Madame Genevieve
💚 Harry 💚
„Reich mir deine Hände", sagte die ältere Dame, deren Falten sich schon tief in ihre Haut gegraben hatten. Ein rotes Tuch lag über ihren weißen Haaren und reichte bis auf ihre Schultern. Ihre Augen waren dunkel, fast schon schwarz und ihre Lippen eher ein dünner Strich. Sie hatte ein wenig Ähnlichkeit mit den Hexen, die ich noch aus meinen früheren Kinderbüchern kannte. Das kleine Zelt, in dem ich mich befand, wurde lediglich von einer großen Menge Kerzen erleuchtet, was das gesamte Ambiente ein wenig unheimlich wirken ließ. Und an die Brandschutzvorschriften wollte ich gar nicht erst denken. Hier und da glimmten noch ein paar Duftstäbchen und es roch nach Weihrauch und irgendetwas anderem ... etwas Süßem ... was ich allerdings nicht so genau benennen konnte.
„Ähm ... okay", antwortete ich und streckte ihr meine Hände entgegen. Sie drehte sie und sah in meine Handinnenflächen. Langsam strich sie mit ihrem knochigen Finger über verschiedene Linien und machte immer mal „Mmh" oder „Ahh". Mit einem kritischen Blick beäugte ich sie und fand das Ganze hier doch sehr lächerlich.
Während sie aus meinen Händen wahrscheinlich die Zukunft las, fiel mir eine widerspenstige Locke ins Gesicht. Sie hing genau vor meinem linken Auge und kitzelte meine Wange. Mit einer gekonnten Kopfdrehung versuchte ich sie wieder an ihren vorgesehenen Platz zu schwingen, was allerdings dazu führte, das der Rest meiner langen Haare ins Rutschen geriet. Nun versperrten sie mir die komplette Sicht und ich ähnelte diesem einen armen Hund, der immer den Pony vor den Augen trug. Wie hieß diese Rasse nochmal? Egal ...
Ich brauchte meine Hände, aber immer noch waren sie Gegenstand von wahrscheinlich wahnwitzigen Prophezeiungen. Dann blieb mir wohl nur übrig zu warten, bis Madame Genevieve fertig war mit ihrem Hokuspokus. Am Ende saß ich mich schief gelegtem Kopf vor ihr, damit ich wenigstens etwas erkennen konnte.
„Du hast eine lange Lebenslinie, dass ist gut", stellte sie fachmännisch fest und ich nickte ihr zu. Das war doch gut zu wissen. Endlich gab sie meine Hände wieder frei und sofort richtete ich meine Haare.
„Warum bist du hier?", fragte sie. Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah ich sie an und zog meine Nase kraus.
„Sollten Sie das nicht wissen?"
„So läuft das nicht. Du sagst mir, was du wissen willst und ich gebe dir darauf Antwort." Ja, klar.
„Also ... ich ...", Gott, dass war so was von dämlich. „Ich wünsche mir einen Freund .... einen Partner ... einen Mann, denn ich habe nicht wirklich Glück in der Liebe", erklärte ich ihr.
„Du suchst drei verschiedene Männer? Wäre dir einer nicht genug?" Verwirrt blickte ich sie an.
„Nein, natürlich suche ich nur einen Mann, nicht drei. Aber selbst den Einen zu finden, gestaltet sich als sehr schwierig", meinte ich.
„Nun gut, sehen wir mal, was die Karten dazu sagen." Sie griff nach einem Stapel Tarotkarten, der neben ihr lag und verteilte sie auf dem Tisch. Was tat ich hier eigentlich? Ich glaubte überhaupt nicht an so einen Quatsch. Aber ich hatte mich überreden lassen.
Dann legte sie eine Karte in die Mitte, auf der ein Mann abgebildet war.
„Das bist du", sagte sie und tippte mit ihrem rot lackieren Fingernagel darauf. Soweit so klar. Nacheinander drehte sie die Karten um und ich blickte interessiert auf die Bilder, die sich nacheinander offenbarten. Auf der vierten Karte die sie aufdeckte, war ein Strick abgebildet. Sah aus, wie an einem Galgen. Na, dass waren ja gute Aussichten. Wie passte das jetzt mit einer langen Lebenslinie zusammen?
„Du bist derzeit etwas verloren." Das wusste ich auch schon.
Dann kam noch ein verliebtes Pärchen zum Vorschein, zumindest würde ich das so interpretieren, ein Haus, ein Storch ... Hoffentlich erzählte sie mir nicht, dass ich demnächst schwanger werden würde.
„Ich sehe jetzt das Problem."
„Ach echt?" Ich blickte auf den Tisch, aber ich sah nur Karten und nicht DAS Problem.
„Du bist zu wählerisch."
„Was? Nein, ...", fiel ich ihr ins Wort, aber sie hob ihre Hand und ich hielt wieder den Mund.
„Du suchst deinen Seelenverwandten und ich kann dir sagen, dass du ihn auch findest." Wow, das war mal eine Ansage. Und wo? Und wann? Dann schloss sie ihre Augen und summte vor sich hin. Sie hob die Arme in die Luft und wiegte sich ein wenig hin und her, als würde sie irgendetwas oder jemanden heraufbeschwören. Ich fühlte mich von Sekunde zu Sekunde unwohler. Okay, jetzt war definitiv der Zeitpunkt, dieses Zelt zu verlassen. Außerdem brannten diese merkwürdigen Düfte in meiner Nase. Ich räusperte mich und machte Anstalten aufzustehen, da packte sie plötzlich mein Handgelenk.
„Ich kann ihn sehen. Er ist etwas kleiner als du oder auch genauso groß ... das Bild ist ein wenig verschwommen. Seine Haare sind dunkelbraun oder doch etwas heller und er hat blau-grüne Augen." Wirklich? Verarschen konnte ich mich alleine.
„Er lebt auch in London ... aber eure Begegnung, wie soll ich sagen ... wird nicht unter normalen Umständen stattfinden. Ich fühle Gefahr." Ich verdrehte die Augen und musste mir ein Lachen verkneifen. Urplötzlich öffnete sie ihre dunklen Augen und starrte in meine. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl sie würde durch mich hindurchsehen.
„Du musst ihn beschützen", flüsterte sie mit heiserer Stimme und ich bekam prompt eine Gänsehaut.
Und dann war es vorbei. Ihr Blick war wieder klar und sie tätschelte meine Hand.
„Vor was muss ich ihn beschützen?"
„Das kann ich dir auch nicht sagen", erwiderte sie schulterzuckend und lächelte. Was sollte ich denn jetzt bitte damit anfangen? Sie packte die Karten wieder zusammen und hielt ihre Hand auf. Natürlich, sie wollte ihr Geld. Zwanzig Pfund für so einen Blödsinn. Hätte ich mir davon lieber etwas zu Essen gekauft.
Ich bezahlte und ging wieder nach draußen.
„Und wie wars?", wurde ich sofort gefragt, sobald ich aus dem Zelt trat.
„Du schuldest mir zwanzig Pfund", teilte ich meinem besten Freund mit. „Warum habe ich nur auf dich gehört? Da war Zeit- und Geldverschwendung."
„Ach komm schon, erzähl. Gibt es noch Hoffnung für dich?", wollte Niall wissen und sah mich neugierig an.
„Spendier mir erst mal einen Glühwein", antwortete ich. „Nie wieder gehe ich mir dir auf einen mittelalterlichen Weihnachtsmarkt." Niall lachte und boxte mich auf den Arm. Gemeinsam suchten wir uns einen Stand an dem es Getränke gab und ich bekam meinen Glühwein. Es roch nach Zucker, gebratenem Fleisch und in der Mitte des Marktes brannte ein großes Feuer. Sogar ein Spanferkel drehte sich fröhlich auf einem Spieß. Nachdem ich den halben Becher getrunken hatte, berichtete ich Niall von der sonderbaren Dame.
„Also kurz zusammengefasst, es könnte jeder Typ sein, der hier herumläuft. Aber er muss wohl in Gefahr schweben. Diese Informationen helfen mir unglaublich weiter. Das einzig Gute, was ich erfahren habe ist, dass ich wohl ein langes Leben haben werde."
Niall sah mich an und kratzte sich am Kopf.
„Okay, also halten wir nach jemandem Ausschau, der Hilfe braucht. Du rettest ihn und schon ... verliebt ... und ihr lebt glücklich bis an euer Ende", fasste er diesen ganzen Haufen Mist zusammen und grinste.
„Ich glaube, ich werde einfach allein bleiben. Immer wieder falle ich auf total bescheuerte Kerle rein", jammerte ich. Liefen denn nur noch sexbesessene oder leicht psychopathisch angehauchte Männer da draußen herum?
„Harry, du bist noch jung. Rede doch keinen Stuss. Du findest schon noch den Deckel, der auf deinen Topf passt."
„Was?", fragte ich lachend.
„Na ja, du bist der Topf ..."
„Schon verstanden. Aber in Zukunft halten wir uns von Wahrsagerinnen fern. Außerdem gehe ich straff auf die Dreißig zu", machte ich ihm das Offensichtliche klar. Ich wollte nicht immer abends allein auf meiner Couch sitzen. Jemanden zum kuscheln, zum reden und ...
„Na und? Tickt deine biologische Uhr oder was?", unterbrach er meine Gedanken. Wahrscheinlich schon. Vielleicht war das die Bedeutung der Storchkarte? Das musste ich später googeln.
„Du bist ein Idiot", warf ich ihm an den Kopf und dann traten wir den Rückweg an.
Mir war irgendwie die Lust auf diese ganze Weihnachtsbeisinnlichkeit vergangen. Wir liefen an diversen Pärchen vorbei, die sich küssten oder im Arm hielten, gemeinsam lachten. Reibt es mir nur alle unter die Nase, dachte ich und schenkte diese ganzen verliebten Menschen einen bösen Blick. Dieses Jahr war ich der Grinch.
„Wollen wir mit dem Bus fahren?", fragte Niall, aber ich zuckte nur mit den Schultern. Ein bisschen Bewegung würde mir jetzt sicherlich gut tun und allzu weit war meine Wohnung nicht entfernt.
„Ich denke, ich laufe." Wir blieben an der Bushaltestelle stehen und verabschiedeten uns, als Niall hinter mich schaute und ich ein Wortgefecht von ein paar betrunkenen Männern mitbekam. Ich wand mich um und die zwei Typen fingen an sich gegenseitig lautstark zu beleidigen und anzurempeln. Weihnachten, das Fest der Liebe ... definitiv.
Erst jetzt bemerkte ich unweit von uns noch einen anderen jungen Mann in einem schwarzen Wintermantel, der sich ein paar Schritte von den pöbelnden Typen entfernte. Ich drehte mich wieder zu Niall, da ich den Bus in einiger Entfernung entdeckte. Vielleicht fuhr ich doch lieber mit. An Weihnachten drehten manche Menschen echt durch. Heute war der vierundzwanzigste Dezember und da sollte man doch annehmen, dass man besseres zu tun hatte, als sich bis zum Verlust der Muttersprache zu betrinken.
Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Der Größere, der zwei betrunkenen Männern, stieß den Kleineren heftig von sich weg, was dazu führte, dass dieser nach hinten taumelte und Halt an dem jungen Mann im schwarzen Mantel suchte. Dieser wiederum verlor das Gleichgewicht, ruderte noch kurz mit den Armen und fiel auf die Straße. Ich riss meine Augen auf und ohne weiter darüber nachzudenken, hechtete ich nach vorn, packte ihn an seinem Mantel und zerrte ihn gerade noch rechtzeitig auf die andere Straßenseite. Ein ohrenbetäubendes Hupen dröhnte in meinen Ohren und wir knallten mit Schwung auf den Asphalt.
Na ja, ich fiel eher auf ihn drauf und begrub ihn irgendwie unter mir. Schnell rollte ich von ihm runter und schlug mit dem Hinterkopf auf etwas Spitzes auf den Boden. Das tat weh. Trotz allem blieb ich auf dem Rücken liegen und blickte in den dunklen Himmel.
Mein Herz schlug wahnsinnig schnell und ich hatte für einen kurzen Augenblick mein Leben an mir vorbeiziehen sehen.
„Harreeehhhhh ... Harreeehhhhh ...", hörte ich Niall rufen und schon war er neben mir und kniete sich hin.
„Oh mein Gott, ist dir was passiert? Bist du verletzt? Blutest du?" Sofort begann er meinen Kopf abzutasten und blickte mir in die Augen.
„Harry, hörst du mich?", fragte er ziemlich laut. Ich war ja nicht taub.
„Ja, natürlich höre ich dich. Ganz London hört dich." Ich griff mir an meinen Hinterkopf und setzte mich langsam auf.
„Aua, verdammt ...", vernahm ich einen schmerzerfüllten Laut. Sofort drehte ich mich zu dem Mann um, der neben mir auf der Straße lag. Mittlerweile hatte sich eine kleine Traube Menschen um uns herum versammelt.
„Hey, alles in Ordnung bei dir?", fragte ich.
„Ja, geht schon. Fuck ... mein Rücken tut weh."
„Warte ich helfe dir", bot ich an, reichte ihm meine Hand und zog ihn vorsichtig nach oben.
„Soll ich einen Krankenwagen rufen?", wollte Niall wissen und zückte sein Handy.
„Nein, ich denke nicht", antwortete ich. Mein bester Freund half mir auf die Beine und dann entdeckte ich ein wenig Blut an meiner Hand. Hatte mir den Kopf vielleicht doch verletzt. Scheiße ...
Der braunhaarige Mann kam mit meiner Hilfe auch langsam auf seine Füße und umfasste meinen Arm, da er leicht schwankte.
„Die Polizei ist schon unterwegs", teilte uns der Busfahrer mit, der ganz bleich um die Nase aussah. Fröhliche Weihnachten ...
Zwei Stunden später waren wir im Krankenhaus. Ich saß im Untersuchungszimmer und wartete geduldig auf den Arzt. Der junge Mann, dessen Name ich noch nicht einmal kannte, war mit uns im Taxi hergefahren, wurde dann aber gleich zum Röntgen gebracht, da er über Rückenschmerzen klagte. Ich hätte mich gern mit ihm unterhalten, aber Niall bestritt die gesamte Fahrt ganz allein die Konversation, indem er über diese beiden betrunkenen Idioten meckerte, wie ein irischer Kobold und alle Schimpfwörter benutzte, die er zu bieten hatte.
Als der Doktor endlich kam, mich hier und da abgetastet, mir mit einer Lampe in die Augen geleuchtet und meine kleine Schürfwunde am Hinterkopf behandelt hatte, ging ich wieder in den Wartebereich. Niall sprang sofort auf und kam zu mir gelaufen.
„Und? Alles noch da wo es hingehört?" Zu Scherzen war ich jetzt allerdings nicht aufgelegt und somit nickte ich nur.
„Wo ist ...?", fragte ich und sah mich suchend um.
„Er ist noch nicht wieder aufgetaucht", erwiderte Niall und ich ging in den Wartebereich und setzte mich. Ich wollte auf jeden Fall hier sein, denn ich musste wissen, wie es ihm ging.
„Ich hole uns mal einen Kaffee", sagte mein bester Freund und ließ mich allein.
Er kam mit zwei dampfenden Kaffeebechern wieder und drückte mir einen davon in die Hand. Ich trank einen Schluck und seufzte. Das war mal ein Abend. Nach einer Stunde lehnte ich an Nialls Schulter und mir fielen immer mal wieder die Augen zu. Ich war hundemüde. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon kurz vor Mitternacht war. Wie lange würde das noch dauern?
Kaum war mir der Gedanke durch den Kopf geschossen, hörte ich eine Stimme. Es war ... er. Schnell stand ich auf und ging in seine Richtung. Ich schaute in eine langen Gang und tatsächlich, da stand er. Die Schwester drückte ihm noch eine Packung Tabletten in die Hand und dann kam er langsam auf mich zu. Im Türrahmen blieb er stehen und sah mich an.
„Hi."
„Hi."
„Du hast auf mich gewartet?", fragte er und ich nickte. Gerade war ich unsicher, ob er das nicht vielleicht etwas merkwürdig fand.
„Ja, ich wollte wissen, wie es dir geht", erwiderte ich.
„Nur ein paar Prellungen. Nicht der Rede wert."
Er lächelte leicht und ich verfing mich in seinen Augen. Sie waren echt unglaublich blau. Keiner von uns sagte ein Wort, aber irgendwann unterbrach ich den Blickkontakt und räusperte mich.
„Ich habe dir noch gar nicht richtig gedankt, dass du mir mein Leben gerettet hast. Und das an meinem Geburtstag."
„Du hast heute Geburtstag?", fragte ich.
„Ja, oder ich hatte. Ist seit zwei Minuten vorbei", antwortete er.
„Happy Birthday", sagte ich und betrachtete eingehend sein Gesicht.
„Danke." Mit einem Grinsen fragte er, „Kann ich eventuell deine Telefonnummer haben, denn ich würde dich gern zum Essen einladen oder so. Ich habe keine Ahnung, wie man sich für sein Leben bedankt?"
„Ähm, ja klar, sehr gern." Er reichte mir sein Handy und ich tippte meine Nummer und meinen Namen ein.
„Verrätst du mir noch wie du heißt?", fragte ich.
„Oh, sorry, dass ... Louis, ich heiße Louis."
„Hi, Louis", wiederholte ich seinen Namen, denn er gefiel mir. Genauso wie der Mann, der hier mit seinen vollkommen verstrubbelten Haaren stand und von dessen Anblick ich mich nicht losreißen konnte.
„Hi, Harry", sagte er und grinste. „Ich glaube, ich werde mir mal ein Taxi besorgen und ..."
„Ja, aber sicher. Es ist auch schon spät. Ich sollte auch nach Hause gehen."
„Okay, ich melde mich bei dir", sagte er und drehte sein Handy dabei in der Hand.
„Ich würde mich freuen." Er machte noch einen Schritt auf mich zu, stellte sich ein wenig auf die Zehenspitzen und bevor ich überhaupt reagieren konnte, drückte er mir einen Kuss auf die Wange. Ich schluckte, denn das hatte ich nicht erwartet. Dann blickte er nach oben und ich folgte seinem Blick. Wir standen unter einem Mistelzweig.
„Weihnachtliche Traditionen sollte man pflegen", sagte er leise und schmunzelte.
„Ja, ja, auf jeden Fall." Ein angenehm warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus.
„Wir sehen uns, Harry."
„Bis dann."
Ich machte ihm Platz und mit einem Lächeln ging er durch den Wartebereich Richtung Ausgang. Noch lange sah ich ihm nach, bis die automatischen Türen sich schlossen.
Und urplötzlich überfiel mich eine Erkenntnis.
„Niall", rief ich laut und stolperte fast über meine eigenen Füße, denn ich hatte es sehr eilig zu ihm zu gelangen. Er stand auf und kam mir entgegen.
„Was ist?", fragte er und sah mich besorgt an.
Ich packte ihn am Kragen seiner Jacke und zog ihn ruckartig an mich.
„Er ist es, Niall."
„Wer? Was?" Etwas irritiert schaute er sich um.
„Madame Genevieve. Sie hat gesagt, dass ich einen Mann treffe, der ein wenig kleiner ist als ich, die gleiche Haarfarbe hat und blaue Augen. Es stimmt. Louis hat die schönsten Augen, die ich je gesehen habe. Und ich sollte ihn beschützen."
„Ähm ..."
„Verstehst du denn nicht?" Ich schüttelte Niall etwas durch, denn er schien das Ausmaß dessen, was hier gerade geschah, nicht zu erfassen. „Er hat gesagt, er ruft mich an. Aber was ... Niall, wenn er es nun nicht tut?" Meine Finger krampften sich um den Stoff seiner Jacke und er legte seine Hände auf meine Arme.
„Harry, atmen. Du scheinst mir ein wenig verwirrt. Geht's deinem Kopf gut?" Was sollte denn diese blöde Frage?
„Nein ... doch ..." Ich ließ ihn los und blickte hinüber zum Ausgang. Was, wenn ich ihn nie wieder sehen würde?
„Bedeutet das jetzt, dass ich dir die zwanzig Pfund nicht wiedergeben muss?", fragte Niall spitzbübisch.
„Das ist nicht witzig", entgegnete ich und sah ihn böse an.
„Was stehst du denn dann noch hier herum? Geh ihm nach. Vielleicht erwischst du ihn noch."
„Ja, du hast recht", sagte ich. Auf diese grandiose Idee war ich noch gar nicht gekommen. Mein Kopf hatte wohl doch einen kleinen Schaden genommen.
„Wünsch mir Glück", rief ich ihm noch über meine Schulter hinweg zu, während ich zum Ausgang des Krankenhauses rannte. Auf dem Gehweg sah mich um und dann entdeckte ich ihn. Er war gerade im Begriff in ein Taxi zu steigen.
„Louis." Ich streckte meinen Arm in die Luft, winkte und lief eilig auf ihn zu.
„Hey, ich dachte, wir könnten uns vielleicht ein Taxi teilen?", fragte ich, denn was anderes fiel mir gerade nicht ein.
„Musst du denn in meine Richtung?" Wieder sah er mir in die Augen und ich konnte ihm nicht gleich antworten. Dann nannte er mir seine Adresse und ich musste lachen.
„Das ist nicht weit von meiner Wohnung entfernt."
„Na dann, steig ein." Er ließ mir den Vortritt und ich half ihm beim Einsteigen. Seine Lippen presste er fest aufeinander und als er saß, entwich ihm geräuschvoll die Luft.
„Tut weh", meinte er.
„Ja, ich bin auch irgendwie auf dich draufgefallen. Es war keine Absicht." Ich senkte meinen Blick. „Hey, immer noch besser, als von einem Bus überrollt zu werden. Mach dir keine Gedanken. Ohne dich wäre ich wohl nicht mehr hier."
Mein Kopf zuckte zu ihm herum, aber es war die Wahrheit. Trotz allem versetzte mir diese Vorstellung einen Stich ins Herz.
Während der Fahrt sprachen wir nicht viel miteinander, aber das war okay. Zumindest wusste ich dann wo er wohnte und wenn er nicht anrief, dann ... konnte ich ja mal, ganz zufällig vor seinem Haus herumstehen ... oder so ... Okay, ich hatte sehr eigenartige Gedanken.
Das Taxi hielt und ich bezahlte den Fahrer. Louis fand das allerdings nicht so gut und fing an mit mir zu diskutieren.
„Du hast heute schon genug getan", sagte er. Ich zuckte nur die Schultern und irgendwann gab er es auf. Unser kleiner Schlagabtausch gefiel mir.
„Ich werde dann mal ..." Er deutete auf ein Haus und ich fuhr mir durch meine langen Haare.
„Ja, ich auch."
„Gute Nacht, Harry", sagte er lächelnd.
„Gute Nacht, Louis."
Ich drehte mich um und machte lediglich einen Schritt, da fragte er,
„Was machst du morgen? Oder besser gesagt heute?" Schwungvoll wand ich mich ihm wieder zu.
„Ich habe noch nichts vor." Okay, das war gelogen. Ich war zum Essen bei meinen Eltern eingeladen, aber für ihn würde ich das sofort sausen lassen.
„Ich auch nicht. Dann rufe ich dich später an."
„Schön, dann ... bis dann." Erneut im Begriff zu gehen, fiel Louis noch etwas ein.
„Ach, ähm, Harry ..."
„Ja?", fragte ich und blieb stehen. Der Abstand zwischen uns wurde immer geringer, da Louis nun langsam auf mich zukam. Er legte ganz unerwartet seine Hände auf meine Brust und im Schein der Laterne, waren seine Augen von einem dunklen Blau. Mein Herz tanzte, mein Bauch kribbelte, während er einfach so, ohne Vorwarnung, meine Lippen mit seinen sanft verband. Nur ganz leicht berührte er sie und mein Magen machte einen Satz nach oben ... oder unten? Dann küsste er mich noch einmal, aber diesmal erwiderte ich den Druck auf meine Lippen. Er wich ein kleines Stück von mir zurück und blickte verlegen auf seine Hände.
„Das war ...", fing ich an, aber er fiel mir ins Wort.
„... ja ... Mistelzweig und so." Er biss sich auf seine Unterlippe und in dem Moment war es um mich geschehen. Ganz davon abgesehen, war über uns nur der sternenklare Himmel. Von Mistelzweigen keine Spur.
„Gute Nacht", flüsterte er, wandte sich um und ging zur Haustür. Noch einmal sah er zu mir, denn ich stand immer noch an derselben Stelle. Erst als die Tür ins Schloss fiel, ging ich nach Hause. Ich fühlte mich beschwingt und die Traurigkeit der letzten Zeit war mit einem Mal verschwunden.
Dieser wunderschöne Mann würde mein Herz im Sturm erobern und ich hätte mit Sicherheit keine Einwände. Ein Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht. Vielleicht würde das nächste Weihnachten ja ganz anders sein ...
Ende. 💖💖
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