24.12.16; Heilig Abend
Tatsächlich dauerte es entnervend lange eine geöffnete Tankstelle mit gescheitem Eis im Sortiment zu finden, aber irgendwann gelang mir auch dies und ich konnte mich auf den Rückweg in meine Höhle der Einsamkeit machen.
Dabei bemühte ich mich vor allem auf dem Flur leise zu sein. Ich wollte Ryan lieber nicht erklären müssen, weshalb ich nun doch noch da war. Aber wahrscheinlich war er selbst noch gar nicht zurück.
Da ich mir dachte ein Tapetenwechsel wäre wohl angebracht, ließ ich mich mit meinem Eis, der Schokosoße und einem gigantischen Löffel auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher an. Keine Minute später befand ich mich auch schon in einem Dämmerzustand zwischen Leben und Untodsein.
Keine Ahnung wie lange ich so auf dem Sofa dahin vegetierte. Wahrscheinlich war ich immer wieder eingenickt, denn mein Zeitgefühl ging völlig verloren, als plötzlich Geräusche von Richtung meiner Eingangstür erklangen.
In meinen verschlafenem Kopf dauerte es seine Zeit, bis ich die Geräusche einem Schlüssel im Schloss zuordnen konnte und noch viel länger, bis er diese Information auch verwerten konnte, sodass ich im ersten Moment glaubte, gleich Opfer eines brutalen Raubüberfalls zu werden.
Und nein, meine Reaktion bestand nicht daraus, zu allem bereit aufzuspringen und mir eine Waffe zu meiner Verteidigung zu suchen. Ich beließ es dabei, noch tiefer in die Polster zu sinken und das inzwischen ziemlich geschmolzene Eis an meine Brust zu drücken, als hinge mein Leben davon ab.
Als allerdings die Tür aufschwang und jemand die Melodie von Jingle Bells summend hereintrat, wurde mir auch endlich klar, dass es sich um keinen Verbrecher, sondern nur um meinen Nachbarn handelte. Irgendwie auch logisch. Soweit ich wusste, hatte ich nämlich keinem Einbrecher meinen Schlüssel ausgehändigt.
Allerdings machte das die Situation irgendwie noch schlimmer. Ich wollte nicht, dass Ryan mich entdeckte. Und tatsächlich bot meine Couch sogar einen ziemlich guten Sichtschutz, da sie mit der Lehne zur Tür stand. Nur schauten meine Füße am anderen Ende heraus und der Fernseher lief noch immer. Also nein, es gab keine Chance, dass er nicht aufmerken würde.
Und genau das war der Moment, indem sein fröhliches Summen verklang.
Einige Sekunden blieb es still, von meinem Herzen abgesehen, dass mir aus der Brust springen wollte. Dann hörte ich zwei Schritte, die direkt auf mich zukamen und schlussendlich Ryans verwirrte Stimme. „Maggie?"
Es gab jetzt genau zwei Optionen, wie ich reagieren könnte. Die eine war so zu reagieren, als hätte ich ihn vorhin nicht absichtlich im Glauben gelassen, dass ich zu meinen Eltern fahre und ihn anzumeckern, was er hier wollte oder aber ich gestand ihm endlich die Wahrheit. Meine Eltern sind tot und ich absolut einsam.
Ich entschied mich für Option drei: Decke übers Gesicht ziehen und so tun, als wäre ich nicht da.
„Ich sehe deine Kuschelsocken, also versuch es erst gar nicht."
Meine Reaktion darauf bestand darin, meine Füße anzuziehen. Wenigstens brachte das Ryan zum Kichern. Die Welt war also doch noch nicht untergegangen.
Wieder erklangen Schritte und ich spürte genau, wann er mich erreichte und sich neben der Couch auf den Boden kniete.
„Hey, was machst du denn noch hier?"
Eine Hand versuchte mir die Decke vom Gesicht zu ziehen, aber ich klammerte mich daran, als könnte ich damit wirklich jemanden täuschen. Allerdings war Ryan hartnäckig... und stärker, daher war mein Widerstand von wenig Nutzen.
Ich starrte ihn aus großen Augen an.
„Hey." Vielleicht kam es mir nur so vor, aber sein sanfter Tonfall erinnerte mich daran, wie man mit verschreckten kleinen Kindern sprach.
Meine gute Erziehung zwang mich natürlich dazu, seinen Gruß zu erwidern, allerdings schien sich ein Teil von mir noch immer hier irgendwie hinauswinden zu wollen.
„Hey, was machst du hier in meiner Wohnung? Kommst du öfter mal einfach rein, wenn du glaubst, dass ich weg bin?!" Meine Empörung hörte sich etwas gekünstelt an, aber naja, Improvisation lag mir noch nie allzu gut.
Wahrscheinlich zog Ryan deswegen auch nur unbeeindruckt eine Augenbraue in die Höhe.
„Nein, eigentlich nicht. Meine Maggie's sind nur leer und ich wollte meine Gelüste stillen."
Dieser Kommentar ließ mir das Blut in die Wangen schießen. Wieso war mir eigentlich nie zuvor aufgefallen, wie zweideutig es klang, wenn wir über unsere selbsterfundene Plätzchensorte sprachen?
Aber wenigstens schien Ryan nicht den gleichen Gedankengang zu haben wie ich oder er ließ es sich zumindest nicht anmerken.
„Aber wenn du öfter hier bist, obwohl du sagtest du wärst weg, dann versuche ich ab sofort öfter mein Glück."
Okay, das war ein eindeutiger Seitenhieb gewesen.
„Genau genommen habe ich nie gesagt, dass ich weg bin." Eigentlich hatte ich die Hoffnung gehabt mit der bissigen Bemerkung etwas Mut zu gewinnen, aber stattdessen fühlte ich mich nur umso ausgelaugter, als würde jede Sekunde dieses Tages mir meine Kraft aussaugen.
Kurz glitt mein Blick nach draußen, wo es inzwischen schon dunkel geworden war. Normaler Weise säße ich jetzt schon längst in dem gemütlichen Sessel bei meinen Eltern zu Hause und würde einen Tee schlürfen, während meine Mutter traditionsgemäß alte Bilderalben auspackte.
Ein Stich fuhr lähmend durch mein Herz.
„Oh-kay, das stimmt, aber... Mann Maggie! Würdest du mich anschauen, wenn ich mit dir rede?"
Der unübliche scharfe Unterton in Ryans Stimme, ließ mich erschrocken zusammenfahren, allerdings lenkte es mich nicht ab, ihm in die Augen zu schauen. Stattdessen zog sich mein Inneres nur noch weiter zusammen.
Wie hatte ich es nur geschafft völlig allein an Weihnachten dazusitzen? Okay, natürlich, für den Moment war Ryan da, aber der schicke Pulli und die ordentlich gemachten Haare waren eindeutig. Er war gerade unterwegs zu seinen Eltern gewesen.
Außerdem stand in seinem Gesicht eine Distanziertheit, von der ich dachte, dass Ryan gar nicht dazu in der Lage wäre. Aber anscheinend hatte ihn mein seltsames Verhalten wirklich verletzt.
„Was ist mit dir los? Bist du krank oder so?"
Seine Worte drangen nicht wirklich bis zu mir vor. Ich konnte nur daran denken, wie oft ich seit dem Tod meiner Eltern alleine in meiner Wohnung gesessen hatte. Mir kam es vor, als hätte erst Ryan mich wieder aus meinem Schneckenhaus gebracht.
„Okay, das bringt doch nichts."
Wut und Frust schwangen in seinen Worten mit, als sich Ryan zurück auf die Beine kämpfte und entschieden auf die Tür zu ging.
Sofort flatterte es panisch in meiner Brust. Ich wollte nicht wieder allein sein, Eiscreme hin oder her. Weihnachten sollte eine Zeit der Freude sein. Und ich blies tagtäglich Trübsal. Gott, ich sollte dankbar sein, dass Ryan es die letzten Wochen überhaupt mit mir ausgehalten hatte.
„Das ist mein erstes Weihnachten."
Okay, diese Aussage war wahrscheinlich etwas irreführend, aber sie war so unvermittelt aus mir herausgeplatzt, dass ich gar nicht richtig kontrollieren konnte, was genau ich da sagte.
Aber wenigstens vermochte sie es Ryan zum Stehenbleiben zu bringen, wenn auch sein Gesicht nun völlige Verwirrtheit ausdrückte.
„Was?"
Mir war unbehaglich zu Mute. Bisher hatte ich das noch nie jemanden erzählen müssen. Alle Menschen zu denen ich in Kontakt stand, hatten es mitbekommen oder es war nicht von Bedeutung, ob sie es wussten.
Aber bei Ryan war es von Bedeutung. Es war mir wichtig, dass er mich verstand. Dass wir weiter befreundet sein konnten.
Deswegen zwang ich mich dazu, jetzt nicht wieder zu kneifen, sondern den Mund aufzubekommen. Nur weil ich es aussprach würden meine Eltern immerhin nicht noch einmal sterben und da es jetzt wohl eh nicht mehr möglich war einfach normal von Ryan behandelt zu werden, konnte ich ja zumindest nicht wie die absolute Hinterwäldlerin dastehen.
„Also natürlich ist es nicht mein erstes Weihnachten. Aber es... es ist das erste Weihnachten seit dem Tod meiner Eltern."
Und schon war der altbekannte Kloß in meiner Kehle zurück, der mir die ersten Monate durch immer Gesellschaft geleistet hatte. Allerdings gab ich mein Bestes zumindest die Tränen zurück zu drängen. Dafür war es mir viel zu wichtig in diesem Moment Ryan zu beobachten.
Man konnte ihm genau ansehen, wie die Bedeutung meiner Worte erst verspätet zu ihm durchdrang. Dann kam als erstes der Schock mit seinen weitaufgerissenen Augen. Daraufhin gesellte sich die Bestürzung dazu, eine kleine Bewegung der Lippen. Und schlussendlich das Mitgefühl, welches seine Augenbrauen unter seiner schweren Last nach unten drückte.
Mir zog sich die Brust immer weiter zusammen. Als würde seine Reaktion mein Inneres daran erinnern wie schlecht ich mich fühlen sollte.
In dem Bedürfnis mich an irgendetwas festzuklammern, während mein Geständnis ein Vakuum zwischen uns zu entstehen lassen schien, hatte ich mich eng an die Rückenlehne des Sofas gepresst. Die Stimmen aus dem Fernseher hinter mir nahm keiner von uns beiden mehr wahr.
Wir hielten zwar die ganze Zeit über Blickkontakt, aber irgendwie schien mir die reale Welt wie ausgeschalten. Da war keine schnulzige Verbindung zwischen uns. Keine unausgesprochenen Wörter. Nur zwei Paar Augäpfel, die sich gegenseitig anstarrten.
Und dann japste ich mit einem Mal laut nach Luft, sodass es schon fast einem Schluchzer glich.
Als hätte das die Seifenblase platzen lassen, spürte ich auf einmal wieder mein rasendes Herz, das Zittern meiner Finger und dieses nervöse Kribbeln überall, dass man immer verspürte, wenn man am liebsten einen Moment völlig aus seinem Leben radieren wollte.
Ich klappte vorneüber zusammen, sodass meine Stirn auf die Rückenlehne viel und ich wahrscheinlich ähnlich eines verängstigten Igels zusammengekullert dalag. Vielleicht war ich ja auch ein Igel. Ein Igel der dauerhaft seine Stacheln ausgefahren hatte, fest gefangen in einem tiefen Schlaf und völlig auf sich gestellt.
Nur, dass ich das momentan gar nicht allein war.
Ryans Hand die mir erst einmal und dann immer wieder sachte übers Haar strich, war wie eine Lichtkanone, die durch meinen Körper fuhr und mich erschaudern ließ.
„Das tut mir Leid."
Natürlich waren diese Worte völlig ausgenutzt. Ich hatte sie unzählige Male gehört, zusammen mit einem aufmunternden Schulterklopfen oder einem festen Händedruck. Aber was sollte man auch anderes sagen?
„Ja, mir tut es auch Leid."
Meine Stimme klang etwas belegt, aber sonst völlig normal. Eigentlich wunderlich, wenn man bedachte, wie zittrig ich mich wirklich fühlte.
Aber eins wurde mir klar, als ich meinen zentnerschweren Kopf hob, um Ryan anzublicken. Es war nicht die Tatsache, dass wir über den Tod meiner Eltern sprachen, der mich so ängstlich und verletzlich machte. Es war viel mehr die Bedeutung des Ganzen. Dass Ryan hier war, obwohl er bestimmt schon längst zu seinen Eltern wollte, dass ich es ihm erzählt hatte von mir aus und dass er die Stille nicht mit weiteren Worten füllen wollte, wie es sonst seine Art war, sondern einfach seine Stirn an meine legte, eine seiner Hände in meinem Nacken vergraben, in einer stummen Geste des Beistandes.
Und mehr war es nicht.
Nein, das hörte sich falsch an, denn es war viel mehr.
Es war Weihnachten und zum ersten Mal seit Monaten wusste etwas in mir, dass ich nicht alleine war.
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