● frei fühlen ●

TW: Selbstverletzung

Ich fühle mich frei.

Das Problem ist, dass ich mich schon sehr lange nicht mehr frei gefühlt habe. In meinen Gedanken warst nur du. Du und die Kinder. Du und deine Familie. Du und dein Lächeln. Deine Augen, Haare, Nase, Lippen, Mund. Meine Gedanken drehten sich um dich. Aber auch um meine Familie. Um meine Mutter und um meinen Vater, die mich von klein auf beschützt haben und immer nur das beste für mich wollten. Um meinen Bruder, mit dem ich mich immer gut verstanden habe, obwohl wir uns,  öfter als mir lieb ist, gestritten haben. Aber Streit gehört doch zu jeder guten Beziehung dazu. Außerdem um meinen Großvater, den ich über alles geliebt habe und vor einigen Wochen verlieren musste. Zusammen mit meiner Großmutter, die ich auch über alles geliebt habe und die mich nur eine Woche darauf verlassen hat. Ich habe so viel geweint, wie noch nie in meinem Leben. Ich habe die beiden geliebt. Sehr sogar. Als ich noch zur Schule ging, haben meine Eltern viel gearbeitet. Bei ihnen war ich stets willkommen. Bis zu meinem Abschluss waren sie wie Eltern für mich. Danach habe ich sie weniger oft gesehen, jedoch immer in Erinnerung behalten. Und es tut weh zu wissen, dass ich mich nicht verabschieden konnte. Durch ihren Tod sind meine Depressionen schlimmer geworden. Ich versuche mich täglich aufzuraffen, für dich und die Kinder, aber man liebsten würde ich liegen blieben und mir dieses verfluchte Messer in die Halsschlagader stecken. Nichts wäre befreiender. Aber die Kinder. Und du. Du wärst verzweifelt ohne mich; alleine mit den Kleinen. Du kannst nicht mal einen Topf Nudeln kochen, ohne sie anbrennen zu lassen. Du bist mit einer der tollpatschigsten Personen die ich kenne, also wollte ich dich nie mit den Kindern alleine lassen. Aber ich bin am Ende. Total am Ende. Du magst mich nicht verstehen. Wenn du diese Zeilen liest, dann wirst du es nicht verstehen. Auch in ein paar Jahren nicht; aber vielleicht dann, wenn die Kinder erwachsen sind und wenn du älter bist, vielleicht wirst du es dann verstehen. Wieso ich nicht mehr konnte. Wieso ich Tag und Nacht kein Auge zu bekam oder wieso ich immer so pessimistisch dachte. Wieso ich nicht mehr lieben konnte. Nicht mehr lieben aus vollstem Herzen. So ist das doch auch kein Leben mehr. Du musst dich um mich kümmern und die Kleinen sind bei deinen Eltern. Oder bei meinen Eltern. Wir sehen die drei nicht oft; weil ich mich nicht mehr aufraffen kann. Zu nichts mehr in der Lage bin. Ich bin vollkommen hilflos und ein totales Wrack. Du hast mich bisher davon abgehalten, mir das Leben zu nehmen, aber in einer Welt, in der ich doch nur Schande als Glück verbreite, wäre es besser, wenn ich nicht mehr existieren würde. Vielleicht ist dieser Gedanke egoistisch. Du denkst, dass ich das für mich tue; um wieder bei Oma und Opa zu sein. Dass ich nicht an die Kinder oder an dich denke, aber das stimmt nicht. Ihr seid meine Priorität. Diese Zeilen sind nur für dich und wenn die Kleinen älter sind, dann gib sie ihnen und vielleicht werden sie verstehen. Vielleicht werden sie vor dir verstehen, weil sie mich nicht genug kannten. Aber sie werden verstehen. Und auch du wirst verstehen. Irgendwann; da bin ich mir sicher. Und noch später, eine kleine Ewigkeit danach sehen auch wir uns wieder. Vielleicht werden wir widergeboren und finden uns wieder; können einen Neuanfang wagen. Ohne Probleme, psychische Krankheiten und Zweifel am Leben. Vielleicht kann ich dann auch glücklich sein. Ich will dass du weißt, dass ich nicht immer unglücklich war. Bei unserem Kennenlernen war ich glücklich. Beim ersten Kuss. Beim ersten Mal. Bei der ersten Reise. Als du meine Hand gehalten hast, als ich nicht weiter wusste. Als du mir das blutbefleckte Messer aus der Hand gerissen hast, bei dem Versuch, noch einmal durch meine Haut zu schneiden. Im Kreissaal war ich glücklich. Mit den Kindern im Arm. Ich auf deiner Brust. Du auf meiner Brust. Als du mir den unvergesslichen Antrag gemacht hast. Wir beim Fernsehen. Beim Spielen mit den Kindern. Es gab unglaublich viele Momente, in denen ich glücklich war, doch auch zu viele, in denen ich nicht glücklich war; in denen ich mich komplett eingeengt und nicht frei gefühlt habe. In denen ich einfach loslassen wollte. Ich weiß, dass du das irgendwann hinbekommen wirst und irgendwann in die Zukunft sehen kannst. Die Kinder werden ein tolles Leben mit dir führen. Mit dir, als tollster Papa der Welt. Es tut weh, diese Zeilen zu schreiben, aber wenn ich an das Danach denke, lächle ich. Ich lächle, weil ich weiß, dass ich mich besser fühlen werde. Ich werde vielleicht nie wieder aufhören zu lächeln, weil ich mich so wohl fühle. Wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre ich wahrscheinlich schon viel eher dort oben. Ich möchte dir also danken, für all die unbeschreiblichen Momente mit dir. Dafür, dass du so viel mit mir durchgestanden hast, auch wenn es dir erlaubt war, zu gehen. Dafür, dass du mir drei wundervolle Kinder geschenkt hast, die durch dich noch viel wundervoller werden. Ich werde über euch wachen. Über dich, über die kleinen. Über deine Familie. Und über meine. Wachen bis in alle Ewigkeit. Denn Liebling, jetzt ist es soweit.

Ich fühle mich frei.

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