwindet er ohne ein weiteres Wort wieder.
Frustriert und durchgefroren gehe ich zurück ins Hotel und wärme mich erstmal bei einem heißen Bad auf, bevor ich frühstücke.
Ich schüttle innerlich immer wieder den Kopf über Sander, diesen unfassbaren Mann, der mich scheinbar besser kennt, als ich mich selbst.
Er sieht Dinge in mir, die ich selbst nicht wahrhaben will.
Das hat mir damals schon verdammte Angst gemacht und tut es auch jetzt, hier. Und doch verspüre ich das Vermissen wieder so stark in meinem Herzen.
Jetzt, allein in meinem Hotelzimmer, fühle ich mich nur noch wie eine leere Hülle meiner selbst.
Ich will diese Gefühle auch jetzt nicht, aber die Einsamkeit beginnt mich langsam aber sicher innerlich zu zerfressen.
Gedanken an meinen Bruder kommen wieder in mir auf. Wir haben nur noch uns beide, meine Mutter ist tot, mein Vater untergetaucht, womöglich ebenfalls schon längst unter der Erde.
Vielleicht war die Fahrt hierher nicht nur ein Gefallen, den ich ihm tun sollte, vielleicht versucht er wirklich sich mit mir zu versöhnen, sich mir anzunähern. Vielleicht sollte ich ihm wirklich eine letzte Chance geben.
Das Gespräch heute mit seinem zukünftigen Arbeitgeber war gut verlaufen, ich hatte mich sogar von meinem schwarzen Farbcode gelöst und ein bläuliches Hemd angezogen und versucht zu lächeln, wann immer ich meinte das es passte.
Vielleicht wirkte es nicht echt, aber zum Abschluss des Gesprächs schien der Mitte Fünfzigjährige stämmige Mann überzeugt und sagte Luke direkt zu. Auch seine Freundin Noora traf ich bei der Gelegenheit zum ersten Mal und ich war ehrlich erstaunt. Sie wirkte liebenswürdig, süß, etwas nervös vielleicht, aber sie hatte mir nicht einmal einen misstrauischen Blick zugeworfen.
Gut möglich, dass Luke sie vorgewarnt hatte, dass ich allgemein neuen Menschen einfach mit extremem Unbehagen gegenüber stehe und wann immer es geht solche Situationen vermied.
Doch jetzt bin ich nach dem ganzen Trubel heute allein in diesem anonymen Hotelzimmer, warte regelrecht sehnsüchtig auf die Nachricht von Sander mit der nächsten Adresse und ziehe dabei bereits in Betracht noch ein paar Tage länger hier in der Stadt zu bleiben. Was auch immer mich morgen erwarten würde... Vielleicht kann ich unsere Beziehung wenigstens soweit gerade rücken, dass wir wieder redeten, schrieben.
Das ist eine der Sachen, die ich am meisten vermisse, das Reden mit Sander, seine Stimme an meinem Ohr, die mich die Einsamkeit in mir für einige Momente vergessen lässt.
Irgendwann zwinge ich mich ins Bett, nicht ohne vorher einige von den winzigen Schnapsfläschchen der Minibar zu leeren und schlafe damit endlich ein.
Das, was mich diese Nacht in meinen Träumen erwartet, hat nichts mit einem ruhigen Schlaf und Erholung gemein.
Ich stehe wieder am Grab von Thijs Granten, die Gesichter der Männer aus dem Drogenhaus sehen mir aus ihren tiefen Augenhöhlen entgegen, gaffen und ich stehe da und kann mich kein Stück bewegen. Ich spüre regelrecht die Kälte, die meinen Körper durchfährt und sehe auf den Namen hinab, er hallt in meinem Kopf wieder und wieder, 'Gottlob, er ist tot'. Mir wird übel, ich habe das Gefühl zu glühen. Panisch schlage ich nach den knochigen Händen, die mir immer näher zu kommen scheinen, schreie sie wütend an, doch es hilft nicht, sie kommen unaufhörlich näher und näher. Gefolgt von dem Dröhnen einer dunklen Lache, die mir durch Mark und Bein schneidet. Ich kann nicht erkennen, wer der Drei so lacht, doch als ich meinen Blick wieder auf das Grab richte, ist die Erde aufgewühlt und eine Person - mehr Skelett als noch menschlich - mit Haut und Muskelresten bedeckt, blickt mir entgegen.
Die Pupillen leuchten in einem unnatürlichen rot, die Haut hängt in Fetzen von seinem Gesicht und er lacht und lacht, so rau, so dunkel.
Mir wird speiübel, die eiserne Erkenntnis trifft mich - das bin nicht ich! Ich will nicht so enden, ich bin nicht so kaputt!
"Lasst mich in Ruhe!", schreie ich, halte die Arme abwehrend vor mich.
"Komm, komm!", höre ich weiter die raue zittrige Stimme im Ohr.
Als würde eine unsichtbare Macht nach mir greifen, zieht etwas an mir.
"Nein!", brülle ich, versuche ein weiteres Mal meine Beine zu bewegen, spüre jetzt ihre Hände an Schulter und Kopf.
Der Tote kommt mir entgegen geschlurft, ich erstarre, er öffnet seinen Mund, und darauf folgt ein fauliger Geruch und Schwärze, nichts als Schwärze.
"Das wirst bald du sein!", lacht er scheppernd, mein Atem setzt aus, Panik kriecht in mir herauf. Mein Herz schlägt bis zum Hals, ich habe das Gefühl hinab gezogen zu werden, in eine Tiefe ohne Boden, alles um mich herum wird immer schwärzer. Ein Schleier aus Furcht und Verzweiflung legt sich um mich.
"Bitte!", flehe ich.
"Ich bin nicht so!", krächze ich mit meinem letzten Atemzug.
„Ich werde mich ändern!" Tränen fließen unaufhörlich meine Wangen hinab.
Und dann werde ich endlich wach, schweißgebadet, der Brechreiz in mir ist unerträglich, ich taumle ins Bad und speie all das Dunkle in mir heraus und lasse mich danach atemlos an den Fliesen neben den Toilette herabsinken.
"Das war nur ein Traum.", wiederhole ich wie ein Mantra laut immer wieder vor mich hin.
"Das war nicht echt.", keuche ich, mein Magen zieht sich ein weiteres Mal alarmierend zusammen.
Und doch hat es sich verdammt danach angefühlt. Ich kann und will nicht glauben, dass es mit dieser Stadt und den Dingen, die mir Sander gezeigt hat, zusammenhängen könnte.
Ist sowas überhaupt möglich?
Doch egal was das gestern und heute Nacht war - ich weiß, die Panik immer noch deutlich in mir spürend, dass ich so nicht weitermachen kann, ja will. Dass ich mich ändern muss.
In dieser Nacht schreibe ich nicht nur Viktor eine lange und entschuldigende Nachricht, auch Luke schreibe ich. Sander, stammle ich eine mehr als unbeholfene Nachricht auf die Mailbox. Sie ist ehrlich und ungeschönt, mehr stammelnd als sprechend, mehr schluchzend als redend. Und doch fühle ich mich dabei das erst Mal seit Langem wieder wie ich selbst.
Am frühen Morgen folgt seine Nachricht.
*
Ich habe mit allem gerechnet, ein weiteres Grab, eine dunkle Gasse irgendwo am Rande von Amsterdam, aber die pinke große massive Holztür, vor der ich jetzt stehe, scheint mir nichts von all dem zu sein.
Trotzdem hält mich etwas ab einfach zu klingeln, ich trete einen Schritt zurück, betrachte es genauer. Es ist eines dieser typischen Häuser in Amsterdam, mit den fast Schaufenster großen Fenstern zur Straßenseite hinaus, ohne Gardinen, so dass niemandem der Blick ins Innere verwehrt wird.
Ein helles, warmes Licht flackert mir entgegen, ein Dutzend Leute befinden sich darin, sitzen an einem großen Tisch und unterhalten sich angeregt.
Der feierlich geschmückte Weihnachtsbaum scheint so grün, so liebevoll dekoriert, mit kleinen Schleifen, aus Holz geschnitzten Tieren und Figuren daran.
Ich muss hart schlucken und warte regelrecht auf das alarmierende, panische Kribbeln auf meiner Haut, das solch ein Anblick sonst immer in mir erzeugt. Doch es kommt nichts, stattdessen füllt sich mein Bauch mit einer seltsamen Wärme.
Ein Platz am Tisch ist noch leer und neben diesem Platz sitzt Sander.
Mit großen Augen sehe ich ihn durch das Fenster an, sein Lachen hallt hindurch, so offen, so vertraut.
Schmerz und Dunkelheit scheint dieses Lachen nicht zu kennen. Nicht mehr. Sein Lachen ist so ehrlich, kommt tief auf seinem Inneren, ein Strahlen geht durch den Raum, steckt jeden an, der es hört.
Ich vergrabe meine kalten Finger in meiner Jacke. Bekomme wieder Angst, Angst vor meinen Gefühlen zu ihm.
Die Fragen in meinem Kopf hämmern auf mich ein.
Warum hat er mich hierher bestellt? Soll ich sehen, wie gut es ihm jetzt geht und wer sind diese Leute an dem Tisch? Seine Familie?
Kann ich wirklich einfach klingeln und um Einlass bitten? Würde ich nicht alle nur verschrecken? Selten wie nie zuvor ist mir bewusst, wie viel dieser Schritt für mein Leben bewirken könnte. Doch diesmal nimmt mein Herz mir diese Entscheidung ab, meine Beine bewegen sich wie von selbst auf die Tür zu und mit zittrigen Händen drücke ich auf die Klingel.
Als sich die Tür öffnet, steht Sander mit seinen blonden Haaren vor mir. Sie werden von dem warmen Licht im Inneren von hinten hell beleuchtet. Irgendwie wirkt Sander in dem Moment wie ein Engel auf mich - definitiv ist er zu gut für mich - und doch lässt er mich zu sich eintreten. Etwas in mir, etwas tief Vergrabenes, fast Vergessenes kommt hervor. Es ist diese deutliche Hoffnung, dass er mir vergeben kann, irgendwann... mich noch nicht aufgegeben hat und es für uns eine Zukunft geben kann, vor der ich mich nicht mehr scheue, für die ich endlich bereit bin.
Mit einem zauberhaften Lachen im Gesicht zieht er mich an sich und drückt mir einen Kuss auf die Wange.
„Schön, dass du endlich wieder da bist!"
*
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