Führung
POV: Manu
Ich erwache mit schmerzenden Gliedern und klarerem Kopf. Es ist Wahnsinn, wie schnell man etwas als normal wahrnehmen kann. Es ist jetzt normal, dass ich nicht zuhause bin. Wehtun tut es trotzdem.
Jetzt, wo die Taubheit in den Hintergrund tritt, spüre ich nämlich mein Heimweh. Spüre, wie fremd sich die Matratze unter meinem Rücken anfühlt (obwohl sie zugegebenermaßen verdammt bequem ist), und dass ich nicht runter gehen will, weil ich nicht weiß, wie ich mit Hannah überhaupt frühstücken soll.
Fremde Dielen knarren unter meinen Füßen. Ein fremder Schrank spuckt mir meine Kleidung entgegen, als ich ihn öffne, und ich fluche darüber, wie beschissen ich ihn gestern eingeräumt habe. Und meine eigenen Augen scheinen mir fremd, als ich sie auf das Fenster richte, vor dem ich gestern so lange verharrt habe.
Es war also kein Traum.
Hannahs Geschirrklappern lockt mich nach unten. Sie hat Cornflakes gekauft ("Ich ess sowas ja nicht, aber bei so Teenagern wie dir weiß man ja nie was die so mögen") und ich überwinde mich zu einem "Danke". Zumindest eine vertraute Sache in dieser Fremde, auch wenn sie nach Pappe schmeckt. Hannah scheint allerdings ein wenig beleidigt, dass ich ihr frisch aus dem Ofen gekommenes Brot verschmähe.
Sie besteht darauf, mir im Auto eine Führung durch das Dorf zu geben. Ihr Feingefühl ist ausgeprägt genug, damit sie das Vorhaben, mich den Anderen vorzustellen, schnell wieder fallen lässt, aber sie stellt mir die Anderen vor, wenn wir an ihnen vorbeifahren, aus der sicheren Kapsel ihres Smarts heraus.
Es gibt Strände, von denen die meisten sich tief unter die Klippen kauern und übersäht von Müll sind. Hinter einem strecken sich Stege wie lange, dünne Skelettfinger in das schmutzige Meer. Kleine graue Fischerboote hängen daran. Auf den Klippen darüber steht der Großteil des Dorfes, aber vom Weg aus erkennt man das kaum. Da erheben sich nur die Steinwände über einem, bedrohlich und dunkel als wollten sie sich über mir zusammenfalten. Wir wandern den Halbkreis der Klippenränder entlang, der sich absenkt und uns wieder nach oben trägt, bis wir dem Dorf fast gegenüberstehen. Immer härter zerrt der Wind an unseren Kleidern. Zu unseren Füßen wachsen störrische, feste Pflanzen. Die Luft schmeckt nach Salz. Hannah erklärt mir irgendwas darüber, und ich höre nicht zu.
In einer Joggerin, die Hannah mir mit "Das ist Robin. Sie ist mit Patrick, dem Jungen von nebenan, zusammen. Die beiden sind in deiner Stufe" vorstellt, erkenne ich das Mädchen von gestern wieder. Auch wenn ich weiß, dass ich meine Beobachtung nicht nur geträumt habe, scheint sie so sehr danach an, dass es sich wieder wie Aufwachen anfühlt, als sie aus meinem Blickfeld verschwindet.
Es ist schön hier, mit gerade genug Makeln um echt auszusehen, und genau das kann ich nicht ertragen. Es wäre leichter, hätte Mom mich in ein grässliches Waisenhaus wie bei Oliver Twist geschickt. Oder wenn Hannah gewesen wäre wie die Dursleys, und ich unter der Treppe schlafen und mich von ihrem Sohn mobben lassen müsste. Oder wie die böse Stiefmutter von Aschenbrödel. Es wäre leichter, in irgendeiner Welt, die nicht versucht, mich freundlich aufzunehmen.
Ich kann Hannahs Nettigkeiten nicht erwidern. Als wir auf der höchsten Klippe angekommen sind, lasse ich mich absetzen, und lehne ihr Angebot gemeinsam zu gehen, ab. Ich will zu Fuß zurück, um eine Weile tatsächlich so allein zu sein, wie ich mich fühle. Sobald ihr Auto verschwunden ist, fängt mein Atem an zu zittern.
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