Weihnachten im Jahre 1800 Anno Tuck
Wir befinden uns im Jahre 1800 Anno Tuck. Was immer ihr euch unter dieser Zeitangabe vorstellen mögt, es wird richtig sein, denn es sind eure Gedanken. Und genauso, wie eure Gedanken richtig sind, geschah die Geschichte genauso, wie ich sie euch heute erzähle. Ich muss das wissen, denn ich war dabei.
Ich bin unbedeutend. Ein Komparse sozusagen. Mit kleiner Rolle ohne Text. Meine Aufregung hielt sich dadurch in Grenzen. Dennoch war ich gespannt auf die Geschehnisse des Tages. Denn an diesem Tag war alles anders.
Die Aufgabe war leicht. Sie bestand darin an einem kleinen Tisch in einer Spelunke vor meinem Whiskyglas zu sitzen und das Treiben zu beobachten. Einfach eine Figur, die den Laden füllt, das Bild optisch bereichert und weiter nichts zu tun hat.
Weihnachten im Jahr 1800 Anno Tuck – so lautete der Titel des Films. Die Dreharbeiten führten das Filmteam in mein kleines Heimatdorf. Weit ab der eigentlichen Zivilisation und der Geier weiß, wie der Location Scout, der den Dreh begleitete, auf diese gottverlassene Einöde gekommen war. Kluge Geister meiden diese Gegend.
Umgegeben von Hochmooren, dunklen Wäldern und ansonsten viel Nichts um uns herum, ist unser kleines Dorf kein Touristenmagnet. Aber wer weiß, vielleicht machte gerade das den Reiz aus. Kleine windschiefe Katen am Dorfanger, in der Mitte der Dorfbrunnen, buckeliges Kopfsteinpflaster und unser Dorfkrug, der gut und gerne an eine Spelunke aus dem 18. Jahrhundert heranreichen kann.
Das kleine Dorf wirkt immer in wenig zusammengerückt, wie die Häuser um den Dorfbrunnen herumstehen und nur eine schmale Straße die Haustüren von der Dorfmitte trennt. Für die Menschen, die in diesem Dorf leben, reicht der Raum. Sie leben in ihrer eigenen kleinen Welt und doch nicht gänzlich abgenabelt von der Zivilisation. In jeder kleinen Kate gibt es WLAN, Telefon, fließend Wasser und Strom. Auch die Plumpsklos wurden schon vor Jahren ausgetauscht, gegen kleine, moderne Toilettenanlagen in kleinen, modernen Badestuben. Trotzdem, gerade im Winter ist es immer eine heimelige Wärme, die sich in den kleinen Stuben ausbreitet, wenn die Kohle in den Öfen ihr knisterndes Feuer im Innern lohen lässt, bis die Kohle durchgeglüht ist. Das war schon seit hundert Jahren so und wird wohl auch noch die nächsten hundert Jahre so sein.
Idyllisch möchte man meinen.
Was sich nie änderte, war die Fehde zwischen den O' Mullans und den O' Mallys. Kein Mensch weiß dieser Tage noch, worum es im Ursprung einmal ging. Überlieferungen zufolge handelte es sich um illegale Schnapsbrennereien, gebrochene Schwüre und verratene Ehen. Die Wahrheit aber liegt so tief verborgen, wie das Ungeheuer von Loch Ness in seinem Tümpel begraben ist.
Und dann gib es noch Leroy O' Sugar, das bestgehütete Geheimnis in unserem Dorf. Auch Leroy lebt schon immer unter uns. Eine Spinne mit acht Beinen und zu Weihnachten trägt er immer eine Weihnachtszipfelmütze. Er besitzt 42 Leben, lebt und arbeitet in seinem Netz in unserem Dorfkrug zwischen Giebel und Lurkerbalken und schreibt seine Geschichten. Seit einigen Jahren ist sein Netz beleuchtet. Nicht grell, aber in hübschen bunten Farben und so, dass ein geschultes Auge es erkennen kann. Leroy hat ein bewegtes Leben hinter sich und zwei treue Begleiter an seiner Seite. Zum einen Mintar – sein Schatten - der eigentlich immer in seinem Kopf mit ihm quatscht, obwohl er darin gar nichts zu suchen hat. Er besitzt magische Kräfte. Kräfte, die er nur schwer bis gar nicht kontrollieren kann. Was er kontrollieren kann, ist die Magie des Heilens. Lange Jahre wurde er von Heilern in einer Kiste gefangen gehalten, bis er von Deen – seinem menschlichen Gefäß – gerettet wurde.
Deen ist Leroys zweiter treuer Begleiter. Er ist ebenso speziell wie Leroy oder Mintar. In jungen Jahren erlangte Deen die Fähigkeit Dinge um sich herum in Feuer aufgehen zu lassen.
Was hier so leicht und locker anmutet, ist mitnichten so. Für Deen handelte es sich um einen regelrechten Flammenfluch. Als Junge hatte er in seinem Leben bereits mehr erlebt, als manch erwachsener Mensch. Als er seine Gabe entdeckte, offenbarte sie sich immer dann, wenn er in großen Nöten war. Es brannten Menschen und ganze Höfe nieder. Also, das mit dem Hof, das war er nicht alleine, da trug er bereits Mintar in sich und wenn sein Gefäß in Not war, kannte Mintar keine Grenzen. Der Hof ging auf Deen seine Kappe. Die vielen Toten, waren ein Kollateralschaden, der entstand, weil Mintar und Deen zu jenen Zeiten noch nicht lange miteinander verbunden waren, die Kommunikation noch extrem haperte. Deen lasteten diese Toten schwer auf der Seele, aber Vergangenes kann man nicht ändern.
Wenn Mintar also in Deens Kopf sagt: „Mintar helfen", dann rennt so schnell ihr könnt um eure Leben.
Zur Zeit des Filmdrehs war das schon nicht mehr so extrem. Der alte Dorfkrug war schon immer Leroys Zuhause und ein Zuhause ist unantastbar. Das haben Mintar und Deen gelernt. Wir Dörfler wissen das auch, aber Fremde ...
In unserem alten Krug leben die Drei ein akzeptiertes und freies Leben. Jeder ist Hüter seines eigenen Geheimnisses und dass in diesem Dorf jeder sein eigenes Geheimnis hat, dürfte euch inzwischen wohl bewusst geworden sein.
Im Dorfkrug gelten unerlässliche Regeln. Sie zu befolgen ist wichtig, denn ein Restrisiko besteht immer! Gerade zu Zeiten, in denen etwas nicht den althergebrachten Ritualen folgt und nach ihnen gelebt wird. Die Balance in der Gemeinschaft und mit unseren speziellen Bewohnern im Dorfkrug ist so stabil wie fragil. Wenn etwas völlig aus dem Ruder läuft und Deen sich nicht mehr sicher fühlen kann in seinem Zuhause, könnt ihr euch gerne ausmalen, was wohl passieren wird, ich möchte es lieber nicht. Dieses Dorf ist auch mein Zuhause. Aber ich schweife ab.
Die Wichtigkeit der Einhaltung der Regeln im Dorfkrug, mag euch jetzt besser vor Augen stehen. Und, weil die Einhaltung so wichtig ist, hängen die Regeln an jeder Tür und an jeder Wand.
1. Keine Situationen heraufbeschwören, in denen Deen sich einer Gefahr ausgesetzt fühlen könnte.
2. Keine Faustkämpfe an Sonn- und Feiertagen.
3. Heilig Abend ist ein Feiertag, auch wenn euch nichts heilig ist.
4. Leroy: Motten sind kein Fressen, Motten sind Freunde. (Eine andere Geschichte, aber eine Regel, die Leroy nicht ohne Grund, sogar an seiner Eingangstür zum Spinnennetz angebracht hat.)
5. Alle: Finger weg von Leroys magischer Keksdose. (Die Wirkung auf Spinnen ist bekannt, die auf Menschen nicht).
In unserem kleinen Dorf sollte nur eine Szene gedreht werden. Das Risiko für eine Ausartung der Geschehnisse erschien uns als Dorfgemeinschaft gering. Weihnachten das Fest der Liebe und des Friedens. Was sollte, wenn alle die Regeln befolgten, schon groß geschehen. Auch Leroy, Mintar und Deen stimmten dem Dreh im Dorfkrug zu. Wir waren vorbereitet, erwarteten ein paar wenige Leute der Filmfirma, mit wenig Aufwand. Vier Schauspieler, einen Beleuchter und zwei, drei Kameramänner. Kurz rein ins Dorf, Dreh abschließen und gleich wieder raus. Abends sollte der Spuk wieder vorbei sein und unser Leben weiter in gewohnten Bahnen verlaufen.
Die Komparsen wurden von der kompletten Dorfgemeinschaft gestellt, was uns nicht weiter schwierig erschien.
Die Filmfirma legte Wert auf Authentizität. Der Grund, weswegen der Dreh direkt am Heilig Abend stattfinden sollte. Die Szene, die hier gedreht werden sollte, handelte von Auswanderern. Von guten Menschen und bösen Gesellen, die sich am Heilig Abend in dieser Spelunke nicht aus dem Weg gehen konnten. Von guten Mächten wunderbar umgeben. Und weil es so authentisch wie möglich sein sollte, wurde der Dreh direkt für Heilig Abend beschlossen.
Heilige Abend war gekommen. Der frühe Morgen lag in tiefer Ruhe. Die kleinen Katen duckten sich in ihrem Dorfanger. Der Winter lag mit frostiger Kälte über ihren Dächern und außer dem ollen Dorfhahn, der heiser krächzte, weil er schon seit Jahren nicht mehr krähen konnte, störte kein Geräusch die morgendliche Ruhe. Von einer leichten Schneeschicht bedeckt, schimmerten die überfrorenen Steine des Kopfsteinpflasters durch die weiße Puderschicht. Aus den Schornsteinen stiegen dünne Rauchfahnen vom Feuer der Kohleöfen in den sternenklaren Himmel.
Wir waren vollständig in unserer Dorfmitte versammelt und erwarteten in milder Aufregung die Ankunft der Filmgesellschaft. Wir hörten sie, bevor wir sie sahen. Unsere kleinen Katen erbebten unter dem Dröhnen mehrerer Sattelschlepper und LKWs. Als wir sie aus den dunklen Wäldern herauskommen sahen, erblickten wir einer unendlichen Raupe ähnlich, Scheinwerferpaar an Scheinwerferpaar. Sahen, wie der Tross in beständiger Geschwindigkeit auf unser kleines Dorf zurollte.
Wir alle waren bereits gekleidet, wie die Auswanderer. Waren die guten und bösen Menschen, die sich in der Spelunke trafen. Die Schauspieler hatten die Hauptrollen zu bekleiden. Laut Drehbuch lauter Leute, die das Schicksal hier zusammengeführt hat und seinem Schicksal kann niemand entgehen.
Verzeiht, wenn meine Stimme versagt. Wenn das Drehbuch des Lebens die Fantasie einholt, dann kann das schon einmal passieren. Die Erinnerungen wiegen schwer. Zu schwer.
Der Verlauf und das Ende der Geschichte wird genau so sein, wie ihr sie euch erdenkt. Was immer ihr euch vorstellen mögt, es wird richtig sein, denn es sind eure Gedanken.
Frohe Weihnachten
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