Die Sache mit dem Vogel
Wir treten aus dem Wald und die Sonne blendet mich für einen Augenblick. Ich kneife die Augen zusammen und dann denke ich, dass ich es nun geschafft habe. Nun gehöre ich zu denen, die schon einen weiten Weg hinter sich haben! Ich laufe nun schon eine ganze Weile!
Neben mir sind die Bäume kleineren Sträuchern und Büschen gewichen. Manche haben Dornen und es ist besser, ihnen nicht zu nahe zu kommen.
Der Weg wird steiniger, gleichzeitig wirbele ich mit meinen Schritten mehr Staub auf und hinterlasse leichte Fußabdrücke, wenn auch noch ohne eine individuelle Form.
Einige der Menschen, die mit mir schon eine ganze Weile laufen, sind weggegangen. Andere sind etwas weiter von mir weggerückt, andere dafür näher herangekommen. Die Gemeinschaft ist dynamisch und doch ähnlich.
Es dauert nicht lange, bis ich das erste Mal bewusst merke, dass ich die Sicherheit des Waldes hier weit hinter mir gelassen habe. Und ich erkenne, dass ich doch noch keinen so weiten Weg hinter mich gebracht habe, wie ich denke.
Es ist ein schöner Tag.
Ein großer Vogel kreist über uns. Ein Adler. Eine Zeit lang beobachte ich ihn, wie er sein einzigartiges Muster am Himmel fliegt, als würde er einer vorbestimmten Choreographie folgen.
Der vermeintliche Frieden nimmt ein Ende, als er anfängt zu Kreischen. Der Ton schmerzt in den Ohren. Alle verstummen. Niemand singt mehr. Alle schauen sie nach oben. So wie ich auch. Ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden. Auch nicht, als er den Durchmesser des Kreises, den er fliegt, verringert. Fast so, als hätte er seine Beute erspäht. Ein plötzliches Gefühl des Unbehangens macht sich in mir breit.
Ich habe ihn auch schon im Wald gesehen, aber da wirkte er nicht so bedrohlich. Vielleicht auch wegen den Geschichten, die die anderen mir erzählten.
Plötzlich legt er seine Flügel an und stürzt auf eine Frau hinab. Ihre Augen weiten sich, sie reißt die Arme nach oben.
Aber es ist aussichtslos. Kurz bevor der Adler sie erreicht, streckt er seine scharfen Krallen aus und will sie packen.
Ich traue meinen Augen nicht, als der Adler sich vor meinen Augen in eine Krähe verwandelt. Kurz bevor er sie erreicht, verschwinden beide.
Der Friede ist dahin.
Aber die Gemeinschaft aus Menschen, mit der ich unterwegs bin, läuft weiter.
Erschüttert erkenne ich, dass dieser Weg hier endlich ist. Und wir nur bedingt darüber bestimmen, wann das sein wird.
Deswegen sage ich mir, dass ich das beste aus diesem Weg hinausholen würde. Für mich und nicht für die anderen.
Eine Weile verläuft alles ereignislos.
Und dann kommt der nächste Tag, vor dem ich Angst hatte. Eine Kreuzung. Die Gemeinschaft teilt sich und einige meiner liebsten Menschen gehen einen anderen Weg als ich.
Aber es gibt auch gute Dinge, die zwischen diesen Sträuchern passieren.
Da ist ein Gefühl, das ich so noch nie gespürt habe. Es ist mit einem Menschen verknüpft, der auch schon eine ganze Weile läuft. Ein Band der Zuneigung, das uns verbindet. Ich möchte nicht, dass es endet, doch bald darauf zerreißt es doch. Und der Mensch verschwindet von meinem Weg.
Er wird nicht von der Adlerkrähe geholt, er verpufft einfach. Doch die Spuren, die er hinterlassen hat, werden auf diesem Weg bleiben. Für immer. Aber diese Erinnerung möchte ich nicht missen.
Was zum Glück nicht für immer bleiben wird, sind die dunklen Wolken, die sich im Zuge dessen vor die Sonne schieben. Sie bleiben eine Weile da, hüllen alles in Schatten. Doch nach einigen Schritten lösen sie sich langsam auf und irgendwann blitzt die Sonne wieder hindurch, bis sich die Wolken ganz verziehen.
Die Wolken ziehen immer wieder auf, aber sie verschwinden immer wieder. Das ist beruhigend. Denn auch als jemand, der schon seit Beginn an mit mir läuft, von der Adlerkrähe geholt wird, verdunkelt sich die Welt. Aber es geht vorbei, wenn es auch dauert.
Als der Weg noch steiler wird, fangen einzelne wieder an zu singen. Zum Teil sind es hohe Stimmen, zum Teil tief und brummig. Doch sie ergänzen sich perfekt.
So singen wir tagein, tagaus, bis uns eines Tages eine steile Felswand den Weg versperrt. Wir bilden eine Räuberleiter und helfen uns gegenseitig über das Hindernis hinweg. Das stärkt unsere Verbindung. Sie wird nicht reißen, das weiß ich.
Einige schaffen es nicht. Sie werden entweder von den Adlerkrähen geholt, oder sie finden einen anderen Weg für sich. An einer anderen Stelle.
Weiter geht es. Die Fußspuren, die ich nun auf dem Weg hinter mir lasse, kann man klar als meine erkennen.
Alles in allem bin ich glücklich.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top