Kapitel 11 - Skylar (ü)
Ash spannt sich sofort an, als ihn der Kellner fragt, wo er Micah gelassen hat.
Wer ist das denn? Vielleicht seine Exfreundin? Oder sonst jemand?
Fragend schaue ich Ash an, doch in seiner Miene verändert sich nichts. „Sie konnte heute nicht kommen" sagt er nur, und der Kellner nickt verständnisvoll.
Wer zur Hölle ist Micah?
„Folgt mir" fährt der Mann fröhlich fort, und wir eilen ihm nach, bis wir an einem Tisch für zwei ankommen, der direkt neben einem Fenster steht. „Ich bringe euch gleich die Karten. Wollt ihr vielleicht etwas zu trinken?" Ich nicke, und bestelle mir einen Eistee. Ich glaube, Ash atmet etwas zu scharf ein, als ich bestelle, doch ich ignoriere es. „Für mich bitte auch einen Eistee" sagt Ash, und der Kellner nickt wissend.
„Das dachte ich mir schon. Du und Micah habt das immer getrunken, als wärt ihr abhängig davon!" Ash lächelt ihn an, doch ich sehe, dass es aufgesetzt ist. Sobald wir die Karten haben, und der Kellner verschwunden ist, will ich den Mund öffnen um Ash zu fragen, wer Micah ist, doch er legt mir einen Zeigefinger auf den Mund.
„Micah ist meine kleine Schwester" sagt er nur, und ich nicke. „Okay... und wo ist sie denn jetzt?" frage ich vorsichtig, doch Ash sagt nichts mehr. Lange schweigen wir, und als unsere Bestellung abgenommen wird, herrscht eine angespannte Stimmung.
„Ash, bitte, re-"
„Sie ist tot."
Kurz sage ich gar nichts mehr. Ash schaut angestrengt auf sein Glas Eistee, und ich sehe, wie schnell seine Atmung geht. Was soll ich denn jetzt sagen? Ich bin total schlecht in sowas. „Das tut mir leid" ist alles, was ich sage. Ash schnaubt nur, und ich erschrecke etwas.
„Das sagen alle. Doch die meisten wissen nicht, wie sich das wirklich anfühlt."
Ich nehme instinktiv Ash's Hand, und abermals verspannt er sich. Gerade will ich sie wieder wegnehmen, doch dann legt er seine Hand über meine. Etwas erschrocken schaue ich ihn an, doch Ash starrt weiterhin auf seinen Eistee.
„Was ist passiert?" frage ich leise, und Ash schweigt. „Es waren meine Eltern" sagt er nur, was mich zutiefst erschaudern lässt.
„Wie, deine Eltern? Wie meinst du das? Haben sie Micah etwa eigenhändig ermordet?!" Ash wird bei jedem Satz kleiner, dann schüttelt er den Kopf. „Nein, es waren ihre Worte. Ihre Art wie sie mit Micah... wie sie mit uns umgegangen sind. Du verstehst das wahrscheinlich nicht, oder?"
Zum ersten Mal seit diesem Thema schaut Ash mich an, und ich erkenne zum ersten Mal seit ich ihn kenne diese Unsicherheit in seinen Augen, die ihn wie ein kleines Kind aussehen lässt.
„Doch, ich verstehe das sogar sehr gut" sage ich, und schaue Ash weiterhin in die Augen. Denn auch ich habe eine Familie, die mich mit Worten innerlich fast getötet hat. Ash mustert mein Gesicht, dann lächelt er leicht.
„Danke" sagt er tonlos, und ich drücke seine Hand. „Nein, ich danke dir." Verwundert blickt Ash auf. „Wofür denn? Ich heule mich bei dir aus, und du bedankst dich?"
Ich lächle leicht. „Na, ich glaube nicht, dass du das jedem hier erzählen würdest, oder? Das heisst, dass du mir in irgendeiner Weise vertrauen musst, und dafür bin ich dir dankbar. Ausserdem bist du seit heute Morgen nicht mehr von meiner Seite gewichen, obwohl du einfach hättest zu Hause bleiben und weiss ich was machen können."
Jetzt erwidert Ash mein Lächeln und drückt meine Hand. „Das habe ich gerne gemacht. Ich hätte dich doch nicht in diesem hysterischen Zustand in einen Zug oder Bus steigen lassen können! Die Menschen wären weggerannt!"
Wir beide lachen, und in diesem Moment kommt der Kellner mit zwei Pizzen an unseren Tisch. „Soo, einmal eine Pizza Hawaii für die Dame, und eine Pizza Salami für die Herren."
Wir bedanken uns, und mit leicht gerümpfter Nase mustert Ash meine Pizza Hawaii. „Ich könnte dich dafür umbringen" meint er, und ich lache nur. „Tu's doch" sage ich, und schaue Ash herausfordernd an. Dieser winkt ab und schiebt sich das erste Stück Pizza in den Mund, während ich meine noch am Schneiden bin.
„Was wirst du jetzt eigentlich machen?" fragt Ash mich irgendwann, und ich hebe verwirrt den Kopf. „
Wie meinst du?" frage ich, und kaue zwischendurch.
„Na... wegen Jace, du weißt schon. Er will anscheinend nicht, dass du ihn kontaktierst."
Ich seufze und lege das Pizzastück wieder auf den Teller. „Ich habe keine Ahnung, wenn ich ehrlich bin. Dass Mason so viel von ihm weiss, nein, dass er sogar sein Freund ist, hätte ich nicht erwartet. Ich hätte nicht mal erwartet, dass Jace es zulässt, mir über jemanden Informationen zukommen zu lassen. Trotzdem tut es verdammt weh. Ich würde ihm so gerne eine reinhauen dafür, dass er sich scheinbar nicht wirklich dafür interessiert, dass ich ihn vermisse und ihn brauche. Es ist mir egal ob er bereit dazu ist, mich zu sehen – ich brauche ihn verdammt. Er hat schon so viel Zeit gehabt, ich... ich möchte ihn einfach wiedersehen. Ihn umarmen, mit ihm lachen und mir keine Sorgen mehr machen. Ich finde es egoistisch von ihm, meine Gefühle und Wünsche nicht zu beachten. Ich glaube, ich werde trotzdem einen Weg suchen, mit ihm in Kontakt zu treten. Immerhin ist er mein Bruder... mein grosser Bruder, und die einzige Familie, die ich noch habe. Er wird das verstehen müssen."
Ich schlucke und versuche, den Kloß in meinem Hals zu ignorieren. Ich habe eben genug geheult wegen Jace, das muss jetzt nicht wieder anfangen. Immerhin sitze ich gerade mit Ash in seiner Lieblingspizzeria, und er hat mir einen kleinen Teil seiner Vergangenheit anvertraut – da kann ich nicht wieder mit meinen Problemen ankommen und ihn vollheulen.
„Ich werde dir helfen" höre ich plötzlich von Ash, und hebe ruckartig den Kopf, den ich gesenkt habe, weil ich nicht wollte, dass Ash die Tränen in meinen Augen sieht.
„Wie – du?" erstaunt schaue ich Ash an, und er nickt. „Wieso so erstaunt?" fragt er grinsend, und ich schüttle nur ungläubig den Kopf. „Ich hätte es ehrlich gesagt von dir nicht erwartet. Du warst gestern so abweisend, dass ich dachte, du würdest lieber auf der Strasse pennen als mit mir unter einem Dach. Du hast ja dann auch auf dem Dach übernachtet."
Ash lächelt verlegen, doch dann setzt er sich auf. „Hör zu... das ganze hier ist eine neue, unbekannte Situation für mich. Du... du erinnerst mich an Micah. Du könntest ihr Zwilling sein, ohne Scheiß. Und ich bin noch nicht ganz bereit dazu, ständig an sie erinnert zu werden, immerhin... sie war die beste kleine Schwester, die ich mir hätte wünschen können, und ich verstehe nicht, wieso ein so toller Mensch wie sie sterben musste. Du redest wie sie, denkst wie sie, handelst wie sie. Ihr habt sogar die ungefähr gleichen Vorlieben. Deshalb habe ich gestern alles versucht, dich von mir zu stossen und mich zu verstecken vor all dem unbekannten, das auf mich zukommen könnte, wenn ich weiterhin mit dir so umgehe, wie jetzt eben. Aber ich kann dir und dem ganzen Thema nicht ewig aus dem Weg gehen, und ich glaube, dass wir beide etwas haben, womit wir klarkommen und abschliessen müssen. Daher denke ich, dass du mir in gewisser Weise auch helfen kannst, sogar unbewusst. Vielleicht wird alles leichter zu ertragen, wenn ich mich daran gewöhne, an Micah erinnert zu werden. Vielleicht sehe ich irgendwann nicht mal mehr Micah in dir, sondern dich, Skylar. Denn so sehr du mich auch an sie erinnerst – du bist nicht Micah, und das muss jetzt in meinen Kopf rein. Also habe ich mich dazu entschlossen, dir mit der Suche nach Jace zu helfen, und gleichzeitig eine normale Freundschaft mit dir aufzubauen, damit ich eventuell endlich mit meiner Vergangenheit abschliessen kann. Nur wenn das für dich okay ist, natürlich."
Kurze Zeit sitze ich einfach nur mit leicht geöffnetem Mund da, starre Ash an und lasse mir seine Worte eben durch den Kopf gehen. „Ich – äh... also, ja. Okay. Ja damit bin ich natürlich einverstanden!" Ich sehe förmlich, wie Ash eine Last von den Schultern gleitet, während sich sein Mund zu einem breiten Grinsen verzieht.
„So, und jetzt iss deine Pizza. In eineinhalb Stunden steht Ace auf der Matte und holt dich ab."
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„Wie war's eigentlich mit Ash? Hat er sich benommen?"
Ich lache und nicke. „Ja Ace, er hat sich benommen. Und der Tag war ganz okay, wir haben viel geredet und geklärt." Etwas erschrocken schaut Ace mich an, während er einen Drink mixt.
„Ohne Streit? Steht die Wohnung noch?"
Ich nicke. „Wir waren kaum zu Hause. Aber ich erzähle dir später alles, pass du mal lieber auf den Drink da auf, ausser du willst in ein zweites Mal mixen."
Gerade noch rechtzeitig schafft Ace es, das Glas nicht zum Kippen zu bringen, und atmet erleichtert auf.
„Du hast nichts gesehen" zischt er, und ich lache. „Indianerehrenwort".
Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass wir in zehn Minuten schliessen. Es ist schon nach Mitternacht, und langsam aber sicher werde ich verdammt müde. Ace hingegen scheint hellwach zu sein, was ich beim besten Willen nicht verstehe. Er ist nicht erst am Mittag aufgestanden, hat den ganzen Tag mit seinem kleinen Bruder auf dessen Party geredet und Scheisse gebaut, und jetzt arbeitet er seit bald sechs Stunden durchgehend, bedient jegliche Art von Leuten mit allen möglichen Launen und Wünschen, und trotzdem begrüsst er alle mit einem breiten Grinsen im Gesicht, mixt Drinks als gäbe es kein Morgen und macht das Ganze mit so viel Elan, dass mir fast schwindlig wird, wenn ich ihm zuschaue.
Ich muss ihn unbedingt nach seinem Geheimnis fragen.
„Entschuldigen Sie, aber wo finde ich hier die Toiletten?"
Ein junges Mädchen steht vor mir, ich schätze sie nicht älter als achtzehn ein. Freundlich weise ich hinter mich. „Einfach weiter nach hinten, dort sollte alles angeschrieben sein." Das Mädchen bedankt sich und verschwindet. Ich schnappe mir mein Tablett und einen Putzlappen und drehe meine mindestens zwanzigste Runde durch die Bar um leere Gläser und Snackschüsseln einzusammeln und Tische zu putzen. Eigentlich macht das unsere Aushilfe, doch da wir heute recht wenige Leute haben, weil es mitten in der Woche ist, haben wir ihr die Arbeit heute erspart.
Irgendwann geht dann auch der letzte Gast, und wir schliessen den Laden. Ace zieht sich hinten um, während ich noch die Theke putze. Dann wechseln wir und ich eile nach hinten, wühle in meiner Tasche nach Ash's Pulli den ich mir eingepackt habe, ziehe ihn mir über und trete nach vorne.
„Soso, ist das jetzt dein neues Lieblingsstück?" witzelt Ace, und ich verdrehe nur die Augen.
„Irgendwas muss ich ja anziehen, wenn ich nicht in meine Wohnung darf. Komm, lass uns gehen, ich bin müde und kann's kaum erwarten, mich gleich hinzulegen." Ace folgt mir und schliesst die Türe ab, während ich mir schon mal meinen Motorradhelm schnappe. Ich warte bis Ace sitzt, schwinge mich hintendrauf und schlinge meine Arme um Ace' Bauch.
„Sitzt du?" fragt dieser, und als ich nicke, fahren wir los.
Die Fahrt durch die kühle Nacht tut mir gut, und ich lehne mich an Ace' Rücken.
Zu Hause angekommen rede ich nicht viel, sondern verschwinde sofort in mein Zimmer. Ich mache mir nicht mal die Mühe, den Pulli gegen ein Shirt zu wechseln, sondern lege mich sofort hin und schliesse die Augen.
Eben habe ich gesehen, dass Ash's Zimmer dunkel ist, also scheint er schon zu schlafen, denn die Balkontüre war auch abgeschlossen.
Meine Gedanken schweifen zum heutigen Tag, und was Ash mir über Micah gesagt hat. Ich würde gerne wissen, was genau passiert ist, doch das wird Ash sicher irgendwann erzählen. Und wenn nicht, muss ich das respektieren.
Irgendwann drifte ich weg und falle in einen unruhigen Schlaf. Ich träume davon, dass ich Jace sehe, er jedoch vor mir wegläuft, während ich mich nicht bewegen kann. Ich schreie verzweifelt seinen Namen, doch es interessiert ihn nicht. Er wird immer kleiner und kleiner, und ich schreie noch lauter seinen Namen, als ich plötzlich etwas Kaltes auf meiner Stirn spüre. Sofort schrecke ich auf und schaue mitten in Ash's Gesicht.
Keuchend schaue ich mich um, doch Jace ist nirgends zu sehen. In meinem Zimmer brennt Licht, und im Türrahmen steht Ace, der gerade ausgiebig gähnt. Ich schaue wieder zu Ash, der auf meinem Bett sitzt, und gerade seine Hand von meiner Stirn nimmt.
„Was macht ihr hier?" frage ich irgendwann, und versuche normal zu atmen.
Es war nur ein Traum, Sky.
„Du hast geschrien. Mehrmals sogar, da sind wir beide aufgewacht und zu dir gekommen." Ash deutet auf Ace und sich, während er sich räuspert. Er scheint wirklich erst gerade aufgewacht zu sein.
„Das... das tut mir leid. Ich habe geträumt" nuschle ich, und Ash legt mir eine Hand auf die Schulter. „Das muss dir nicht leidtun, jeder träumt mal schlecht. Willst du was trinken?"
Kurz überlege ich, dann schüttle ich den Kopf. „Nein, es geht schon, danke. Geht ruhig wieder schlafen." Ace nickt und verschwindet, und auch Ash steht zögerlich auf, doch im Türrahmen dreht er sich nochmal um.
„Gute Nacht, Sky."
Ich lächle, dann geht das Licht aus und Ash verschwindet.
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Hallo! Ich melde mich jetzt auch mal unter meinen Posts. Erstmal möchte ich mich dafür bedanken, dass ihr aktiv seid. Das freut mich wirklich! Auch möchte ich verkünden, dass ich schon wieder eine Idee für ein weiteres Buch habe xD Vielleicht kommt bald der Klappentext ;)
Nun, was denkt ihr - wie wird es weitergehen mit Ash und Sky? Und was haltet ihr davon, dass Ash Skylar von Micah erzählt hat? Was denkt ihr, dass mit ihr passiert ist? Und was haltet ihr von Jace und davon, dass er einfach gegangen ist? Schreibt doch mal eure Meinungen :) Auch würde ich mich riesig über Feedback freuen! - Xo, Zebisthoughts
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