Brief
POV: Manu
Robins Zopf wippt schräg links vor meinem Pult, so eifrig kritzelt sie Notizen zu dem Vortrag der Lehrerin in ihr Heft.
Wenn sie wüsste.
Meine Bleistift kratzt ruhelos über das raue Recyclingpapier meines Heftes, ohne Buchstaben oder Bedeutung zu erzeugen. Dann schreibe ich Patricks Namen. Wenn sie wüsste. Ja, was dann? Wenn sie es herausfinden würde, wenn sie merken würde, dass ihr Freund sich seinen Nachbarsjungen ins Bett geholt und ihm alles Mögliche versprochen hat?
hat dich betrogen, schreibe ich. Jetzt steht Patrick hat dich betrogen in meinem Heft, unter einer Formel, von der ich nicht weiß wie man sie anwendet. Bittererweise stimmt es für Robin und für mich.
Es ihr zu erzählen würde nichts anrichten als Zerstörung. Patrick würde mich hassen. Robin würde ihn hassen, und mich. Eigentlich lade ich genauso viel Schuld auf mich wie auf ihn; schließlich wusste ich von Anfang an, dass er eine Freundin hat.
Er hat in den letzten Monaten sehr, sehr viel Zeit mit mir verbracht, schreibe ich. Es wäre so unfair von mir, Robin mit reinzuziehen. Eigentlich, schießt es mir durch den Kopf, ist gerade alles so, wie es sein muss. Patrick geht es scheiße, mir geht es scheiße, und Robin geht es gut, weil sie von nichts weiß. Wir beide sind diejenigen, die es verdient haben, unter dem Schlamassel zu leiden, den wir uns selbst eingebrockt haben. Aber ich ertrage den Gedanken nicht, dass vielleicht ich mehr leide als Patrick.
Wir haben miteinander geschlafen und er hat mir gesagt, dass er mich liebt. Ich dachte, das solltest du wissen. Tut mir leid, dass ich es dir nicht vorher gemeldet habe. In Gedanken füge ich hinzu: Ich dachte, ich kann ihn für mich haben.
Ich weiß, dass ich ihr den Brief nicht geben darf. Alle Moral spricht dagegen. Er wird mehr Leid auslösen, bei allen, und beide werden mich dafür hassen.
Liebe Grüße, Manuel.
Meine Moral ist taub.
Der Brief liegt eine ganze Weile auf Robins Tisch, bevor sie ihn bemerkt. Da ist noch die Chance, ihn wegzunehmen. Ich gehe die Folgen durch, die es haben wird, und bereite mich auf die Reue vor. Aber ich lasse ihn liegen. Die Zeit dehnt sich wie billige Mottenfänger, bis Robin den Zettel mit ihrem Namen entdeckt und in ihre Schultasche befördert ohne ihn zu lesen. Er ragt halb heraus. Meine Wut wird ersetzt durch tiefe Befriedigung. Ich wusste nicht, dass ich rachsüchtig bin. Es ist kein schöner Zug.
Der elektronische Pausengong wurde durch irgendein weihnachtliches Geklimper ersetzt. Die Stimmung in der Luft ist so unwahrscheinlich friedlich. Die Schüler packen langsamer ein als sonst. Ich bin auf Robins Fersen, als sie den Weg durch den von Fünftklässlern geschmückten Schulflur nimmt. Ich will sie sehen, wenn sie den Brief öffnet.
Sie kommt zu Patrick, an unseren üblichen Tisch im Pausencafe. Ich bleibe in der Nähe der Tür stehen und beobachte von Weitem. Er sitzt schon dort, sie lässt sich neben ihn fallen, die Schultasche mit dem Brief achtlos über einer Schulter hängend. Er fällt fast heraus. Patrick bemerkt es. Und greift nach dem Brief.
Fragend schaut er sie an. Sagt etwas, was ich nicht verstehe. Robin zuckt mit den Schultern und antwortet etwas. Patrick faltet den Zettel auf und ließt stumm.
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