Ein letzter Schritt
Der Wind frischt auf, streicht kalt über meine Haut. Fast ist es so, als wolle er mich über die Klippe nach unten stoßen. In das Nichts, das unter mir herrscht. In die Schwärze.
Meine Gedanken klammern sich an Erzählungen, die mir auf meinem Weg immer wieder zu Ohren gekommen sind.
Komme ich nun in den Himmel oder in die Hölle? Gibt es einen Gott? Gibt es einen Teufel? Gibt es ein Paradies?
Oder ist all das eine Lüge? Genauso wie die Reinkarnation?
Alles eine große Lüge, die sich die Menschen auf ihrem Weg erzählen. Mit welchem Ziel?
Auf die Hoffnung, dass dieser nächste Schritt alles besser macht? Ich wende meinen Kopf ein letztes Mal und sehe auf die Landschaft, die hinter mir liegt.
Ganz unten am Berg erkenne ich die Bäume, die meinen geliebten Wald bilden. Je mehr der Berg an Höhe gewinnt, desto niedriger werden die Bäume, bis sie schließlich in Gras übergehen. Und schließlich in ein Grau, in dem aber so viel Zufriedenheit steckt.
Das alles aufgeben für dieses Nichts?
Dabei war dieser ganze Weg so schön, so einzigartig und wertvoll.
Wenn es tatsächlich ein Paradies gibt, wertet es das Leben nicht ab? Denn wozu wäre dieser ganze Weg nach oben gut gewesen, wenn am Ende etwas so viel Besseres wartet? Für nichts. Oder es war eine Prüfung und wenn man sie nicht bestanden hat, fällt man in die ewige Verdammnis.
Aber nur für einen Fehler, den man, auf die Ewigkeit bezogen, in einem kleinen Leben gemacht hat? Würde dieser Fehler oder die Böswilligkeit eines Menschen nicht angesichts der Unendlichkeit verpuffen?
Ist auch dieser Himmel letztendlich nichts als eine andere Version der Hölle? Unterscheidet dieser Himmel sich wirklich vom Leben?
Ist das Leben ein Gefängnis, aus dem wir ausbrechen, nur um in ein weiteres Gefängnis zu kommen, das uns eine falsche Freiheit verspricht? Denn auch ein schönes Gefängnis ist und bleibt ein Gefängnis.
Sind Himmel und Hölle nichts als Illusion, um die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen? Natürlich ist die Vorstellung, alle, die einen großen Teil des Weges mit gelaufen sind, eines Tages wiederzusehen, wunderschön. Aber jetzt, als ich hier so stehe, frage ich mich ernsthaft, wie das gehen soll. Wäre das nicht eine endlose Kette an Menschen, Seelen, Engeln oder wie auch immer sie heißen mögen? Schließlich hat jeder unterschiedliche Menschen auf seinem Weg getroffen ... Wäre dann nicht jeder Mensch, der einmal gelebt hat, in diesem Himmel? Und was ist mit denen, die in die Hölle kommen? Denn auch dort gibt es Väter, Mütter, Geschwister ...
Wenn jemand in den Himmel kommt, so wurde es erzählt, trifft er alle seine Lieben wieder.
Ich nehme einmal an, ein nahestehendener Verwandter käme in die Hölle. Diesen Jemand habe ich aber dennoch sehr geliebt. Ich müsste ihn also im Himmel wiedersehen, aber er kommt dort nie an. Ohne diese eine Person wäre mein Himmel aber kein Himmel in dem Sinne, da eine entscheidende Person fehlt.
Wird diese Person dann trotzdem erschaffen, als Abbild, Klon oder billige Kopie? Ist das dann richtig? Ist es das wert? Wie viel im Himmel wäre dann tatsächlich echt?
Oder steigen solche Personen allein durch die Liebe doch in den Himmel auf? Dann wäre die Hölle tatsächlich eine Illusion. Wer sagt dann, dass es den Himmel gibt, der somit mehr als überbevölkert sein müsste. Oder?
Ist dieses vermeintliche Paradies am Ende auch nur etwas, das geschaffen wurde, um uns von einer wahren Erlösung fernzuhalten? Eine trostspendende Erfindung? Oder doch die Wahrheit?
Oder ist das Ganze nur eine Scharade, die mich alles von früher vergessen lässt? Die Erinnerungen zunichte macht, da das Leben mit dem, was danach kommt, nicht mithalten kann?
Vielleicht ist auch alles eine große Lüge und so etwas wie der Tod existiert gar nicht. Vielleicht gehen wir stattdessen einfach in das nächste Leben über oder wir erwachen aus einem Traum und fangen dann erst an, unser richtiges Leben zu leben.
Oder sind wir schon längst im Himmel - oder in der Hölle?
Ist es gar das Leben selbst, das das ganze Ziel darstellt?
Ist es am Ende etwa doch alles wahr? Am Ende kommen wir in den Himmel oder in die Hölle. In welcher Version davon kommen wir an? Wer hat Recht? Die Christen, Juden, oder der Islam? Ist es am Ende so, wie die Ägypter es sich vorgestellt haben?
Kommt am Ende gar etwas ganz anderes, das wir uns nicht vorstellen können? Weder in unseren schlimmsten Albträumen oder in unseren schönsten Träumen, aus denen wir nie wieder aufwachen wollen?
Ist etwas Wahres dran am täglich grüßenden Murmeltier und ich werde diesen Weg immer und immer wieder wiederholen, ohne es zu merken? Mache ich dann jedes Mal dieselben Fehler? Oder lerne ich mit jedem Mal ein bisschen mehr, bis nichts mehr schiefläuft und dann ... Ja, was dann? Kommt dann das Paradies? Oder setzen wir dieses eine Leben für immer fort, erwachen in einem Paralleluniversum wieder?
Ist das alles lediglich ein Trostspender für die Hinterbliebenen, damit sie mit ihrer Trauer besser zurechtkommen und so nicht zulassen, dass eben diese Trauer sie von ihrem Weg abbringt? Genauso aber ein Trostspender für alle. Irgendwann ist der Weg eines jeden Menschen zu Ende, aber warum sollte man sich darüber hinaus nichts vorstellen? Wer sagt, dass es wirklich zu Ende ist?
Ist so oder so am Ende ... Nichts ...?
Jedoch vergehen die Moleküle, aus denen wir bestehen, nicht so einfach. Wer weiß, was ich einmal war. Wer weiß, zu was ich einmal werde. Ist alles also doch unsterblich?
Als ich hier so stehe merke ich, dass ich keine Antworten auf diese Fragen habe.
Ich weiß nur, dass es manchen Menschen Trost spendet, wenn sie auf etwas Größeres hoffen. Und wenn man auf seinem Weg mehr stolpert und hinfällt als zu laufen, wünscht sich wohl jeder, dass das alles zu etwas Nutze ist. Dass es besser wird.
Hier, auf der Spitze, ist alles friedlich. Ich fühle mich vollkommen. Ich bin froh, so weit gekommen zu sein und denke an die, die ihren Weg nicht zu Ende laufen konnten. Gerade ihnen macht so eine Vorstellung wohl die größte Hoffnung.
Vielleicht trifft jeder am Ende auch das an, was er sich die ganze Zeit über vorgestellt hat.
Ich weiß es nicht.
Eins weiß ich aber.
Am Ende ist alles nur geliehen. Für eine sehr begrenzte Zeit. Bei dem, was jetzt gerade ist, habe ich Gewissheit. Bei allem anderen nicht.
Das ist das, was es so wertvoll macht.
Das sollte man schätzen und nicht auf das hoffen, was danach kommt. Oder?
Vielleicht ist der Weg tatsächlich das Ziel.
Ich mache den letzten Schritt.
Ein Fuß tritt ins Leere ...
***
... was nach diesem letzten Schritt passiert weiß niemand. Aber jeder kann sich etwas vorstellen...
Vielen Dank, dass ihr diesen Weg ein Stück mit mir gelaufen seid. Ich hoffe, es hat euch gefallen.
Auf Wiederlesen
Drachenmelodie
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