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Sie betrat den Flur, aus dem Schlafzimmer drang das leise Schnarchen ihres Vaters, der wohl von der Nachtschicht zurück war. Der Reisekoffer stand nicht mehr hinter dem Schreibtisch, als ihr Blick ins Arbeitszimmer fiel. Auch die altmodische Schmuckdose, die immer auf der glatten Fensterbank gestanden hatte, fehlte. Sie war immer da. IMMER. Nur heute nicht. Und wohl die nächsten zwei Wochen.

Isabelles Beine trugen sie in die Küche, wo unangenehme Stille herrschte. Sie schüttete etwas Wasser in ihre Kehle, die sich wie zugeschnürt anfühlte. Mehr bekam sie für den Moment nicht in sich hinein. Gedankenverloren holte sie Mohrrüben, Rosenkohlschalen, Gurke und einen halben Chinakohl aus dem Kühlfach. Sie kramte in den Küchenmöbeln nach dem Holzteller, von welchem ihre beiden Fellnasen immer fraßen und stückelte das Futter darauf klein. Nur weil sie keinen Happen herunter bekam, hieß das ja nicht, dass ihre beiden pelzigen Freunde nichts zu essen kriegen würden!

Die Kapuze ihres Pullovers tief ins Gesicht gezogen, watete sie in Gummistiefeln durch den Sumpf, der wegen des weggetauten Schnees nun ihr Haus umgab, zum Gehege. Mit spitzen Fingern legte sie die Isolierdecke weg, dann stellte sie das Futter hinein. Mit einem herzerwärmend niedlichen Blick bedankte sich Mimi.

Etwas ungeduldig wartete das Mädchen vor dem Stall, bis Mimi und Lou den Großteil verspeist hatten. In der Hoffnung, nicht in dem Sumpf stecken zu bleiben, flüchtete sie sich schließlich ins Haus.

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Der restliche Tag schlich vor sich hin, als hätte sich ein Schwergewicht auf den Uhrzeiger gesetzt. Isabelle verbrachte ihn damit, gelangweilt auf ihrem Bett zu liegen und zu grübeln, ihren Vater erfolglos über den Briefumschlag und Frau Davidsons seltsames Benehmen auszufragen und vergebens zu versuchen, neue Ideen für die Unterwasserwelt, die sie gerade zeichnete, zu sammeln.

Jetzt lag sie im Bett und wollte einschlafen. Ihre Augenlider fielen zwar zu vom ganzen Grübeln, aber die zahlreichen Fragen -sowohl die alten als auch die neuen- plagten sie immer noch.

,,Sag mir, was ist da drin?!", brüllte eine aggressive Stimme. Isabelle schaute sich ängstlich um. Sie war in einem großen, dunklen und geschlossenen Raum gefangen. ,,Mach ihn auf!" Sie hielt den Umschlag ihrer Mutter fest umklammert in der Hand. ,,Erst morgen Früh", piepste sie panisch. ,,Ich habe gesagt, du sollst ihn aufmachen!" Die Stimme wurde immer lauter und lauter. ,,Nein...", jammerte das Mädchen. Sie war den Tränen nahe.

Plötzlich, wie ferngesteuert, rissen ihre Hände den Umschlag auf. ,,Neeeeein!", schrie Isabelle mit weit aufgerissenen Augen. Doch ihre Hände hörten nicht.

Sobald sie den Inhalt herausholte, verschwamm alles um sie herum zu einem dunklen Schwarz und sie fiel in einen Tunnel. Adrenalin und Ungewissheit durchströmten ihren Körper. Sie fiel und fiel. Lange.

Sie wachte schweißgebadet auf. Der Tag war schon angebrochen, ihr Zimmer erhellt. Der Traum! Was war das gewesen? War dem irgendeine Bedeutung beizumessen? Sie war gefallen. In ihr Bett...

Isabelle sprang schlagartig auf. Mit klopfendem Herzen setzte sie einen Fuß vor den anderen, um nach dem Brief zu greifen, der auf dem Schreibtisch ruhte. Er schien so weit entfernt. Ihre kaltschweißigen Hände segelten zum Tisch und angelten nach dem weißen Kuvert. Gespannt setzte sie sich gemeinsam mit ihm auf den Teppich und legte ihn vor sich hin, als hätte sie sich noch nicht entschlossen, wie sie fortfahren würde.

Nachdem sie sicher war, dass es das Richtige war, ihn zu öffnen, nahm sie ihn auf ein Neues in die Hand. Zaghaft klappte sie ihn auf. Im Kuvert befand sich ein ebenso weißes Blatt. Sie faltete es verhalten auseinander.

Die zahlreichen, mit Füller geschriebenen Zeilen auf dem Papier rückten in den Fokus ihres Blicks. Ihr Herz hämmerte heftiger denn je, als sie las.


Liebe Isabelle,

ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich hoffe inständig, du wirst nicht allzu enttäuscht von mir sein, nachdem du diesen Brief gelesen haben wirst.

In Prag wartet ein wichtiges Projekt auf mich. Leider muss ich dafür dort vor Ort zur Stelle sein. Bis das Gebäude gebaut werden kann, wird es voraussichtlich circa drei Jahre dauern. Auch danach werde ich den Bau wahrscheinlich noch betreuen müssen. Du musst dir jedoch keine finanziellen Sorgen um euch machen. Ich werde euch die nötige Unterstützung bieten.

Ich bedauere sehr, mich nicht von dir verabschiedet zu haben, Isabelle, jedoch bin ich dankbar, dass wir uns im Guten getrennt haben.

Georg weiß Bescheid. Er wird dir eine Stütze sein.

Falls du mir etwas Dringendes schreiben musst, hier meine zukünftige Adresse:

Cukrovarnická 361/23

Střešovice

162 00 Praha 6

Mama


Ein Gefühl der Übelkeit, hervorgerufen durch die Unehrlichkeit und die Enttäuschung über die Tatsache, dass ihr Vater schon lange davon gewusst hatte, ohne Isabelle auch nur ein Sterbenswörtchen darüber zu verraten, bahnte sich an und überkam sie in einem riesigen Schwall. Ihr Kopf färbte sich blutrot vor Wut, Tränen der Verzweiflung traten aus ihren Augen. Was sollte sie tun?

Sie griff hilfesuchend nach ihrer filigranen Halskette mit der zarten Feder, für sie ein Symbol der Freiheit.

Ihr Vater schien doch nicht so vertrauenswürdig zu sein, wie sie gedacht hatte, und ihre Mutter konnte ihr erst mal gestohlen bleiben. Esther war weg... Sich ihr am Telefon auszuschütten war auch doof, zumal Isabelle nicht wusste, wie viel das kostete. Blieben nur noch die Bäume. Möglicherweise war es besser so.

Immer noch von Tränen geflutet nahm sie es fest in die Hand. Wieso eigentlich ein Weißdornblatt?

Isabelles Sicht war eingeschränkt, durch den Film von Tränen auf ihren Pupillen sah sie lediglich etwas Grünes mit ihrer Hand verschmelzen. Dass es das magische Blatt aus dem Wald war, verrieten ihr nur die erfühlte Form und das vertraute Gefühl auf der Haut. Ob sich darauf wieder eine verschlüsselte Botschaft ihrer neuen Freunde blicken ließ, sah sie nicht.

Schluchzend wischte sie sich über die Augen. Ihr Blick verschärfte sich. Das Gold stach ihr in die Augen. Sie las den Spruch, in der Hoffnung, Hilfe zu erlangen, hingebungsvoll durch.


Erwarte viel von dir selbst und wenig von anderen,

so wird dir viel Ärger erspart bleiben.


Hatte sie zu viel von ihren Eltern erwartet?

Doch ihre Mutter hatte ihr vorgestern Abend solche Hoffnungen gemacht! Sie war so nett gewesen. -Wie eine Mutter eben...- Und ihr Vater? Naja, der konnte vermutlich nicht besonders viel dafür. Isabelle wusste ja, wie er sich dem Willen seiner Frau fügte.

Eine Weile saß sie noch da. Der Brief neben ihr, die Kette in der einen Hand, das Geschenk des Waldes in der anderen.

Dann beschloss sie, ihren Vater mit all dem zu konfrontieren. Das Grüne versteckte sie vorher unter ihrem Hoodie, damit sie es später nicht vergaß. Den Brief -und damit eine schwere Last- nahm sie in ihre Linke.

Isabelle platzte förmlich ins Schlafzimmer. Ihr Vater schrak durch ihr Poltern hoch. ,,Was soll das?", fragte er verschlafen. Als Antwort hielt sie ihm das Papier vors Gesicht, verschränkte die Arme und schaute beleidigt zur Seite. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihr Vater die Zeilen überflog. Erwartungsvoll blickte sie ihn an. Ihr Vater wandte den seinen Blick ab und schaute beschämt zu Boden. Wortlos nahm er seine geliebte Tochter in den Arm. Es tat gut. Aber es schmerzte.

,,Georg weiß Bescheid", zitierte Isabelles zittrige Stimme vorwurfsvoll. Herr Davidson nickte bejahend. ,,Franziska sagte, wenn ich dir etwas verraten würde, nähme sie dich nach Prag mit...", entschuldigte der Vater sich kaum hörbar. Er war den Tränen nahe, das merkte Isabelle.

Eingekuschelt hatten die beiden nun da gelegen. Den ganzen restlichen Tag. Isabelle fing an, nachzuempfinden, wie ihr Vater sich gefühlt haben musste, ihr nichts erzählen zu dürfen. Die Lehre der Bäume zum Thema Empathie hatte Wirkung gezeigt.

Es fühlte sich gut an, so neben ihm zu liegen. Lediglich zum Verköstigten ihrer Haustiere und zum Ausmisten des Stalls trabte sie ein paar Mal in den Garten. Immer, wenn sie wiederkam, döste ihr Vater. Er schien übernächtigt. Doch wenn sie da war, war er auf. Ihr zuliebe.

Als das Mädchen am Nachmittag im Badezimmer war, machte sie einen Abstecher in ihr Zimmer. Das Blatt! Es ruhte immer noch geschützt und gewärmt unter ihrem Kapuzenpullover. Sie nahm es zu sich -sie stellte die Verbindung zu den Weisen wieder auf- und erblickte die poetischen Worte.

Manche Tatsachen wollen eine Zeit auf der Seele ruhen.

Und das ließ sie heute zu. Zusammen mit ihrem Vater. -Ihrem Ruhepol.

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