Prolog
Die Dunkelheit herrschte an diesem Ort, groß und mächtig, unbesiegbar. Sie befand sich in jedem Winkel, erstreckte sich bis ganz tief hinunter und bis ganz weit hinauf, bis zum Ende ihres Reiches. Jeden noch so kleinen Spalt hüllte sie aus, bedeckte alles wie ein großes Tuch. Und niemand, der sich im Reich der Dunkelheit befand, störte sich an ihr, denn nur die Wenigen waren dort heimisch, und keiner dieser Wenigen wollte gesehen werden.
Manche von Oben behaupteten, die Wenigen versteckten sich Unten, weil sie von solcher Hässlichkeit seien, dass man bei ihrem Anblick vor Ekel sterben würde. Oder, dass sie nicht in der Lage wären, sich gegenseitig zu betrachten, geschweige denn sich selbst. Weiterhin glaubten einige der Vielen, dass sie blind seien und sie die Dunkelheit um sich herum deshalb nicht bemerken würden. Oder aber, dass ihre Augen kein Licht vertrugen und sie vor Schmerz vergehen würden, kämen sie aus der Dunkelheit heraus.
Doch so ganz genau konnte das niemand sagen, denn der letzte Kontakt zu den Wenigen war schon Jahrhunderte her - oder waren es gar schon Jahrtausende? Keiner wusste es, denn die Zeit spielte keine Rolle, hatten sie doch unendlich viel von ihr zur Verfügung.
Eines jedoch wusste man noch über die Wenigen; begegnen sollte man ihnen nicht. Nicht in der Dunkelheit. Die alten Legenden erzählten davon, in bunten Bildern, gelegt aus Steinen, über die das Sonnenlicht tanzte.
Abgebildet waren dort dunkle Wesen, die sich in langen Schatten nach oben schlängelten und verwackelte Formen, die, wenn sie einen der Vielen erreichten, ihn packten und nach Unten zogen. Jene der Vielen, die in der Dunkelheit verschwanden, wurden niemals wieder gesehen.
Lange Zeit hatten die Vielen in Angst vor den Wenigen gelebt. Doch eben lange war es her, zu lange, dass man einen von ihnen gesehen hatte. Ihre Angst verblasste und nur ein kleines, ziehend aufkommendes Gefühl der Panik, wenn sich einer von ihnen zu nah an eine der dunklen Spalten heranwagte, ließ die Vielen manchmal spüren, dass es dort noch etwas gab.
Vergessen. Fast alles hatte man über das Unten vergessen.
Doch Wenige waren noch da.
Das Rauschen war schon aus weiter Ferne zu vernehmen. Doch noch war es zu weit entfernt, um es klar zuordnen zu können, viel zu weit, um sie in Sicherheit zu wiegen. Schritt für Schritt kam sie ihrem Ziel näher. Ihre Füße, die kaum den Boden berührten, hinterließen keine Spuren. Nur das Blut, das über Schläfe und Hals hinunterfloss und unaufhaltsam zu Boden tropfte, ließ ihre Verfolger die Fährte behalten. Rote Spuren auf unschuldigem Weiß.
Keine Schwäche machte sich in ihr breit, nur der Gedanke, auf diesen fremden, unnatürlichen Beinen immer weiterlaufen zu müssen, beherrschte sie. Mittlerweile waren ihre Schritte sicherer und sie bewegte sich in einem eilig rhythmischen Gang, doch jede Sekunde konnte sie den Halt verlieren - sie traute ihnen nicht. Es war ungewohnt und gefiel ihr nicht, denn wie sollte man sich in diesem Körper verteidigen können? Dünne Beine, die nicht dafür geschaffen schienen schnell zu rennen, dazu kleine Hände, mit denen man nichts greifen konnte und dieser klobige Kopf, in dem es sich so langsam dachte - als wäre er von großen, steinernen Wänden eingeschlossen, die alle Reize von außen verzogen und ihre eigenen Reaktionen verlangsamten.
Der Wald lag augenscheinlich verlassen da und angestrengt lauschte sie, hielt jedoch nicht inne, um sich zu überzeugen, dass niemand im Dickicht lauerte. Ihren Augen konnte sie nicht mehr trauen, war doch die ganze Welt erblasst; vielleicht konnte sie Licht wahrnehmen, doch dafür schienen fast all ihre anderen Sinne verschwunden. Aber hören, das konnte sie noch gut genug und die hinter ihr, die konnte sie so wahrnehmen. Während sie selbst keinen verräterischen Laut verursachte, trampelten die anderen regelrecht hinter ihr her und schienen sich keine Mühe zu erdenken, sich auch nur im Entferntesten gedeckt zu halten. Aber wozu auch? Sie wussten doch alle, wohin sie fliehen würde, wohin diese Beine sie tragen sollten.
Kein Schmerz plagte sie, keine Müdigkeit holte sie ein und keine Kälte kroch in sie. Diese Empfindungen waren ihr in diesem Körper gänzlich unbekannt und so lief sie ohne übertriebene Hast, doch auch ohne Pause weiter. Die Hände über den prallen, runden Bauch gelegt versuchte sie wieder zu fühlen, wie es sich in ihr regte. Nicht nur sie litt. Nein, auch es wollte weiter, ihr Ziel erreichen und diesem Wesen entschwinden, wieder zurück in ihre Heimat.
Der Mond war seit dem Beginn ihrer ersten, heftig schwankenden Schritte und ungeschickten Stürze stetig gestiegen und hatte nun seinen Höhepunkt erreicht. Genauso hell, groß und rund wie ihr Bauch, der sich in diesem Leib kräftig wölbte, stand er am Himmelszelt und schien durch die vereisten Äste hindurch. Der Himmel war klar und die Sternbilder deutlich zu erkennen und sie war dankbar über das wertvolle Licht, das von ihnen hinunter strahlte.
Vermutlich hätte sie den Weg auch in völliger Finsternis - Finsternis, wie sie sich danach sehnte - gefunden, wurde sie von dieser gewaltigen Macht doch regelrecht angezogen, doch diese Nacht hielt unerwartete Hindernisse bereit. Die Bäume standen dicht an dicht und schon des Öfteren war es geschehen, dass sich etwas von ihrem langen dunklen Haar in ihrem Geäst verfangen hatte. Was für einen Ballast sie in dieser Nacht nur mit sich tragen musste!
Der Boden war steinig und nicht nur mit frischem Schnee, sondern immer wieder auch mit kleinen Fußspuren ihr unbekannter Tiere, die ihren Weg kreuzten, bedeckt. Ihre Aufmerksamkeit lenkte sich jedoch nur kurz auf sie, war alles was sie von ihnen zu sehen bekam, doch nur schnell vorbeihuschende Schatten. Keine Gefahr schien von ihnen auszugehen.
In nicht allzu weiter Ferne knackten Äste, brachen wohl unter dem Gewicht der Fremden und ein dadurch geweckter Vogel stieß einen panischen Warnruf aus. Schneller, sie musste schneller werden! Sie erhöhte ihr Tempo noch ein wenig, bis sich die Bäume lichteten und nur noch hier und da die spärlichen Gerüste kleiner Büsche aus dem kargen Boden ragten. Sie bestanden nur noch aus ausgemergelten Überresten und tatsächlich waren sie verhungert, elendiglich erfroren und wirkten in dem fahlen Licht wie Knochen. An einem von ihnen, er war mit großen Dornen besetzt, ritzte sie sich die Wade auf, doch sie zuckte nicht zusammen und blieb auch nicht stehen.
Ein kräftiger Wind kam auf und streifte über ihre nackte Haut, brachte den Geruch von Salz. Das Rauschen war nun ganz deutlich zu vernehmen und freudige Erwartung kam in ihr auf; gleich war es geschafft!
In voller Pracht erstreckte es sich vor ihr, endlos weit und mit großer Dunkelheit. Die Wellen türmten hoch in dieser Nacht und krachten donnernd gegen die wenigen Felsen, immer und immer wieder, unerbittlich, unaufhaltsam. Schon bald wurden ihr Füße von dem ersten kühlen Nass begrüßt, schäumend schwabbte es über sie und die Gischt bedeckte ihre Haut. Angestrengt musste sie dem Verlangen standhalten, sich augenblicklich in die Fluten zu stürzen und diesen Körper seinem Schicksal zu überlassen.
Nein, solange hatte sie ausgeharrt, auf diese paar Mondstrahlen kam es nun auch nicht mehr an. Dann hörte sie sie auch schon, lange, bevor sie sie sehen konnte. Unförmige Gestalten, die am Waldrand auftauchten, laut und grölend. Mit eifriger Wut und großem Mut schwangen sie ihre Waffen - Äxte, Hacken und Besen - und hielten ihre Fackeln empor. Doch nun konnten sie ihr nichts mehr anhaben, rein gar nichts. Was für ein befreiendes Gefühl!
Mit nun langsamen und gewählten Bewegungen kam der Pulk auf sie zu und gemächlich lief sie dafür rückwärts, so töricht, sie aus den Augen zu lassen, war sie dann doch nicht. Schließlich hüllte das Meerwasser sie bis zur Hüfte ein und kleine Wellen liebkosten ihren Bauch. Der Grund zu ihren Füßen fühlte sich schlammig an und eine kleine Muschel grub sich in das weiche Fleisch. Sie wollte den Schlamm durchwühlen und mit ihren Zähnen nach den kleinen Fischen, die um ihre Beine schwammen, schnappen. Sie wollte... sie musste.
Ein Mann hatte sich fast schon knietief ins Wasser gewagt - doch zu spät. Sie würden sie nicht kriegen. Weiter und weiter ging sie zurück, schenkte dem Volk einen letzten Blick, dann brach eine Welle über ihr und sie versank in den Fluten. Verfolgen würden die Menschen sie nicht, ihre Lungen waren zu schwach und sie wussten, das jemand, der bereits untergetaucht war, nicht mehr zu retten war.
Der Körper, in dem sie sich befand, war nicht länger von Nöten und es kostete sie kaum Anstrengung, ihn abzustreifen. Sie ließ ihn einfach fallen, wie die Menschenkinder ein überdrüssiges Kleidungsstück von ihrem Körper ließen. Dann nahm sie ihre ursprüngliche, natürliche Gestalt an, streckte und reckte sich, füllte die Kiemen mit Meerwasser und entschwand in die Tiefe.
Ihr langer Körper schlängelte sich schnell über die Felsen und trotz der erstaunlich trüben Augen blieb ihr kein Fleck verdeckt. Alles Meeresgetier wich ihr aus und so schwamm sie und schwamm, bis sich weit oben die Sonne ihren Platz am Horizont erkämpfte. Davon sah man hier unten nicht viel, nur gedämpftes Licht, doch genug, um sie noch weiter in die Tiefe zu treiben.
Getarnt in einem Wald aus langen und kräftigen Algen setzte sie ihre Reise fort. Elegant tanzten die unzähligen Stiele in der Strömung um sie herum und kleine Krebse, sowie Fischchen suchten schnell das Weite, wenn ihr gigantischer Schatten auf sie viel.
Ein Riff lag in nicht weiter Ferne und sobald sie es erblickte, schlug sie fast ruckartig eine andere Richtung ein, immer weiter durch das schützende Algengeflecht. Von den zahlreichen Bewohnern des Riffs hatte sie keine Bedrohung zu fürchten; viel mehr würde sie die Gefürchtete sein, dennoch war es ihr lieber, so unentdeckt wie möglich zu bleiben, sodass sie es weiträumig umschwamm.
Der Ort, den sie erreichen wollte, war noch sehr fern, und das ließ sie unruhig werden. Nicht nur der Hunger rumorte und drückte in ihrem Bauch, nein, auch das Kind.
Doch dann, mitten in der Bewegung, verharrte sie, streckte die Fühler, die ihr von Kopf und Kragen wuchsen aus und lauschte mit ihnen. Da empfing sie sie wieder - diese Schwingungen, viel zu stark für den üblichen Fisch, der sich in diesen Gewässern tummelte. Nein, hierbei handelte es sich um etwas anderes, etwas größeres und mächtigeres.
Nun mit aller Vorsicht arbeitete sie sich weiter und blickte schließlich über einen Felsen hervor, der den Rest ihres länglichen Körpers bedeckte. Schnell verstand sie, dass ihre und die Wahrnehmung der Fremden auf fast der gleichen Frequenz lief. Doppelte Vorsicht war also angebracht, wollte sie sich nicht enttarnen.
Hier unten, in den Meeren, sprachen sie nicht auf die gleiche Art und Weise wie die Menschen am Lande. Wollte man sich über etwas verständigen, das sich nicht durch Körpersprache oder Gebrüll verständlich machen ließ, so musste man seine Botschaften in kleinen Energiewellen herausschicken, die ein Wesen ähnlicher Intelligenz empfangen und entschlüsseln konnte.
Genau diese, mit Energie und Wissen geladenen Wellen, empfing sie jetzt und erblickte nun auch deren Besitzer.
Eine Nereide kauerte dort, ein Wesen ähnlich einer Nixe, dem Menschen jedoch viel näher. Denn sie besaßen keine Flossen, sondern Beine, sowie Füße und tatsächlich schien ihr Körper ganz und gar menschlich zu sein, abgesehen von ihrer Haut, die blass blau, fast schon grünlich schimmerte und den leichten Kiemen an ihrem Halse, die man doch viel zu schnell übersah. Blondes Haar umrahmte sie in langen Strähnen und ihr Gesicht wäre wohl engelsgleich gewesen, hätte sie die Zähne nicht gefletscht und die Augen weit aufgerissen.
„So beruhige dich doch, meine Liebste", meinte der Meeresmensch, der sich ihr gegenüber befand und beschwichtigend die Hände hob. Die Meeresschlange war nicht minder überrascht, als sie Poseidon, den Gott der oberen Gewässer erkannte. Ein Meermann, kräftig gebaut, mit starkem Schwanz und glänzenden Schuppen, das Haar schon am Ergrauen. Mit fester Hand hielt er den Dreizack, mit dem er sich die Macht über alles Leben in seinen Gewässern zu sichern wusste.
„Liebste? So wagst du es mich zu nennen, mich zu beleidigen? Was bin ich denn? Wie viele deiner Liebhaberinnen schwimmen in diesen Gewässern noch umher? Hunderte, tausende - bilden sie gar einen ganzen Schwarm?" Der Ton der Nereide klang nicht nur verletzt, sondern auch gehörig laut und die Meeresschlange zuckte etwas zurück und es war ihr Glück, dass die Beiden zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um auf den Unterschied winziger Wasserströmungen zu achten.
„Ich bitte dich, mach doch nicht so ein Theater! Als ob du nicht gewusst hättest, dass es vor dir schon andere gegeben hatte, denen ich meine Liebe schenkte..."
„Ach was du nicht sagst, das ist ja wohl kaum zu übersehen! Und was vergangen ist, das kümmert mich nicht", ein tiefes Grollen, gleich einem Knurren entkam ihrem Munde. „Aber dieses Weib, mit dem du es getrieben hast, das ist noch nicht vergangen."
„Ein Fehler, meine Liebste", erklärte er, doch der Blick der Nereide verfinsterte sich weiter, „ein Fehler, wie ich gestehe."
Wirklich getroffen wirkte der Meeresgott nicht, scheinbar war er nur bemüht, sie mit schönen Worten wieder um den Finger zu wickeln. Die Meeresschlange wäre gerne weiter und hätte die beiden ihrer Tragödie überlassen, doch sie wagte es noch nicht sich zu rühren. Zwar hätte sie im falle einer ernsten Auseinandersetzung gute Chancen, doch vermeidbarer Stress war gespartes Lebensglück.
„Du hast gesagt, du liebst mich!", kreischte die Nereide nun nahezu. „Ein Kind erwarte ich von dir!"
Sie deutete auf ihren Bauch, der sich wölbte wie der der Meeresschlange, als sie noch im menschlichen Körper gefangen gewesen war.
„Ich habe schon viele Kinder." Poseidon wirkte ungerührt und auch angesichts der aufgebrachten Liebhaberin nicht sonderlich beeindruckt.
„Du untreuer Bastard! Das wirst du noch bereuen", die Nereide rang sichtbar um ihre Fassung und hatte die kleinen Hände zu Fäusten geballt. „Warum ich? War ich dir nicht gut genug? Ach, am liebsten würde ich sie ermorden, diese armseligen, bösartigen Kreaturen, die dich mir weggenommen haben!"
Der Meeresgott versuchte sie nun wieder zu beschwichtigen, doch er traf auf kein Gehör. Das Jammern des Weibes wurde zu einem Klagelied, das anhielt und lauter und lauter wurde.
„Du elende Qualle! Nicht mehr wert als ein Körnchen Sand bist du..."
Dann baute sie sich in ihrer vollen Größe vor ihm auf und es schien, als würde ihre Schönheit im Angesichts des Verrates einfach vergehen, als fräße die Eifersucht sie innerhalb von Sekunden auf. Ihr Haar stand nun zerzaust und wild vom Kopfe ab und im Gesicht, das zu einer grauenhaften Grimasse verzogen war, entblößte sie zwei Reihen grüner Zähne.
Mit neu gewonnenem Interesse betrachtete die Meeresschlange die Nereide, oder besser gesagt das, was von ihrer einstmaligen Gestalt übrig geblieben war. Der kleine Körper war angespannt, Muskeln zuckten vor Wut, die Wangen waren mit Schamesröte bedeckt und mit der verzerrten Fratze, sowie dem entstellten Körper, wirkte sie wie ein Ungeheuer aus einem der Schauermärchen, die sich die Menschen so gerne erzählten.
„Verflucht seist du!" , schrie das Weib, kreischte auf und deutete anklagend auf den Meeresgott, der im Gegenzug den Dreizack erhob. Angesichts der Verwandlung wirkte er noch immer nicht beunruhigt, im Gegenteil, ganz und gar gefasst, aber doch ein wenig wachsam.
Dem konnte sich die Meeresschlange auch nur anschließen, war sie selbst doch zuvor niemals Zeugin dieser Zeremonie geworden, obwohl sie schon lange Zeit durch die Gewässer wanderte. Gewiss, gehört hatte sie davon, doch passierte es sehr selten, sodass dieser Tag wohl ein wahrer Glücksfall war. Eine echte Seehexe! Diese monströsen, niemals zur Ruhe kommenden Gestalten entstanden nur, wenn eine Nereide ihrer selbst verlor. Und ihre eitlen Gemüter waren leicht zu verletzen, doch diesen hässlichen und grausamen Teil, der in ihnen lauerte, zeigten sie nur in der Folge plötzlicher Angst, wahren Hasses oder, wie es in diesem Falle wohl schien, glühender Eifersucht.
Wie lange dieser Zustand anhielt - man erzählte sich davon, dass sie zu dieser Zeit nicht in der Lage seien, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen - , hing davon ab, wann es der Nereide gelang, ihre eigenen Gefühle wieder zu beruhigen oder die Ursache ihrer Aufgewühltheit zu vernichten.
Und man hatte schon von manch armen und seelenverlassenen Gestalten gehört, die niemals zurückkamen und deren wahre Gestalt für alle Zeiten im Gewand der Seehexe zurückblieb. Diese jagten auf ewig, von Hass und Trauer zerfressen, durch die Meere und vernichteten alles, was ihnen in die Quere kam.
„Ich warne dich, Sellana!" Poseidon unterstützte seine so schon machtvoll wirkenden Worte mit einem Schub Wasser, den er in die Richtung der Nereide drückte. Blondes Haar bauschte, sie tat einige Schritte rückwärts, Sand wirbelte auf. „Bring dich wieder unter Kontrolle, sonst muss ich handeln."
Sellana stieß jedoch ein Geräusch gleich einem Fauchen aus, und stürzte sich wieder vor, die blauen Augen gefährlich funkelnd. Kurz zog die Meeresschlange den Kopf ein, lugte aus Interesse jedoch nur Sekunden später wieder über den Stein. Poseidon schwang seinen Dreizack und Wasser wirbelte um ihn herum. Ja, jetzt sah er wirklich aus wie der Gott, für den er sich hielt - machtvoll und stark.
„Dummes Weib!", rief er aus und mit einer heftigen Armbewegung schleuderte er sie wieder zurück. Der Wasserstrahl streifte die Schlange und sie unterstand nur mühevoll der Versuchung zu verschwinden. Ein letztes Mal kreischte die Nereide grauenvoll auf, kam fast sehnsüchtig wieder auf ihren Liebsten zu, wurde jedoch noch weiter hinweg geschleudert. Diesmal schien sie sich geschlagen gegeben, schenkte dem Meeresgott einen letzten, hasserfüllten Blick und verschwand. Doch ihre Flüche und Verwünschungen waren noch lange Zeit zu vernehmen und hallten nach, bis die Verbindung schließlich abbrach.
Behutsam schüttelte die Meeresschlange den mächtigen Kopf, um die ziehenden Kopfschmerzen, die die grelle Stimme verursacht hatte, zu vertreiben. Poseidon blickte der Seehexe noch eine Weile nach, bis er sich wohl sicher war, dass sie die Gegend auch wirklich verlassen hatte und schien sich kurz zu sammeln. Dann straffte er die Schultern, richtete den Dreizack in seiner Hand und verschwand in die entgegengesetzte Richtung. Seine Bewegungen waren gezielt und ohne Hast, doch die Schlange wartete geduldig, bis auch er aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Anschließend nahm sie ihren Weg wieder auf und noch schneller als zuvor huschte sie am Grund entlang. Sobald sich die Gelegenheit ergab, tauchte sie tiefer hinab. Sonnenlicht gab es letztendlich kaum noch und die Bewohner veränderten langsam ihr Gesicht. Sie wurden größer und mächtiger und eine Zeit lang schwamm sie neben einem Wal, mit dessen Länge sie mithalten konnte - nur in der Breite unterschieden sie sich. Schließlich kehrte der Gigant um, seine Lunge riet es ihm und der Wasserdruck wurde ihm zu groß. Unbeteiligt schwamm die Meeresschlange weiter.
Die letzte Art von Licht verschwand nach der Grenze, in einer Schlucht, die sich mitten im unbepflanzten Boden öffnete. Hier befand sich kein anderes Lebewesen mehr und einsam schlängelte sie die steile Felswand hinab. Eine halbe Ewigkeit, bis die Wände endeten und sie in neue Weiten entließen. Dieser Ort war ähnlich einer Höhle, einer riesigen, die fast unendlich tief reichte und sich unter dem gesamten Grund des Meeres erstreckte. Ausgänge gab es viele, nur selten benutzt und als Eingänge noch viel weniger, scheuten sich doch alle Bewohner der oberen Gewässer davor, zu nah an die Übergänge zu treten.
Völlige Finsternis hüllte sie ein und die vertrauten Gerüche ließen sie sich merklich entspannen. Hier unten, mit Dunkelheit und schwerem Wasserdruck, war ihr Lebensraum und ihr Heimweh fand nun endlich Ruh. Sonnenlicht gab es hier unten, im Reich der Wenigen, niemals.
Ihr Kind war geboren und mit der Zeit war die Meeresschlange erst nachdenklich, dann traurig und schließlich wütend geworden. Ob wütend auf das Kind, sich selbst oder den nichtsnutzigen Vater, vermochte sie nicht klar zu sagen. Wohl auf alle.
Von dem Vater, der schon lange Zeit verschwunden war und in fernen Gebieten jagte, hatte sie sowieso keine Hilfe erwartet, war er es doch, der sie vor einiger Zeit vertrieben hatte.
In ihr selbst kamen hin und wieder die Vorwürfe hoch, war es nicht ganz und gar ihre Schuld? Doch nein, sie war niemand, der sich Fehler eingestand. So waren es doch viel mehr die Menschen, diese schwachen Geschöpfe, die die Schuld auf ihren schmalen Schultern zu tragen hatten! In einen von ihren Körpern war sie schließlich eine nicht unbedeutende Zeit gefangen gewesen - hatte sie ihr Kind getragen - und die absehbaren Folgen waren nicht in den dümmlichen Kopf, den sie trug vorgedrungen.
Klein war ihr Kind. Lange hatte sie sich eingeredet, dass es schon noch wachsen würde; denn geboren wurden sie schließlich alle winzig und wuchsen erst nach unzähligen Gezeitenwechseln zu wahrer Größe heran. Doch auch jetzt, Jahre später, war es klein geblieben. Vielleicht überragte es die großen Nixen in den nordischen Gewässern um ein Stück. Jämmerlich, wenn man bedachte, dass sie selbst zwanzigmal länger als eine von ihnen war.
Darüber hätte sie vielleicht hinweg sehen können, doch das war nicht alles. Nicht nur in der Länge, nein, auch überall sonst schien das Kind Schaden genommen zu haben. Beine. Es hatte Beine und auch Arme, Gliedmaßen, wie sie den Menschenkindern wuchsen und es war wohl Glück, dass diese wenigstens in länglichen Flossen endeten, mit denen es sich bewegen konnte.
Dazu war der Körper auch sonst einem Menschen ähnlich, nur sehr viel gestreckter und wendiger.
Matte grau-bläuliche Schuppen bedeckten den Großteil des Körpers und glichen die Gefahr durch die vereinzelten Stellen menschlicher Haut aus, die bei weiter Ferne und schlechter Sicht nicht auffallen mochten. Für einige Flossenschläge konnte man das Wesen für eine junge, seltene Seeschlangenart halten, doch kam man näher heran, wurde auch dieser Gedanke wieder hinfort gespült.
Lange Haare wuchsen ihm vom Kopf und gerade dies war eine Sache, die die Seeschlange besonders anekelte - ein Merkmal der Bewohner der oberen Gewässer war das. Bei jeder noch so kleinen Bewegung schwang das dunkle Haar umher, wo eigentlich nur einige Tentakeln wachsen sollten. Auch von diesen besaß ihr Kind einige, wie die Meeresschlange erleichtert festgestellt hatte, waren sie für ihre Art doch unermesslich um zu kommunizieren. Das konnte es, in dieser Hinsicht hatte es sich vollkommen normal entwickelt. Ein schwacher Trost.
Ihre großen Augen durchdrangen die Finsternis, doch da war nichts und niemand außer ihnen. Gut, das war gut. Oder nicht? Manchmal wünschte sie sich, dass da jemand wäre. Egal wer - einfach etwas großes, das nach ihrem Kind schnappen und es mit in die Weiten unter ihnen ziehen würde. Wäre es dann nicht so viel einfacher? Keine Sorgen mehr darüber, ob ihr Kindlein hungrig, zu schwach oder gesund sei. Nicht mehr ängstlich darum bangen, ob es ihm gut ginge, wenn sie auf eiliger Jagd war. Sie könnte einfach schwimmen, ein paar alten Bekannten einen Besuch abstatten, ihre Arbeit wieder aufnehmen und dieses Missgeschick vergessen. Hätte sie ihr Revier erst einmal aufgegeben, würde die Zeit oder irgendeiner der Wenigen schon den Rest erledigen.
Hätte sie ein ausgeprägtes Gewissen besessen, würde es sie für diese Gedanken sicherlich qualvoll ertränken. Doch so verspürte sie nur die wachsende Abscheu, mit der ihre Muttergefühle mehr und mehr verschwammen und vergingen.
Sie stupste ihr Kind an - selbst das ging nur unter Vorsicht, wollte sie es nicht verletzen - bevor sie auf ihre Art sprach: „Mein Kind, ich gehe nun. Ich habe Hunger und die Jagd kann dauern, also warte geduldig und verhalte dich ruhig."
Mit einem Schwall von Zuneigung und Liebe wurde sie verabschiedet und nicht ganz ohne ein kleines Gefühl des Verlustes strich sie das letzte Mal über den schwächlichen Körper. Jedoch verdrängte sie es genauso schnell, wie es aufgekommen war. Selbst diese abartige Liebe und Loyalität, die ihr Kind ihr entgegen brachte, war etwas durch und durch menschliches.
Sie hatte besseres zu tun, als den Rest ihres Daseins Kinderbetreuer zu spielen und es wirkte alles danach, als würde das Kind niemals größer und stärker werden - und damit auch niemals alleine in ihrem Reich überleben können.
Ohne weitere Worte und Gefühle für das Wesen, das sie geboren hatte, wendete sie sich für immer von ihm ab und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Ihr Weg führte sie so tief hinab, wie schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Im oberen Teil des Reich der Wenigen war es eiskalt, doch nun erreichte sie jenen Abschnitt, in dem es wieder warm wurde. Wärmer und schließlich fast zu heiß. Hier endete das Reich der Wenigen in zerklüfteten Felsen, in denen Hitze brodelte. Unzählige Höhlen und Gänge öffneten sich vor ihr und sie war nicht länger allein. Hier war das Ende, an dem einst alles begonnen hatte.
Oben, irgendwo in weiter Ferne, hatte die Jagd begonnen.
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