Endboss

POV: Patrick

Die mit rotem Leder bezogenen gepolsterten Bänke lassen mich doppelt nachschauen, ob wir nicht doch in der ersten Klasse sind. Aber das sind wir nicht, wir sind einfach gesegnet. Mit einem sauberen Abteil mit verschließbarer Tür zum Gang, ganz für uns alleine, in der zweiten Klasse. Es ist Sonntag, und wir fahren jetzt schon zurück, weil eine der Stationen, an denen wir umsteigen müssten, nicht mehr angefahren wird. Nur für den Fall, dass wir uns verspäten.

Ich hiefe meinen Rucksack in die Gepäckablage und halte Manu an den Hüften fest während er das Selbe mit seinem tut. "Nicht fallen", necke ich, und er stößt mir einen Ellbogen in die Seite. Wir küssen uns, bis das Anfahren des Zuges uns auseinander reißt.

Wir haben mehr als genug Platz um uns auszubreiten. Aber ich brauche keine Ausrede mehr, um Manu halb auf meinen Schoß zu ziehen. Ich kann es einfach machen.

Meine Finger tanzen über den Saum seines T-Shirts. Es gibt keinen Rest der Welt mehr. Nur uns beide. Dieses Zugabteil ist unser Raumschiff.

Er legt die Arme um meine Schultern, rückt seine Seite näher an meine Brust und begräbt die Nase an meinem Hals. Er sieht müde aus, seit wir uns von seinen Brüdern verabschiedet haben.

"Alles okay?", frage ich, und er antwortet: "Fast."

Grinsend drücke ich die Lippen an seine Schläfe. Ich kenne niemanden außer Manu, der so antworten würde. "Was fehlt denn?

"Irgendwo geht es immer ohne mich weiter. Als würde ich überall nur halb dazugehören. Wenn ich nach Shaftesbourne fahre, ist meine Familie ohne mich auch eine Familie. Wenn ich bei meiner Familie bin, seid ihr ohne mich Shaftesbourne. Hannah hat ihr Leben, du hast..." Robins Name bleibt unausgesprochen in der Luft hängen.

"Deine Familie ist ohne dich nicht das Selbe."

"Nicht das Selbe. Aber trotzdem vollständig."

"Wie könnte etwas ohne dich vollständig sein?"

Er lächelt und küsst mich. "Du verstehst doch, was ich meine. Wenn du aus deiner Familie verschwinden würdest, für länger, würde sie zerbrechen. Du bist immer das Gleichgewicht. Du bist immer der Typ, der sich in alle reinfühlen kann, egal, wie kompliziert. Meine Familie funktioniert ohne mich."

Ich schüttele den Kopf. "Wenn sie nicht wüssten, dass du es nie zulassen würdest, würden sie sich auch zerkrachen. Ich kann Streit nur vermeiden. Du kannst machen, dass Streit einen nicht auseinanderbringt."

Ich will ihm sagen, dass ich ihn liebe, aber ich lasse es. Wir bleiben bei Komplimenten und Küssen.

Die Verspätung des Zuges wächst und wächst bei jedem Halt. Es stört uns so lange nicht, bis uns klar wird, dass wir unseren Anschluss verpassen werden.

"Und jetzt?", frage ich, und Manu zieht sein Handy hervor um neue Pläne zu schmieden. Wir steigen in einem anderen Dorf aus, von dem uns heute kein Zug mehr wegbringen wird, und haben keine Wahl, als uns ein Hotelzimmer zu nehmen.

Hungrig durchstreifen wir einen Supermarkt und suchen uns Essen, das man nicht kochen muss. Getrocknete Tomaten, Puddings, Cracker, Hummus... eine Menge Kram, der kaum und doch perfekt zusammenpasst wandert über die Kasse, bis wir Sorge haben, es nicht mehr alles tragen zu können.

Wir machen ein Picknick auf dem zugedeckten Hotelbett. Manu hat die Frage "Mit getrennten Betten?" völlig selbstverständlich mit "Nein" beantwortet, bevor ich darüber auch nur nachdenken musste. Es war so quälend schön, mir vorzustellen, was das bedeuten wird.

Kaum haben wir unseren Hunger gestillt, fallen wir ineinander. Ich kann nicht beschreiben, wie gut es sich anfühlt, ihn zu küssen. Als würde es mich ausbalancieren. Meinen verrenkten, zerstörten Geist, den ich in Puzzlelücken gequetscht habe, in die er nicht gepasst hat, wieder in seine dellenlose Ursprungsform bringen. Als könne er mir durch die Lippen in die Seele schauen. Sein Atem schießt in meinen Nacken. Unsere Shirts liegen irgendwo auf dem Boden. Meine Hände betasten einen schmalen, nackten Rücken. Seine Hände sind überall an mir, halten mein Gesicht, meine Schulter, meine Brust. Gleiten in meine Hose, aber nicht in die Unterwäsche. Es reicht. Wir sind alles was zählt.

Am nächsten Morgen müssen wir früh wieder auschecken. Ich will den Weg zum Bahnhof einschlagen, aber Manu nimmt meine Hand, ganz selbstverständlich, als wären wir seit Jahren ein Paar, und zieht mich in die andere Richtung.

"Ich hab uns einen Park rausgesucht.", erklärt er. "Der Bahnsteig ist doch ungemütlich, zum frühstücken"

In diesem Moment will ich ihn küssen. Wegen der Art, wie er mich mit sich zieht. Wie seine Stimme von der zu langen Nacht kratzt. Wie er das nasse, frischgewaschene Haar unordentlich auf dem Kopf verknotet hat. Ich sehe ihn das erste Mal mit Brille, bisher hat er immer Kontaktlinsen getragen. Er sieht so viel greifbarer aus, weniger mysteriös und mehr wie ein Hipster. Irgendwie maskuliner. Ich liebe beides an ihm.

Wir kaufen und teilen Früchte und Kaffee. Von gestern sind Cracker und Hummus übrig. Der Park ist winzig, und zur Hälfte ein Kinderspielplatz, doch um diese Uhrzeit noch ruhig und leer. Wir küssen in der Spinnennetzschaukel bis uns schwindelig wird.

Als wir wieder am Bahnhof sitzen, wünsche ich mir, dass der Zug einfach nie ankommt.

Manu tigert auf und ab, bis ich meine Augen länger auf ihm liegen lasse. "Was ist jetzt mit Robin?", fragt er. Der Name stellt mir die Nackenhaare auf wie ein Jumpscare. Kurz hasse ich ihn dafür, dass er unsere Glücksblase zersticht bevor es sein muss.

"Ich schaffe das. Versprochen."

"Was schaffst du?" Sein Blick durchbohrt mich. Ich weiß nicht, welche Antwort er erwartet.

"Ich- Sie ist unser... Finale." Meine Stimme klingt fremd.

Ich kann nicht sagen, dass ich Robin nicht liebe. Aber noch viel weniger könnte ich das Selbe über Manu behaupten. Ich lasse den Selbsthass nicht rein, den Gedanken, dass ich beide betrüge. Solange ich noch kann, genieße ich die Vorstellung, dass Manu es liebt, mein Geheimnis zu sein.

Er sieht mich unbewegt an. "Oder ich bin eures."


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