SOS


POV: Manu

Heiligabend ist vier Tage her. Zum vierten Mal in meinem Leben sitze ich im Zug zu Hannah. Mit flatterndem Absperrband ziehe ich eine Grenze um ihren Namen. Hannah, nur Hannah, die nichts mit dem Rest zu tun hat. Nicht Shaftesbourne, nicht Hannahs Haus mit dem Fenster, nicht die Schule, in der ich die Anderen kennengelernt habe.

Nicht Patrick.

Es geht meinen Brüdern besser. Sie können mich behandeln wie früher. Ich soll nur zurück, weil mein aktueller Zustand ihrem Entzug nicht gut tut. Es muss reichen, mich für die Weihnachtstage gehabt zu haben.

Ich muss zwei Mal umsteigen. An dem Ort, wo ich mit Patrick in einem Hotelbett geschlafen habe. Und an dem Ort, wo ich mit ihm in einem gefrorenen Bach stand, ohne mich danach zu erkälten. Diesmal sind meine Züge alle pünktlich.

Alles an mir ist taub, aber taub sein heißt, dass es nicht mehr ganz so sehr wehtut. Ich blende die Bewegung meines Körpers im Raum aus, fühle nur meine Lungen, die sich dehnen und zusammenziehen. Atmen reicht doch eigentlich.

Hannah schließt mich wortlos in die Arme zur Begrüßung. Ich vergrabe mich darin und spüre, dass ich eigentlich heulen müsste. Keine Ahnung, warum ich es lasse.

Sie hat nichts in meinem Zimmer verändert als das Fenster. Eine Vorhangstange, Schrauben und ein Vorhang zum Einfädeln liegen dort, die ich anbringen kann, wenn ich will. Mir schießen Tränen in die Augen vor Dankbarkeit, und ich umarme Hannah ein zweites Mal, so fest, dass sie leise ächzend nach meinen Oberarmen greift.

Aber um sie anzubringen, müsste ich mich dem Fenster nähern. Dann könnte ich Patrick zu Gesicht bekommen. Vielleicht nur Patrick, vielleicht Patrick mit Robin. Robin, die meinen Brief nie in die Finger bekommen hat; Patrick, in dessen Leben ich ein ekelhafter Ausrutscher bin, den er sich selbst nicht verzeihen wird. Kaum habe ich mich im Zimmer wieder zurechtgefunden, lösche ich das Licht. Auch ohne Vorhang bin ich unsichtbar.

Fragen, die ich nicht in Worte fassen kann, höhlen meinen Brustkorb aus. Patrick ist nebenan, und ich bin hilflos.

Ich erinnere mich an das Leiden meiner Brüder, in den ersten Tagen ihres kalten Entzugs. Die kurze Zeit, die ich noch mitbekommen habe, bevor Mama mich nach Shaftesbourne geschickt hat, damit ich es alles nicht mehr mit ansehen muss. Die Wutausbrüche und der Hass, der sich mir widmete, waren für mein damaliges Selbst natürlich das Schlimmste, aber ich erinnere mich an mehr. Ich erinnere mich an etwas tiefer liegendes, düsteres, zerstörerisches. Als würden sie den Schmerz in sich selbst zermahlen und verteilen. Es hat sich angefühlt, als wäre es für immer.

Wenn ich jetzt in den Spiegel schaue, sehe ich dieselbe unterdrückte Schwärze. Ich sehe aus wie auf Entzug.

Vielleicht, denke ich, ist das Schicksal. Eine Strafe für meine Arroganz. Vielleicht musste ich Patrick kennenlernen, damit er mir wehtut.

Aber er hat mir nicht wehgetan. Ich habe uns beiden wehgetan.

Ein Teil von mir zehrt von der Wut, die ich noch aufbringen kann, weil sie besser ist als die spärlich verfügbare Ablenkung. Aber sie rinnt aus. Ich glaube, ein Teil von mir vergibt uns beiden. Ich will reparieren. So dringend, dass mir egal ist, was überhaupt noch zu reparieren ist.

Ich ziehe die Knie an den Körper und weine leise, bis ich wieder leer bin und nicht weiß wohin mit mir. Als mir die Tränen ausgehen, überrollt mich der Schmerz wieder. Ich hätte den Brief anders schreiben sollen. Oder an jemand anderen. An Patrick, nicht Robin.

Meine Hand findet den Lichtschalter. Es gibt nur einen Morsecode, den ich kenne, und er erscheint mir passend. Ich nutze den Moment, in dem Patrick mir wichtiger wird als die Summe meines Wehleids und Stolzes.


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