Kapitel 3 - Skylar (ü)

Ich verziehe mich in mein neues Zimmer, reisse die Gardinen auf, und stelle mich ans Fenster.

Mittlerweile sollte es ungefähr halb zwei nachts sein, und ich bin immer noch hellwach. Leise nehme ich die Stimmen von Ace und Ashton wahr, und auch ohne zu lauschen bin ich mir sicher, dass sie über mich diskutieren. Ich frage mich, was Ashton hier macht. Immerhin hat er bei seinen Eltern nicht schlecht gewohnt, im Gegenteil.

Draussen sehe ich, wie die Polizisten wegfahren, doch es löst nicht wie bei anderen ein Gefühl von Erleichterung in mir aus. Ich würde ehrlich gesagt am Liebsten mitfahren und meinetwegen in einer Zelle übernachten, solange Ash nicht da ist.

Was ist bloß mit ihm passiert? Habe ich damals was falsch gemacht? Haben seine Eltern ihm von mir abgeraten? Immerhin sind mir ihre Blicke nicht entgangen, doch Ashton zuliebe habe ich so getan, als würde ich sie nicht bemerken. War das falsch? Hat es überhaupt mit mir zu tun?!

Ich lehne die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und atme ein paar Mal tief ein und aus. Mein Auge pocht, und ich frage mich, wie es morgen bei Tageslicht wohl aussehen wird. Bestimmt werden alle denken, ich hätte mich geprügelt, aber diese Version ist mir ehrlich gesagt sogar lieber. Ich will nicht als das arme Mädchen abgestempelt werden, das von ihrem alkoholsüchtigen Vater geschlagen wird. Aber das ist für die nächsten Jahre auch vorbei, wenn ich die Polizisten richtig verstanden habe – mein Vater wandert ins Gefängnis.

Ich schüttle den Kopf, in der Hoffnung, ich wache gleich auf und sitze mit meiner Mutter, meinem Vater und meinem Bruder am Küchentisch, und wir essen gemeinsam Teigwaren. So wie früher, bevor meine Mutter in diesesFlugzeug stieg, und bevor mein Bruder sich aus dem Staub machte. Einfach so, ohne sich zu verabschieden.

Meine Finger tasten zu der Halskette, die ich vonJace zu meinem zwanzigsten Geburtstag bekommen habe. Ich umschliesse den kleinen Schlüsselanhänger fest, und spüre, wie etwas auf meine Hand tropft.

Zuerst geht meine Mutter, dann mein Bruder und jetzt ist auch mein Vater weg. Ich hatte noch nie ein sehr gutes Band zu meinem Vater, doch Jace... wir waren Geschwister und beste Freunde gleichzeitig. Er hat mich in der Schule immer vor den älteren Leuten beschützt, und wir haben abends immer zusammen Filme geschaut, uns über Promis lustig gemacht und Pizzen bestellt. Wir waren immer die „perfekten" Geschwister, allgemein waren wir eine Familie wie aus dem Bilderbuch.

Es war alles perfekt. Unsere Eltern verdienten gut, wir hatten alles was wir brauchten. Jace und ich hatten die Möglichkeit bekommen, eine gute Schulausbildung zu bekommen, und wir hatten viele Freunde. Doch dann kam die Nachricht, die unsere ganze Familie auseinanderriss:

Meine Mutter ist ums Leben gekommen.

Sie wollte ihre alte Schulfreundin besuchen, die in die auf die andere Seite der USA gezogen war. Der Flieger ist auf halber Strecke abgestürzt, kein Passagier hat überlebt. Unser Vater hat angefangen zu trinken und uns zu schlagen, er hat seinen Job verloren und wir mussten umziehen.

Jace hat am Anfang das meiste abbekommen, weil er mich beschützt hat. Oft ist er mit mehreren Platzwunden ins Krankenhaus gegangen, um sich versorgen zu lassen, doch er hat meinen Vater nie angezeigt. Und dann ist er irgendwann einfach gegangen. Er hat mir einen Brief hinterlassen, mehr nicht. Ich habe es nicht verstanden, ich wollte es nicht verstehen. Wieso hat er mich nicht mitgenommen? Wieso hat er nicht mit mir darüber gesprochen? Wieso lässt er mich mit so einem Vater alleine?

Und da hat alles angefangen. Meine innere Leere, die bis heute anhält. Die einzige Familie, die ich noch hatte, war weg. Ich musste mich alleine mit meinem Vater durchschlagen, mich alleine wehren, und bis heute habe ich nichts von Jace gehört. Er hat mir im Brief gesagt, ich solle stark bleiben, und dass er wieder zurückkommen wird, wenn er sich selbst über einige Dinge klargeworden ist. Dass ich das hier schon schaffe, dass ich immer an mich selbst glauben soll. Alles, was mir von ihm geblieben ist, ist diese Kette, ein paar Fotos, der Brief und... sein Pulli.

Fuck, der Pulli.

Ich wische mir mit dem Ärmel über die Augen und hoffe, ich sehe nicht allzu schlimm aus.

Jace' Pulli ist noch in meinem Zimmer, und ich muss ihn da rausholen. Ich kann ohne nicht schlafen, so kindisch das auch klingen mag. Doch wie soll ich in unsere Wohnung kommen? Die ist doch sicher noch abgesperrt.

Ich fange wieder an zu weinen, doch diesmal ist es eher ein hysterisches Weinen. Ich schluchze laut und ringe nach Atem, während ich das Gefühl habe, alles um mich herum verschwimmt. Ich kann nur noch an diesen Pulli denken, und dass ich ihn holen muss. Also reisse ich das Fenster auf und hänge mich fast ganz raus.

Tatsächlich wird das Gefühl in meinen Lungen besser, und ich bekomme mehr Luft. Ich setze mich auf die Fensterbank und lasse meine immer noch sehr zittrigen Beine aus dem Fenster baumeln, während auch mein Schluchzen immer leiser wird. Doch die Tränen fliessen. Ich schaue starr geradeaus, um nicht zu sehen, wie hoch oben ich gerade bin. Es ist mir egal, ich will nur meine Ruhe und frische Luft. Ich klammere mich am Fenster fest, damit ich nicht abrutsche, als plötzlich die Türe aufgerissen wird. Ich schaue nach hinten, und entdecke Ash.

„Scheisse man kannst du nicht – fuck, hey, komm da runter." Mehr als besorgt schaut Ash mich an, doch ich lächle nur leicht. „Ich will nicht springen. Nur etwas frische Luft."

Ash atmet etwas auf, doch die Ader an seiner Schläfe pocht immer noch. „Und da kannst du nicht einfach auf den Balkon? Was war eben überhaupt los?" Hat er mich etwa gehört? „Nichts, alles gut." Ich drehe meinen Kopf wieder zurück, um die Gedanken an Jace zu unterdrücken, doch ich begehe einen Fehler.

Gleichzeitig mit Ash's „weißt du eigentlich wie hoch oben du bist?" schaue ich nach unten, und mir wird schwindelig. Es fühlt sich wieder so an, als würde mir die Luft abgeschnürt, und ich kann mich nicht mehr orientieren.

„Hey, was ist los?" höre ich Ash von weit weg sagen, doch ich kann nicht antworten – ich muss atmen. Ich reisse die Augen weit auf und kann den Blick nicht mehr von der Strasse unter mir wenden. Ich habe das Gefühl als würde der Boden rasend schnell auf mich zukommen, und ich zittere wieder. Und dann kommen sie wieder, die Stimmen die mir zuschreien, ich soll diesen verdammten Pulli holen gehen. Ich fange mit meiner freien Hand an wie wildgeworden herumzufuchteln und wische mir diefliessenden Tränen vom Gesicht, was alles nur noch schlimmer macht. Pulli. Hol den Pulli. Los! Meine Finger graben sich fast in das Glas der Fensterscheibe, an der ich mich festhalte, um den Halt nicht zu verlieren. Komm schon, geh! Hol den Pulli! Das hier ist sogar der schnellste Weg, aus dem Fenster! Der Pulli riecht nach Jace, schon vergessen? Hol ihn, damit er nah bei dir ist!

Durch einen Ruck werde ich wieder zurück in die Realität befördert. „Was machst du da bitte" höre ich plötzlich wieder Ashtons Stimme, und die Bilder davon, wie ich aus dem Fenster springe, verschwinden. Ich befinde mich wieder im Zimmer... am Boden? Warte, da ist noch was – Ash! Schnell versuche ich aufzustehen, doch Ash zieht mich wieder an seine Brust. „Bleib so. Beruhige dich, bitte." Seine Stimme ist nur ein Hauchen, und mir fährt es eiskalt den Rücken runter. Ashton hält mich fest umschlungen an seine Brust gepresst, und sein Kinn liegt auf meinem Kopf. Unsicher lege ich meine Arme um seinen Oberkörper, dann lege ich meinen Kopf an seine Schulter.

Einen Moment lang spüre ich noch die Anspannung in meinem Körper, und den Drang, mich aus der Umarmung zu schälen, doch dann überfällt mich die Müdigkeit von der Aktion eben, und ich lehne mich mit meinem vollen Körpergewicht gegen Ashton.

„Was war denn los?" murmle ich irgendwann in sein Shirt, und ich kann sein Schulterzucken spüren. „Ich kam rein, weil ich glaubte zu hören, dass du am Weinen warst. Naja, dann warst du beim Fenster und hast mir gesagt, dass nichts los ist, und dann bist du plötzlich total durchgedreht. Es sah so aus, als wolltest du springen."

Den letzten Satz verstehe ich beinahe nicht, weil Ash so leise spricht, doch ich spüre, dass er mich noch stärker an sich drückt. Er war doch eben noch so kalt?

„Was war überhaupt los, dass du geheult hast?" Ich spanne mich augenblicklich wieder an, doch dann gebe ich mir einen Ruck. Er weiss sowieso schon ein paar Dinge, und Ace wird ihm die gestrigen Geschehnisse bestimmt auch geschildert haben.

„Ich habe einen Bruder, Jace. Er sollte jetzt vierundzwanzig sein, wenn ich richtigliege. Wir waren wie beste Freunde, er war immer für mich da. Hat mich vor den älteren an der Schule beschützt und... später auch vor meinem Vater. Doch nach dem Tod meiner Mutter hat er sich immer weiter verändert, ich habe gemerkt, dass es ihm mehr zusetzt, als dass er zeigt. Doch meinen Vater hat es nie interessiert – er hatte nur Augen für seinen Alkohol. Jace hat mich immer geschützt, wenn Dad mich schlagen wollte, und stattdessen hat er natürlich Jace geschlagen. Irgendwann ist er einfach abgehauen. Er hat mir einen Pulli von sich und einen Brief hinterlassen... mehr nicht. Das war vor etwas mehr als einem Jahr. Es hat sich angefühlt, als hätte er mein Herz in zwei Stücke gerissen. Als hätte er mich im Stich gelassen. Er war immer mein Vorbild, und ich wollte schon von klein auf so mutig wie er werden. Ich wollte die Leute um mich herum auch so wunderschön zum Lachen bringen, wie er es getan hat. Er hatte keine Feinde, nie. Die Leute haben ihn von Anfang an gemocht, obwohl sie vielleicht noch nie mit ihm gesprochen hatten. Er war gut in der Schule und hat Abende damit verbracht, mir Mathe zu erklären – ich war immer grottenschlecht darin."

Mir entwischt ein bitteres Lachen, während mir die Tränen wieder runterlaufen, und Ash drückt mich etwas von sich, um mir die Tränen wegzuwischen. Ich merke, dass ich ihm jetzt alles erzählen kann – sogar muss. Dass ich es brauche, mal mit jemandem darüber zu sprechen – also rede ich weiter.

„Ich habe mich nach dem Tod meiner Mutter zurückgezogen, doch er hat mich wieder hochgezogen, obwohl es ihm selbst so schlecht ging. Als er ging, brach für mich alles zusammen. Ich... ich hab emich für kurze Zeit selbst verletzt, ich habe kaum was gegessen, ich wollte sogar das Studium abbrechen. Doch ich habe es nicht getan. Aber ohne diesen Pulli kann ich nicht mehr einschlafen, ohne Panik zu bekommen. Panik vor dem, was am nächsten Tag passieren wird. Davor, dass mir mein Vater auch noch genommen wird, auch wenn ich ihn nicht wirklich sehr schätze. Und jetzt ist es passiert. Er hat sich selbst von mir weggerissen. Wen habe ich jetzt noch?"

Meine Stimme bricht endgültig, und Ash schafft es nicht mehr, die Tränen wegzuwischen. Stattdessen zieht er mich wieder an sich und legt sein Gesicht in meine Halsbeuge. Er streicht mit seinem Daumen sanft über meinen Rücken, während die andere Hand auf meinem Hinterkopf liegt.

Ja, wen habe ich jetzt noch?

Ich zittere unkontrolliert und kann mein Schluchzen auch nicht mehr wirklich unterdrücken, doch es ist mir egal. Es ist mir alles gerade so egal. Es muss einfach alles raus, damit ich wiederklare Gedanken fassen kann.

„Weißt du" sage ich irgendwann, und hole tief Luft. „Ich habe Jace lange Zeit für das, was er getan hat gehasst. Ich war mir sicher, dass ich ihm eine verpassen würde, wenn er zurückkehren würde, doch irgendwann... irgendwann habe ich gemerkt, dass ich ihn eigentlich nur furchtbar vermisse. Dass ich meinen Bruder und meinen besten Freund brauche, dass ich mir Sorgen um ihn mache, dass ich wissen will, wo er ist und wieso er das getan hat. Ich will doch einfach nur meinen Bruder wiedersehen. Ich will, dass diese Schmerzen aufhören!"

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