Sie befand sich nun schon eine Weile Unten, konnte jedoch nicht einschätzen, wie viel Zeit in diesem Reich genau vergangen war. Es gab keine Anhaltspunkte oder Abläufe, an denen sie sich hätte orientieren können.
Irgendwann hatte sie jedoch genug davon, einfach nur vor sich hinzu vegetieren. Sie wusste nicht warum, aber abrupt hatte sie gespürt, dass es an der Zeit war zu erwachen. Fast war sie schon in jenen tanceartigen Zustand abgerutscht, in dem die Wenigen verweilten, wenn sie sich zurückzogen und oft mehrere Jahre am Stück schliefen. Es kostete sie einiges an Mühe, ihr Bewusstsein wieder ganz zurückzuerlangen und zu behalten.
Aber sie musste es, fast war es so, als ob sie etwas dazu zwingen würde, ganz ohne ihre eigenen Interessen zu berücksichtigen. Kurz wollte sie dagegen rebellieren, doch dann kümmerte es sie nicht weiter. Sie wollte ja aufwachen. Hatte sie es nicht gar geplant gehabt, genau jetzt? Doch währenddessen kam sogleich eine weitere Welle der Mattheit über sie und angestrengt kämpfte sie sich zurück an die Oberfläche.
Es fühlte sich an, als würde sie aus einem tiefem Schlaf erwachen, wobei sie sich nicht sicher sein konnte, ob sie tatsächlich im Jetzt angekommen oder nur in einem neuen Traum gelandet war. Alles war so dicht miteinander verwoben, dass es kaum einen Unterschied machte, wo sie sich befand. Ob Augen auf oder zu, das war nur Schwärze. Und fühlen konnte sie auch nichts mehr, denn da war nichts, das sie hätte berühren können.
Langsam dämmerte sie wieder hinfort, dann, in letzter Sekunde, viel ihr wieder ein, dass sie nicht länger hier verweilen wollte. Zu schnell hatte sie dieses Vorhaben schon wieder vergessen gehabt. Sie musste sich bewegen, rief sie sich in Erinnerung. Einfach nur bewegen und weiterziehen, dann würde sie schon richtig wach werden.
Erst waren es nur die Finger, in denen ihre Muskeln arbeiteten, dann formte sich die Hände zu Fäusten. Bald rührten sich schon die Arme und dann die Beine. Sie drehte den Kopf in die eine und dann in die andere Richtung und schließlich machte sie probehalber ein paar Schwimmzüge.
Blut schoss ihr in den Kopf und ihr Herz schlug zu heftig, überrascht von der unerwarteten Anstrengung und Schwindel überkam sie. Sie musste für ein kurze Pause innehalten.
Nachdem sich ihr Kreislauf erholt hatte, ging es ihr nicht viel besser. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen? Sie wusste es nicht mehr. Eben, noch halb im Schlaf, war es leicht zu ignorieren gewesen, doch nun war es ihr wieder voll präsent.
Ihr Magen zog sich zusammen und verkrampfte, sie konnte Galle im Mund schmecken und ihr gesamter Körper schien nur noch aus Hunger zu bestehen. Es gab nichts anderes mehr. Nichts anderes mehr als Hunger in ihrem Kopf. Die Sorge entdeckt werden zu können rückte in weite Ferne. Ihre gespitzten Sinne waren einzig und allein darauf fixiert, Nahrung zu finden und weitere Gedanken waren nicht mehr möglich. Stechender, verlangender Schmerz schien in ihrem Bauch zu leben.
Sie eilte durch das schwere Wasser, nahm schon bald eine Witterung auf und folgte ihr, bis sie auf ihre Beute traf. Vielleicht hatte sie sie kommen sehen, vielleicht auch nicht. Mit vollem Schwung kollidierte sie gegen den fremden Körper und riss ihn ein Stück mit. Dann begann das Wesen sich zu drehen und versuchte sie abzuschütteln, doch ohne Erfolg. Sie hatte sich mit Fingern und Zehen und all ihrer Kraft fest in das Fleisch gegraben, nicht bereit, wieder loszulassen. Ihre Beute war flach wie ein Rochen, jedoch breiter, dafür aber noch lange nicht ausgewachsen.
Durch ihren Hunger schien sie eine neue Stärke zu entwickeln und verbunden mit ihrer Jagdlust war es fast zu leicht letztendlich zu siegen. Das Siegesgefühl schien als pures Glück durch ihre Adern zu fließen, kaum, dass sie den ersten Bissen genommen hatte. Sie war wieder zurück. Es war wie ein Rausch, als sie ihre erst halb beendete Mahlzeit zurückließ und eine neue Spur aufnahm, der sie bereitwillig folgte.
Leicht waren ihre Opfer nicht aufzufinden, doch es gelang ihr. Noch einige starben ganz einfach unter ihrer Hand und sie fraß, bis sie das Gefühl hatte, nicht auch nur einen weiteren Bissen die Kehle hinunter zwängen zu können. Es fühlte sich herrlich an; sie war da, wieder vollkommen lebendig. Sie war mächtig.
Und es hatte ihr gut getan, sich mal wieder richtig verausgaben zu können. Obwohl ihre Muskeln brannten und sie einen nicht gerade kleinen Kratzer an ihrer Hüfte zu beklagen hatte, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr. Womöglich würde sie nach diesem Festmahl nie wieder hungrig sein, überlegte sie, nicht ohne den Anflug von Bedauern zu spüren, sollte dies tatsächlich das Ende ihrer Jagdausflüge bedeuten. Schnell tat sie den Gedankengang als Unsinn ab und konzentrierte sich auf ihre Umgebung.
Ihr nächster Plan sah vor, erst einmal wieder etwas an Höhe zu gewinnen, vielleicht sogar das Reich zu verlassen. Eine feste Entscheidung hatte sie allerdings noch nicht getroffen. Zwar war sie eine Nomadin, doch die langen Strecken waren nicht ohne Anstrengung zu überwältigen und vermutlich würde sie danach erst wieder Zeit benötigen, um sich zu regenerieren - und vom langen Schlaf hatte sie momentan genug. Doch noch hatte sie Zeit und unbefangen setzte sie ihre endlose Reise fort.
Sie wusste es schon, bevor sie die kleine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm und reaktionsartig Verharrte. Ja, sie hatte spüren können, dass dort jemand war. Jemand, der nicht dort hingehörte - genauso wenig, wie sie dort hingehörte.
Ein dunkler, langgestreckter Schatten glitt unter ihr durchs Wasser und versicherte ihr endgültig die Anwesenheit eines weiteren Wesens. Es schien nicht sehr groß zu sein, nur wenig mehr als sie selbst maß. Wer war das? Der Gedanke schoss durch ihren Kopf und wollte nicht mehr verschwinden. Sie befand sich schon nahe der Grenze, eigentlich fast zu nah für einen Bewohner von Unten.
Unbemerkt folgte sie ihm mit flüssig ineinandergreifenden Bewegungen, durch die sie keine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Der Geruch des Anderen verriet ihr mehr, als es ein Blick im Licht jemals hätte können. Das Wesen trug die Dunkelheit in schwer-süßlicher Note bei sich, war weiblich und fremdartig. Unmöglich zuzuordnen, welcher Art das Wesen zugehörig war. Kurz überlegte sie, ob es nicht auch krank roch, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Obwohl Krankheit eine einfache Erklärung dafür gewesen wäre, was es hier suchte. Wenn es geschwächt wäre, wäre es durchaus vernünftig gewesen, sich in ein Gebiet zu verziehen, durch das kaum jemand kam.
Doch es roch nur fremdartig und die beißend starke Unternote, die sie wahrnahm, stammte nicht von körperlichen Leiden. Viel mehr schien es fest zu dem Wesen zu gehören, womöglich ein persönlicher und offenbarender Hinweis, um wen es sich handelte. Sie konnte mit diesem jedoch nichts anfangen.
Die Tatsache, dass sie das Wesen so deutlich hatte spüren können, ließ sie auf Abstand bleiben. Die Präsenz, die sie wahrnahm, ließ darauf schließen, dass sie einander ebenbürtig waren - wenn es nicht gar mächtiger war. Ohne mehr über es zu wissen, konnte sie es nicht sagen.
Auf Wesen zu treffen, die man nicht kannte, war im Reich der Wenigen nichts ungewöhnliches. In der Dunkelheit lauerten, sicher verborgen, oft Unerkannte, die man schon lange vergessen hatte.
Als sie näher an es herankam, war es jedoch in der Tat ungewöhnlich, dass sie dieses Wesen so klar wahrnehmen konnte. Ihre Frequenzen schienen so gut zueinanderzupassen, dass die Verbindung ohne weiteres Zutun bestand. Vor Überraschung hätte sie fast aufgeschrien, unterdrückte den Laut jedoch gerade noch rechtzeitig.
Sie erlebte es sehr selten, dass eine Verbindung einfach von selbst auftauchte, und wenn, dann in schwacher Form. Unten war es ihr noch nie geschehen, überhaupt niemals so stark. Für gewöhnlich ereignete sich dieser Vorgang nur unter Blutsgefährten und nahen Artgenossen. Ein unwohler Schauer überkam sie, es schien noch einige Grad kälter zu werden.
Würde sie nun sprechen, würde es sie vermutlich ohne Probleme verstehen. Und würde sie heftigen Gefühlen erliegen, würde es es spüren können. Das Wesen musste sie ebenfalls fühlen können, schien aber keine Notiz von ihr zu nehmen.
Sie hielt an, behielt die Augen auf das Wesen gerichtet und trennte die Verbindung. Sie mochte das Gefühl nicht und drückte gedanklich den fremden Geist von sich fort. Es war, als würde jemand Fremdes in ihren Kopf eindringen und Sachen sehen, die nur ihr gehörten. Das Trennen war anstrengender als das Aufbauen und sie musste sich konzentrieren, bis sie es erfolgreich schaffte.
Das Wesen stoppte ebenfalls und ihre Augen verengten sich. Würde sie kämpfen müssen? Und wenn ja, gegen was und wen? Langsam begab sie sich in Angriffsstellung. Sie beschloss nicht von sich aus anzugreifen, wollte jedoch vorbereitet sein. Solange ihr die Umstände nicht klarer waren, hatte sie nicht vor ein Risiko einzugehen.
Nun hatte es sich ihr zugewandt und sah von unten zu ihr hinauf. Selten überkam sie Unsicherheit, was zu tun war, wenn es um andere Wesen ging, doch nun wusste sie nicht, ob sie bleiben oder gehen sollte. Langsam kam das Wesen näher.
Sie wollte wissen, wer das war. Ja, sie wollte es wirklich wissen und doch gab es irgendetwas in ihr, das sich davor fürchtete. Die Situation war nicht überschaubar, unbekannt und sie konnte nicht einschätzen, was passieren würde. So etwas war ihr noch nie zuvor geschehen. Doch sie war zu neugierig um wirklich zu verschwinden und im Fall der Fälle konnte sie noch immer kämpfen.
Ebenso langsam und wachsam bewegte sie sich auf das Wesen zu, bis sie nur noch wenige Längen voneinander entfernt waren und sie beide stehen blieben.
Noch immer schemenhaft, jedoch um einiges deutlicher, konnte sie es jetzt genauer begutachten. Ein kleines Stück überragte es sie und der Körper machte einen wendigen Eindruck. Es war, wie sie schon wusste, weiblich und zierlich gebaut, und sonst schien der Körperbau erstaunlich dem ihren zu ähneln, zumindest soweit sie das einschätzen konnte. Aber sie trug keine Haut, wie sie es tat, sondern war fast komplett mit feinen dunklen Schuppen besetzt. Rätselnd legte sie den Kopf ein wenig schief.
Die Flossen, die sie trug, waren klar erkennbar, ebenso jedoch, dass diese von arm- und beinähnlichen Gliedern ausgingen. Ihr fehlten die Hände und Zehen, die sie besaß und für keine Flossen der Welt aufgeben würde. Dazu schien ihr Leib seltsam verzerrt und ein wenig verschoben, als hätte er sich nicht ganz entscheiden können, in welche Richtung er wachsen sollte.
Sie wagte sich noch näher heran und erschrak ein wenig, als die Fremde mit einer plötzlichen Bewegung zurückschreckte. Es schien ganz so, als hätte sie mehr Angst vor ihr als sie vor ihr. Doch sie wusste, dass sie sich von diesem Eindruck nicht beeinflussen lassen durfte. Einen Angriff aus purer Feindseligkeit schloss sie jedoch mittlerweile aus.
Mit vorsichtigen und langsamen Bewegungen nahm sie erneut Kurs auf und schwamm schließlich in kleinen Kreisen um das Wesen herum, dessen wachsamer Blick ihr Zug um Zug folgte. Als sie sich wieder gegenüber befanden, so nah, dass sie sich ganz klar sehen konnten, musterten sie sich abschätzend. Sie fuhr durch ihr Haar und war es schließlich, die die Verbindung wieder herstellte. Nur ein einziger Gedanke in diese Richtung war dafür notwendig. Kurz versicherte sie sich, dass sich niemand in der Nähe befand, der sie belauschen konnte. Wie vermutet war alles leer, sie waren die einzigen Lebewesen im Umkreis.
„Und, wer bist du?", fragte sie möglichst freundlich, doch mit abwartender Haltung. Das Wesen sah sie mit den großen dunklen Augen an und blinzelte.
„Wer bist du?", kam schließlich eine Gegenfrage und sie konnte deutliches Misstrauen aus der Stimme heraushören.
Ihre Nase kräuselte sich und sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin ich."
„Ich bin auch ich", meinte die Fremde mit betont ruhiger Stimme, doch sie konnte sehen, dass sie zitterte, die Kiemen am Halse bewegten sich flatterhaft. Die großen Augen waren weiter auf sie fixiert. Etwas lauerndes lag in ihnen.
„Was bist du?", versuchte sie es auf anderem Wege, kam noch etwas näher an es heran und hielt dem starren Blick stand. Alles schien danach, als wäre das Wesen momentan ungefährlich.
Eine längere Pause entstand, geprägt von eingängigen Blicken. „Eine Meeresschlange."
Sie legte den Kopf schief, zog eine Augenbraue hoch und musterte die „Meeresschlange" erneut von oben bis unten. „Ich denke nicht, dass du eine Meeresschlange bist."
Ein erneutes Zurückzucken und die Augen weiteten sich noch mehr, bevor es die Zähne bleckte und mit immer lauter werdender, fast feindseliger Stimme meinte: „Natürlich bin ich eine Meeresschlange. Meine Mutter war eine und ich bin auch eine. Warum sollte ich keine sein?"
Kurz war sie überrumpelt von dem plötzlichen Ausbruch, war sie es doch nicht gewohnt, dass Wesen sich so wenig beherrschen konnten. Vermutlich war sie noch sehr jung, jünger als sie selbst. Allgemein wirkte das Wesen nicht, als dass es schon ohne Eltern unterwegs seien sollte. Ein kleines Lächeln legte sich auf ihre Züge. „Wie sah denn deine Mutter aus? So wie du?"
Daraufhin wirkte sie etwas vor den Kopf gestoßen, die Flossen zuckten unruhig und der Blick huschte umher. Hoffentlich würde sie nicht verschwinden, denn gerade begann die Sache interessant zu werden.
„Meine Mutter war eine Meeresschlange", wiederholte sie nur erneut. „Sie war eine große Meeresschlange."
„Und du bist keine", legte auch sie ihren Standpunkt, die unübersehbare Tatsache, erneut da.
„Doch. Ich bin eine. Ich bin nur anders als die anderen."
„Vielleicht - vielleicht auch nicht", erwiderte sie und suchte in den Augen ihres Gegenübers die Wahrheit. Niemand, der Interesse an seinen Kindern hatte, würde sie ohne Schutz Unten lassen. „Aber was tust du ganz allein hier draußen? Wo ist deine Mutter? "
„Sie - sie kommt bald wieder", stammelte sie und die Unsicherheit war ihr ins Gesicht geschrieben, bevor sie ihre Mimik erfolgreich erstarren ließ.
„Wo ist sie denn?"
„Sie kommt bald wieder." Einen kurzen Moment stockte sie abermals, dann murmelte sie: „Ich muss weiter." Danach war die Verbindung weg, sie drehte sich und verschwand mit eilig schlängelnden Bewegungen.
Es bereitete ihr keine Mühe, ihr zu folgen. Anfangs behielt die „Meeresschlange" noch eine zügige Geschwindigkeit bei, doch bald schon wurde sie wieder langsamer und schien mehr oder weniger planlos vor sich her zu irren. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie keine Ahnung hatte, wohin sie wollte. Genauso, dass sie sich nicht an ihrer Gegenwart störte, denn sie drehte sich nur in regelmäßigen Abständen um, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war.
Währenddessen hatte sie genügend Zeit um nachzudenken. Das Wesen - was auch immer es letztendlich sein mochte - unterhielt sich mit ihr und schien sie nicht als seltsam oder falsch zu betrachten. Zumindest hatte es nichts in diese Richtung geäußert. Gut, es schien auch recht verwirrt und sonderbar zu sein, dennoch war sie zuvor noch nie auf ein Wesen getroffen, dass ihr würdig war und sich dazu noch mit ihr abgab. Aber warum? War es so jung, dass es keine Ahnung hatte?
Nicht zu vergessen die starke Verbindung und damit Übereinstimmung, die ihre Frequenzen betraf. Sie konnte sich dies nur so erklären, dass sie sich irgendwie ähnlich sein mussten, auch wenn sie die Zusammenhänge noch nicht verstand.
Als sie schon mehr als einige Zeit unterwegs waren, holte sie mit kräftigen Schwimmzügen auf, begab sich neben sie und begann zu sprechen: „Weißt du, ich glaube nicht, dass deine Mutter wieder kommt." Sie konnte den finstren Blick nicht sehen, aber spüren. „Schau nicht so, manche Mütter machen das eben - kann man nicht ändern."
„Woher willst du wissen, dass sie nicht wieder kommt?"
„Wie lange Zeit war sie denn nicht mehr da?"
„Viel zu viel Zeit." Danach schwiegen sie wieder beide, kappten jedoch nicht die Verbindung. Bald hatten sie ihr Tempo aneinander angepasst und schwammen dicht nebeneinanderher. Sie lenkte ihre Route in Richtung Oben, hatte sie ihr ursprüngliches Ziel doch noch nicht vergessen. Irgendwann wurde die Stille von einem Magenknurren zerrissen, das nicht von ihr stammte und sie deshalb vorerst ignorierte. Als es jedoch nicht nach ließ, wandte sie sich an die Verursacherin: „Du hast Hunger."
„Kann schon sein", bekam sie eine vage Antwort - das offensichtliche Auszusprechen, schien nicht die stärke der Fremden zu sein.
„Warum jagst du dann nicht? Die Gegend vorhin war nicht schlecht, aber du hast jede Chance verstreichen lassen...", weihte sie sie in ihre Beobachtungen ein und drehte sich auf den Rücken, den Blick nach oben gerichtet. „Da hinten sieht es auch nicht schlecht aus." Sie selbst konnte mittlerweile ebenfalls etwas zwischen den Zähnen gebrauchen.
„Ich weiß nicht. Wir könnten auch noch eine Weile abwarten, so schlimm ist der Hunger ja noch nicht."
Unglaubwürdig verzog sie das Gesicht. „Für mich hört es sich eher so an, als schreit dein Hunger das gesamte Reich zusammen! Außerdem könnte ich ebenfalls eine kleine Jagd vertragen." Sie wandte sich ihr zu, doch ihrem Blick wurde ausgewichen und nur ein kleiner, undefinierbarer Laut kam als Antwort. „Vor wie viel Zeit hast du denn das letzte Mal gegessen?"
„Vor viel zu viel Zeit" Die Stimme klang nun eine Spur rauer und die Augen huschten wieder nervös umher.
„Hast du denn überhaupt schon einmal gejagt?", ging sie ihrer Vermutung nach und konnte dabei einen spöttischen Unterton nicht unterdrücken. Ein Magengrummeln kam als Antwort, ansonsten nichts. „Also hast du noch nie gejagt? Nicht einmal mit deiner Mutter zusammen?"
Ein leichtes Kopfschütteln. „Nein..."
„Dann wird es aber höchste Zeit!", rief sie aus, schließlich wollte sie mehr über dieses Wesen erfahren - und das ging schlecht, wenn es verhungerte.
„Ich weiß nicht, wie das geht. Außerdem, woher soll man wissen, wo und was man fressen darf?", wollte sie verzweifelt wissen, die Flossen dicht am Körper angelegt.
„Ph, da gibt's nichts zu wissen. Wenn man Hunger hat frisst man und fertig", erklärte sie leichthin und machte ein paar Schwimmbewegungen, suchte bereits nach brauchbaren Fährten.
„Nein", nun klang sie wieder sicherer. „Was, wenn man in einem fremden Revier jagt?"
„Das ist nicht unser Problem. Zumindest solange, wie du dich nicht erwischen lässt." Ihre Aussage schien keine besondere Überzeugungsarbeit zu leisten, weshalb sie noch hinzufügte: „Was willst du sonst tun, verhungern?" Bitte nicht.
Trotzig hob sie den Kopf. „Aber ich weiß nicht, wie das geht. Ich kann das nicht."
Ein Seufzen entkam ihr. „Natürlich kannst du es, das wird dir schon im Blut liegen. Mach mir einfach nach, und glaub mir, der Rest passiert schon von alleine." Aufmunternd nickte sie ihr zu.
„Wir fangen auch mit etwas Kleinem an."
Zu sagen, dass sich die Fremde geschickt anstellte, wäre gelogen gewesen. Ein Großteil der Beute wurde durch ihr ungeschicktes Verhalten verscheucht oder entwischte ihr einfach vor der Nase davon. Sie selbst brauchte all ihre Selbstbeherrschung, um ruhig zu bleiben. Gegen Ende schien sie jedoch den Dreh herauszubekommen, das Töten viel ihr leichter und sie wurden beide satt. Und wenn ihr Instinkt sie nicht täuschte, war sie nicht die einzige gewesen, die bei der heutigen Jagd neben Verzweiflung auch Freude verspürt hatte.
„Das müssen wir noch üben,", meinte sie am Ende, „aber wir haben ja Zeit."
„Wir haben Zeit."
Sie sprachen nicht miteinander darüber, aber sie wusste, dass sie sich darin einig waren, vorerst zusammenzubleiben. Die nächste Zeit, vermutlich einige Tage, verbrachten sie damit, nahe der Grenze entlang zu reisen. Häufig sprachen sie gar nicht und wenn, dann nur wenige Worte und sie war überrascht, wie angenehm es war, sich hin und wieder mit einem anderen Wesen austauschen zu können.
Innerhalb der kurzen Zeit hatte sie sich schon stark an sie gewöhnt und empfand es nicht, wie zu beginn vermutet als Last, nicht immer alle Entscheidungen alleine treffen zu können. Leicht beeinflussbar war das Wesen zwar und in vielen Dingen auch anstrengend, doch war sie froh um seine Anwesenheit. Sie konnte sich schon kaum mehr vorstellen, wie es war alleine unterwegs zu sein.
Als der Hunger sie wieder etwas tiefer trieb, trafen sie das erste Mal seit ihrem Zusammenschluss auf ein anderes mächtiges Wesen. Es musste seine Präsenz unterdrückt gehabt und sich zuvor vermutlich im Ruhezustand befunden haben. Gut möglich, dass ihre Anwesenheit es geweckt hatte.
Zu wenig hatte sie auf die Umgebung geachtet und in der Dunkelheit öffnete sich plötzlich ein paar Augen. Sie waren groß, der Mund dazu noch viel größer und der Rest des Wesens riesig. Ihre Begleiterin hatte erschrocken aufgeschrien, damit aller Aufmerksamkeit auf sie gelenkt und ehe sie wusste was sie tat, hatte sie eine ihrer Flossen gepackt und sie mit sich davongezogen. Alleine wären ihre Chancen größer gewesen.
Wasser wirbelte um sie, als sich der Riese in Bewegung setzte. Sie hatten unmessbares Glück, dass er nicht an ihnen interessiert war, sondern nur gemächlich weiter hinunter schwamm. Während sie sich schon wieder Neuem zuwandte, brauchte die Andere noch Zeit, um sich wieder zu beruhigen und erst als sie, viel weiter als nötig, aus dem Gebiet des Vorfalles heraus waren, willigte sie ein sich auszuruhen.
Schlafen taten sie dicht beieinander; Arme, Beine und Flossen fest umeinander geschlungen, um nicht von der Strömung getrennt zu werden. Anfangs war es ihr unbehaglich gewesen, einem Wesen so nah zu sein, dass sie dessen Herzschlag hören und jede seiner Bewegung spüren konnte. Stundenlang hatte sie nicht schlafen können, doch mittlerweile beruhigte sie dieses vertraute Ritual und gab ihr ein kleines Gefühl der Sicherheit - sie war nicht mehr alleine.
Dann, als sie so umschlungen im Wasser schwebten, sprach die Jüngere sie an: „Ich habe lange drüber nachgedacht. Meine Mutter hat mich verlassen, weil, wie sie sagte, ich unnütz bin. Ich bin schwach und gar nicht, wie ich sein sollte."
Nicht wissend, was sie dazu sagen sollte, drückte sie sich nur etwas näher an ihren Körper und unterdrückte ein Gähnen.
„Sicherlich bin ich auch für dich eine Last und es wäre besser, wenn wir wieder alleine ziehen."
Auf dieses Worte hin hob sie den Kopf: „Ph, was meinst du denn damit?"
„Das ich dich nicht länger belasten will -"
Ärgerlich unterbrach sie sie und wich ein Stück von ihr zurück. „Du bist keine Last, die ich nicht tragen könnte. Und wenn, dann entscheide ich selbst, wann ich sie ablegen möchte."
„Aber warum? Warum das alles? Ich bin schwach, ohne dich hätte ich nicht überlebt. Nichts kann ich alleine - nicht einmal mein eigenes Futter besorgen. Und verteidigen kann ich mich auch nicht, gegen nichts und niemanden", legte sie da und schien ehrlich bedrückt, wie sie da ihre Lebenszweifel auspackte.
„Das mag stimmen, aber vergiss nicht, man kann es erlernen, das Überleben. Kann gut sein, dass du es auch alleine gelernt hättest, weißt du, das habe ich auch", erklärte sie mit ruhiger Stimme. Konnte doch nicht sein, dass dieses Wesen so schnell schon aufgeben wollte? Das Leben hatte doch kaum begonnen.
„Ganz alleine? Hattest du niemanden, der dir geholfen hat?"
Sie schluckte und wandte den Kopf ab, bevor sie erwiderte: „Nein."
„Was war mit deiner Mutter?"
Von plötzlicher Missmut gepackt unterbrach sie die Verbindung und die Stille hallte dumpf in ihrem Kopfe nach. Erstaunte Augen waren auf sie gerichtet, doch deren Besitzerin unternahm keinen Versuch wieder Kontakt aufzunehmen. Kurz überlegte sie wirklich zu gehen, rügte sich dann jedoch - aufgeben kam nicht infrage. Sie wartete noch kurz und atmete tief ein und aus, bevor sie die Verbindung wieder herstellte. Es gab doch nichts, wofür sie sich verbergen oder gar schämen müsste. Ihr Herz schlug in einem unruhigen Takt.
„Wenn du nicht willst, musst du nicht darüber reden."
Betont gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. „Ich weiß nicht wirklich, wer meine Mutter war. Sie ist nicht lange bei mir geblieben. Alles, an was ich mich erinnern kann, ist, dass sie unglaublich langes Haar hatte. So hell wie die Sonne. Aber sie hat fast nie mit mir gesprochen - meistens nur wirres Zeug zu sich selbst. Davon, dass sie einen Gott töten würde, dass sie Menschen töten würde und überhaupt jeden, der sich ihr in den Weg stellt." Sie war erleichtert, dass sie ruhig und entspannt klang, ganz anders als sie sich fühlte. „Ich war erst ein Mond alt, als sie mich verließ. Oder, anders gesagt, ich sie verließ. Sie meinte, ich wäre Schuld, ich wäre falsch und dass ich verschwinden solle. Sie hat geschrien, gezetert und mich verflucht und ich hatte Angst - also bin ich verschwunden. Ich habe sie nie wieder gesehen."
Etwas wie Verständnis legte sich auf ihr Gesicht: „Genauso wie meine Mutter. Aber sie war es, die gegangen ist. Sie sagte, sie würde jagen gehen. Erst habe ich gewartet, doch sie kam nicht wieder. Gar nicht mehr. Dann bin ich los und suchte sie, bis ich dich traf. Aber ich weiß jetzt, dass sie nicht will, dass ich sie finde. Weil ich keine richtige Meeresschlange bin.
Weißt du, was deine Mutter war?"
„Eine Nereide, das hat sie immer wieder gesagt. Also sollte ich auch eine sein. Aber ich bin anders, genauso wie du. Die anderen Nereiden sehen nicht aus wie ich und wenn ich mit ihnen sprechen will, dann verjagen sie mich. Sie wollen nicht, dass ich in ihre Nähe komme, weil sie meinen, dass ich falsch wäre.
Aber ich bin nicht falsch, ich bin nur anders. Und du bist auch nicht falsch, du und ich, wir sind eben einfach anders."
„Anders gut", sagte sie eine Spur besser gelaunt und sie antwortete: „Genau. Und schon hast du was gelernt." Danach sprachen sie nicht mehr, sondern hingen jeder für sich mit ihren Gedanken in der Vergangenheit nach, bevor sie fragte: „Hält dich irgendwas hier unten?"
„Was sollte mich hier halten?" Sie runzelte die Stirn und blickte sie fragend an.
„Manche werden Unten gehalten, spürst du das nicht?"
„Nein."
„Weil du anders bist. Wir können zusammen nach Oben gehen, es wird dir sicherlich gefallen."
„Oben? Was macht man da?"
„Du hast noch nie was über das Oben gehört?" Ein heftiges, erstauntes Kopfschütteln und sie selbst musste grinsen. „Ich werde es dir zeigen. Es gibt dort Licht."
("Karte" der Reiche:)
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