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,,Du darfst bleiben. Aber freu dich nicht zu früh..." Die Frau seufzte wehleidig. ,,Hier!" Sie hatte nach einem Briefumschlag, der auf ihrem kahlen Schreibtisch gelegen hatte, gegriffen und reichte ihn jetzt ihrer Tochter. Isabelle erkannte die astreine Schrift ihrer Mutter darauf.

,,Für Isabelle" stand da. Ein Lächeln husche ihr übers Gesicht. Was sich wohl darin befand? Sie wollte das Kuvert gerade vorsichtig öffnen, als die strenge Stimme ihrer Mutter sie bremste: ,,Nein, Isabelle! Erst übermorgen, wenn du aufstehst!" Was? Wieso das denn? Sie schaute verdutzt auf. ,,Übermorgen wirst du es verstehen, glaub mir."

Enttäuscht, aber auch unheimlich aufgeregt, den Briefumschlag zu öffnen, verabschiedete sie sich von ihrer Mutter, bedankte sich knapp dafür, dass sie bleiben durfte und wünschte ihr eine gute Reise. Als das Mädchen gerade durch den Türrahmen verschwand, hörte sie ihre Mutter sagen: ,,Schatz, komm mal bitte." ,,Meinst du mich?", japste das Kind ungläubig. ,,Ja", ertönte es leise aus dem Arbeitszimmer. Mühsam machte Isabelle ein paar Schritte rückwärts, bis sie wieder in der Türfassung stand. Gebannt schaute sie ins kleine, runde und schwarze Gesicht ihrer Mutter, was von geglätteten, ebenfalls schwarzen Haaren eingerahmt wurde.

Frau Davidson lockte Isabelle mit einer einladenden Handbewegung näher an sich heran. Und noch näher. Und noch näher. Bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten, denn Isabelle war fast so groß -oder hätte man klein sagen sollen?- wie ihre Mutter.

Beschwerlich und wie ferngesteuert legte die Frau ihre Arme um die Zwölfjährige und drückte sie verhalten an sich. Stark verzögert erwiderte ihre Tochter die Umarmung. Ein unbeschreibliches Gefühl! So fremd... Und doch vertraut und schön. Isabelle konnte sich an kein einziges Mal erinnern, wo ihre Mutter sie umarmt hatte oder umgekehrt. Den Umschlag hielt das Mädchen immer noch fest umklammert in der Hand.

Nach langer Zeit löste sich Isabelles Mama, sichtlich überrascht von sich selbst, aus der Umarmung. Isabelle lächelte schwach, hob ihre Rechte zum Gruß und ging.

Überwältigt von all diesen Ereignissen und Emotionen legte sie sich an jenem Abend schlafen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Abertausende Gedanken, Fragen und Hypothesen durchquerten ihren Kopf in dieser Nacht. Wieso hatte ihre Mutter sie umarmt? Hatte es etwas mit diesem Weißdornblatt zu tun? Aber das erteilte doch nur Ratschläge, oder?!

Normalerweise legte sie ein solches Verhalten nicht an den Tag. Und dann war da noch dieser weiße Briefumschlag gewesen... Isabelle hatte ihn schützend auf das Weißdornblatt auf ihren Schreibtisch gelegt. Auf Dauer sollte sich ein besserer Platz für die Nacht dafür finden... Aber was um Himmels Willen befand sich in dem Umschlag? Ein Brief? Fotos? Wieso sollte sie ihn erst etwa 24 Stunden nach der Abreise ihrer Mutter öffnen? Sollte sie es vielleicht jetzt schon tun?!

Überströmt von all diesen unbeantworteten Fragen fiel das Mädchen in einen unruhigen Schlaf.

Bei Tagesanbruch war der Schnee weggetaut. Zurück blieben viele Pfützen und Matsch. Isabelle hatte kaum fünf Stunden geschlafen, ihr Kopf schmerzte fürchterlich und während des morgendlichen Zähneputzens fielen ihr im Spiegel die dunklen Ringe unter ihren Augen auf. Halb benommen machte sie sich fertig und wusch sich mit dem eiskalten Wasser, das aus der Leitung floss. 

Ihre Gedanken schwirrten immer noch um die Vorkommnisse des letzten Tages. Der Briefumschlag, die Umarmung. Irgendetwas war komisch daran... Der letzte Schriftzug auf dem Blatt! Isabelle sah in vor ihrem inneren Auge. ,,Mit den Augen des anderen sehen, mit seinen Ohren hören, wie er fühlen" oder so ähnlich war es doch formuliert gewesen... Isabelle strengte ihr Gehirn an. Alle Energie strömte nun in ihren Kopf. Ihr fiel ein: Ihre Mutter war rational und überlegt. Es musste also einen wichtigen Grund gehabt haben, wieso sie das alles getan hatte. Wieso sollte der Briefumschlag genau morgen früh geöffnet werden? Was würde morgen früh sein? Kauerbach. Das hatte sie ja ganz ausgeblendet! Wieso hatte sie überhaupt gewollt, dass Isabelle in zur Ferienfreizeit ging? Bedrohte sie vielleicht etwas? Nein...Bestimmt nicht, Isabelle!, sagte sie sich. Und wieso hatte ihre Mutter sie ,,Schatz" genannt? Das war schon ziemlich merkwürdig....

Sie konnte sich so sehr in Frau Davidson hineinversetzten, wie sie wollte, sie schien nie eine Antwort finden zu werden. Die Zwölfjährige nahm das Blatt vom Schreibtisch wieder in ihre Hosentasche. Ihre Hand huschte dabei zum Umschlag. Sie hielt ihn für eine Weile in der Hand und beschloss dann, ihn aufzumachen. 

Als sie gerade ihren Daumen unter die Klappe geschoben hatte und diese sich zu öffnen begann, erinnerte sie sich an die besondere Umarmung und daran, wie sehr ihre Mutter sich angestrengt haben musste, um nachzugeben. Sie hatte am letzten Abend für Isabelle gehandelt! Schnell zog sie ihre Hand wieder vom Brief weg. Jetzt wollte sie ihr den Wunsch erfüllen, mit dem Öffnen zu warten.

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