Eierschalen

POV: Patrick

"Hast du gesehen, dass Hilkes Geschäft die Sportsachen alle im Angebot hat?"

Etwas in mir zuckt zusammen. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht. Bitte nicht über Preise reden. Wo Preise sind, ist Geld nicht weit; wo Geld ist, ist Einkommen nicht weit. Und wo Einkommen ist, kann ich die Schritte zur Eskalation an einer Hand abzählen. Wir haben es streitfrei bis zum frühen Abend geschafft. Das Abendessen muss jetzt irgendwie noch machbar sein.

"Ich brauch keine Sportsachen", nuschele ich in mein verkochtes Dosengemüse. Aber Mom will nicht loslassen. Vielleicht, weil sie schon sieht, wie Dad von seinem Hühnchen hochschaut als rechne er mit einem Schlag ins Gesicht. Vielleicht, weil sie will dass es eskaliert, damit sie wieder über Nacht zu ihrem Bruder fahren und das Eierschalenlabyrinth unseres Hauses kurz vergessen kann. Oder vielleicht, weil ihr wirklich wichtig ist, dass ich neue Sportsachen kriege.

"Sicher, Patrick? Du hast immer die gleiche Sporthose an, und der Bund flabbelt so hässlich. Hilkes Zeug sah wirklich fesch aus."

Dad schaltet sich ein. "Ich weiß nicht, ob fesch der Stil ist, den er sucht."

Ich unterdrücke ein Grinsen. Aber Nicken tue ich nicht. Sonst wäre Mom beleidigt, weil ich mich auf Dads Seite gestellt habe. Ich vergrabe mich nur in meinem Essen, als könnte ein voller Mund mich vor allem beschützen.

Aber leider hört Dad nicht auf zu reden. "Außerdem, warum drängst du ihn? Geld für Sachen auszugeben, die er nicht einmal haben will, ist das letzte, was wir tun müssen."

Scheiße.

Mit angehaltenem Atem durchforste ich mein Hirn nach einer Bemerkung, mit der ich Moms schnippische Antwort stoppen kann. Und Dads Reaktion darauf. Und den Streit, in den das führen wird.

Ich bin nicht schnell genug. Bevor ich unterbrechen kann, kommentiert Mom: "Du hast gerade erst dein Auto reparieren lassen, obwohl du meins hättest nutzen können. Dass wir zwei Autos haben ist doch sowieso längst nicht mehr nötig. Wenn wir das Geld für so eine Reparatur haben, werden Sportsachen im Angebot uns schon nicht so wehtun."

Diesmal hänge ich mich schnell genug dazwischen. "Apropros Autos: Robin hat ihre Führerscheinprüfung bestanden!"

Eine Lüge. Aber es ist nicht so, als sei ich das nicht gewöhnt.

Und es funktioniert. Ich sehe beiden an, dass sie streiten wollen, doch stattdessen freuen sie sich gezwungen für mich, während ich plappernd schwärme wie entspannt es sein wird, wenn endlich mal auch sie am Steuer sitzt. Ich bin geübt darin, nicht zuzulassen, dass jemand Anderes wieder das Wort ergreift. Dad will sagen, dass er immerhin Geld verdient, auch wenn er die Firma gegen die Wand gefahren hat, und dass Mom nie einen Cent nach Hause gebracht hat, und Mom will sagen, dass er die Firma nicht gegen die Wand hätte fahren können, wenn er auf sie gehört hätte... es ist nämlich so, dass wir bis vor einigen Jahren mehr oder weniger reich waren. Dad hat das Unternehmen von seiner Mom geerbt und vergrößert, bis es uns das mit Abstand größte Einkommen im Dorf beschert hat. Die Firma wuchs unter ihm, und sie war sein ganzer Stolz. Auch wenn wir auf keinen Fall in einer reichen Gegend gewohnt haben - meine Eltern mochten die Beschaulichkeit des Dorfes - fuhren wir in luxuriöse Urlaube wann immer ich Ferien hatte.

Seit drei Jahren machen wir das nicht mehr. Und seit drei Jahren ist da dieses leichte Bisschen Anspannung wann immer meine beiden Eltern in einem Raum sind. Natürlich habe ich versucht, mich einfach in meinem Zimmer einzuschließen und ihr Streiten zu ignorieren. Von alleine ziehen sie mich selten in ihr Gekeife mit hinein. Aber sie brauchen mich als Schlichter. Das wusste ich spätestens nach dem dritten Mal an dem ich sie alleine streiten gelassen habe.

Als die Türklingel meinen Redefluss unterbricht, bin ich der Erste, der aufgestanden ist. Meine Eltern schweigen und ich vergesse sie, öffne die Tür und schließe meine Freundin in die Arme.

Robin ist der einzige Mensch der mich kennt. Wirklich kennt. So gut kennt, dass sie sich ohne mit der Wimper zu zucken bedankt, als Mom ihr zu der bestandenen Führerscheinprüfung gratuliert. Robin weiß, dass ich viel lüge. Nicht nur, wenn ich muss. Und sie durchschaut mich jedes Mal.

Jetzt, wo sie da ist, ist die Gefahr gebannt, denn es heißt, dass das Abendessen beendet ist. Mom räumt das Geschirr alleine weg, und will danach zum Yogatreffen, und Dad verschwindet nach draußen, um doch noch einmal zu versuchen, den Rasenmäher zu reparieren. Sobald Mom weg ist, wird er wieder reinkommen und Fußball schauen, aber es ist mir egal. Hauptsache die beiden sind nicht zusammen.

In meinem Zimmer angekommen spüre ich kurz, wie erschöpft ich eigentlich bin. Sicherzustellen, dass ich immer in Bewegung bin, und möglichst nie allein, ist eine feste Gewohnheit, die mir die Seele einmauert. Es ist keine Erschöpfung, die sich durch Schlaf, Sport oder Meditation lösen lassen könnte. Es ist die Art Erschöpfung, die einen auffrisst, wenn man nicht hinfühlt; und eines Tages schaut man sich an und merkt, dass einem die Seele doch längst durch eine fremde ausgetauscht wurde.

Robin spürt, dass ich gerade nicht viel reden kann. Sie hält mein Gesicht, leitet meine Hände zu ihren Hüften und küsst mich. Das kann ich mittlerweile, ohne darüber nachdenken zu müssen.

"Gott, bist du verkrampft", murmelt sie, während sie mit der Hand über meinen Unterarm streicht. Ihre Stimme ist höher, als man bei ihrem Aussehen erwarten würde. Sie klingt immer wie eine von diesen winzigen Weihnachtsglocken. Und sie riecht frisch geduscht, nach künstlichem Ahorn und Grapefruit.

"Tut mir leid", antworte ich ehrlich. "Ich weiß nicht, ob ich heute zu etwas zu gebrauchen bin."

"Du bist immer zu gebrauchen. Suchst du die Musik aus, oder soll ich?"

Wenn Robin nichts Anderes mit mir anzufangen weiß, schauen wir Serien, bei denen nur sie zuhört, oder tanzen Standart. Ich finde an beidem nicht viel, aber Robin liebt es, und ich bin es ihr schuldig. Also überlasse ich ihr auch heute die Musikwahl und nehme meine Position ein.

Walzer ist so leicht, dass ich mich dabei nicht mehr konzentrieren muss. Ich kann die Nase in Robins Haar drücken und üben, wie man atmet, wenn man nicht so tut als würde man nicht streiten.

Bei Hannah brennt Licht. Oben, in dem Zimmer, das sonst eine Abstellkammer ist. Da sitzt jemand. Ich erkenne eine Silhouette mit langen dunklen Haaren, vermutlich also ein Mädchen. Ich kann nicht erkennen, ob sie wach ist oder schläft, aber ihr Gesicht ist in unsere Richtung gewendet.

Ich bemühe mich, nicht zu ihr zu schauen. Wenn Robin sie entdeckt, wird sie eifersüchtig werden. Robin wird leicht eifersüchtig.

Ich behalte den Blick auf ihrem Scheitel, bis die Playlist zuende ist. Trotzdem glaube ich, den Blick der Fremden von Nebenan spüren zu können.

Mit Robin in den Armen einzuschlafen ist leichter, als alleine zu sein.


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