Kapitel 1

Unten blinkte es. Ein kurzes Aufleuchten, ein unsicheres Flackern - dann wieder verschlingende Schwärze. Und als wäre es ein Befehl gewesen, blinkten mit einem Mal mehrere Dutzend dieser kleinen Lichtchen. Rot, Blau, Grün und sogar ein wenig Gelb. Ein stetiges Pulsieren ging durch ihre Reihen und sie tanzten umher. Wild, ungebändigt, verträumt. Dann erstarben sie mit einem Schlag und es wurde wieder farbliche Nacht.

Eine kurze Bewegung, ein kleines Zucken, drei Atemzüge. Zeit verging. Dann ein einsames Aufblinken, links unter ihr - hunderte folgten, setzen den Kreislauf fort.

Sie konnte kleine Ewigkeiten damit verbringen, dieses Schauspiel aus Licht und Farbe zu betrachten, das hier immer und überall auftauchen konnte. Zu ihm gehörte natürlich auch immer sein Schöpfer, denn hier war das Licht nicht frei, es war immer an irgendjemanden oder an etwas gebunden.

Ein Schwarm aus in der Tiefe lebender Quallen war in diesem Falle für jene kleine Zauberei verantwortlich und vollkommen unbeachtet lauerte sie über ihnen. Sie mochte diese Gegend. Eben niemand beachtete sie, obwohl, oder gerade weil, sie kein Teil dieser kleinen Welt war.

Eine Weile betrachtete sie noch das faszinierende Schauspiel, bis sie sich etwas weiter nach oben gleiten ließ. Gerne wäre sie noch länger geblieben und wäre dem Schwarm gefolgt, doch sie merkte schon, wie es begann. Ihre Bewegungen wurden fahriger, unkontrollierter und ihre Konzentration ließ spürbar nach. Sie hatte nicht mehr lange Zeit.

In ihrem Körper rumorte es. Elegant waren die Schwimmzüge, mit denen sie sich dem Licht entgegen kämpfte. Dem echten Licht, das, dass die Sonne in wundervollen Strahlen hinunter schickte. Kraftvoll und glänzend waren sie, doch weit unten gaben sie fast auf, siechten langsam dahin, bis auch die letzten von ihnen erstarben. Einige dachten, dort würde dann das Reich der Finsternis beginnen - doch nein, ein Irrglaube. Wo war denn auch die Dunkelheit, wenn die Wesen, die dort heimisch waren, ihr Licht immer mit sich trugen? Vielleicht nicht für alle sichtbar, doch es war da. Nicht zu vergessen die Leuchter, die man häufig antraf und deren einzige Aufgabe darin bestehen zu schien, Licht zu spenden. Die ewige Finsternis war nur lügenhafte Attrappe. Das echte Reich der Finsternis begann erst später, sehr viel später, wo nur noch Wenige lebten.

Bald schon war sie hoch genug, um mehr und mehr das buntes Leben um sich herum wieder mit all ihren Sinnen wahrnehmen zu können. Eine warme Strömung streifte sie und einige kleine Fische huschten vor ihr davon. Mit einem blitzschnellen Zug folgte sie ihnen und tauchte hinter einem Felsen ab. Tief ließ sie das Wasser durch die Kiemen fließen und schloss dabei fast genießerisch die Augen. Als sie die Lieder wieder öffnete, funkelte das Blau darunter gefährlich auf. Ein Knurren entkam ihr.

Es brauchte ihre gesamte Geduld und Willensstärke, nicht einfach hervorzustürzen. Doch noch war es nicht so weit. Und noch hatte sie sich unter Kontrolle. Alles war gut. Sie hatte nur Hunger - ein ganz kleines bisschen Hunger. Mehr doch nicht. Alles war in Ordnung.

Ein Knurren entkam ihrem Munde. Ihre Zunge fuhr über die Reihen der spitzen Zähne und kurz konnte sie ihr eigenes Blut - sie wollte Blut - schmecken, bevor die Wunde wieder verheilte. Dann roch sie es wieder und es war vorbei. Das kurze Ausharren, das ihr in diesem Zustand immer so ewiglich vorkam, hatte endlich ein Ende. Sie bleckte die grünen Zähne, ihre Finger krallten sich in den Felsen und dann stieß sie sich ab.

Mit all ihrer Kraft vorwärts und doch hätte sie sanft und lieblich gewirkt, wie sie da schnell durchs Wasser drang, wäre da nicht dieser irre Blick in den Augen gewesen. Ihre Hände, die Finger zu langen Klauen geformt, fanden ihr Ziel und bohrten sich in festes Fleisch.

Blut - wie bunte Farbe aus der Tiefe - floss um sie herum. Dann biss sie zu, mit den scharfen Zähnen, die den des Haies in nichts nachstanden. Der kräftige Fisch wand sich in ihrem Griff, versuchte sich zu wehren und wedelte mit den Flossen. Doch sie ließ nicht locker, immer und immer wieder biss sie zu und wich dabei dem Maul des Tieres aus. Ein bisschen Fleisch konnte sie ihm mit den Fingern herausreißen.

Um sie herum hatte alles die Flucht in Sicherheit ergriffen und beobachtete den Kampf nun aus kurzer, sicherer Distanz. Der Hai schaffte es, sie mit einer seiner kurzen Flossen zu treffen und Schmerz fraß sich ihre Schulter entlang. Doch es war nicht ihr Blut, dass sich fächerartig um sie verteilte. Adrenalin schoss durch ihre Adern, sie konnte ihren eigenen Herzschlag spüren.

Und mit einem Mal war es geschafft, der Körper zuckte noch ein letztes Mal, dann lag er still in ihren Armen. Ihr helles Haar umspülte sie und die Sonne ließ es wie einen Heiligenschein leuchten. Sie hätte ein gefallener Engel sein können, der einen Toten würdigt. Hätte.

Der erste (richtige) Bissen war doch immer das Beste. Und danach zerrte und rupfte sie, holte alles aus dem toten Fisch, was ihr schmeckte und aß weiter und weiter. Um sie herum ging das Leben wieder los, nahm seinen gewohnten Lauf. Der Hai war etwas kleiner gewesen als sie selbst und auch schmaler, und so hatte sie ihre Mahlzeit schnell beendet. Ihre Gedanken klärten sich auf und sie fühlte sie wie neugeboren, voller Kraft und Energie, als sie die Überreste schließlich auf den Grund hinunter sinken ließ, wo sich sogleich andere darüber hermachten.

Es war doch alles in Ordnung. Alles war in perfekter Ordnung, so lange sie keinen Hunger hatte. Und so lange sie niemand störte. Oder sie sich langweilte. Aber sonst? Alles gut, alles in Ordnung mit ihr. Also gab es doch keinen Grund, warum die anderen sie meiden sollten - aber doch sie taten es. Nicht, dass es sie kümmerte.

Vergnügt schwamm sie einige Schlangenlinien durch das Wasser, wusste nicht recht wohin. Sehr viel höher wagte sie sich nicht, denn dort war sie nicht sonderlich willkommen. Doch wie es der Zufall so wollte, erreichte schon bald ein kleines Riff. Eigentlich war es für diese wundervollen Gärten noch viel zu kühl und dunkel, doch war es da, auch wenn es einen Recht spärlichen und kläglichen Eindruck machte.

Mit kleinen Hüpfern sprang sie von Fels zu Fels. Ihre Füße mochten schwach aussehen, doch besaßen sie feste Haut, unter der man die meisten Steine und Pflanzen kaum spürte. Ein freudiger Stoß durchfuhr sie, als sie einige Seepferdchen entdeckte. Etwas verärgert über die Störung drängten sich diese dicht neben einer der großen Korallen beisammen.

Nun mit gemächlich und gewählten Bewegungen ließ sie sich neben ihnen nieder und sprach mit freundlichen Schwingungen zu ihnen - wohl wissend, dass sie jene nicht verstehen konnten, doch egal, sie kamen etwas näher. Und bald schon ließen sie sich liebevoll von ihr streicheln, wirbelten verspielt um sie herum.

Sie mochte es, ein wenig Gesellschaft zu haben, auch wenn sie nicht mit ihr kommunizieren konnte. Ärgerlich, dass diese Wesen dazu nicht in der Lage waren. Erfreulich, dass sie ein wenig mit ihr spielten. Als keines von ihnen so Recht achtnahm, schnappte sie mit flinken Fingern eines und ließ es in ihrem Mund verschwinden.

Noch lange huschte sie mit den Seepferdchen durch das Riff, betrachtete bunte Korallen und schwamm durch einen Schwarm kleiner gelber Fische, der danach panisch versuchte, sich wieder neu zu bilden.

Dann begann die Sonne über dem Horizont zu schwinden und sie machte sich wieder auf den Weg. Es gab keinen Ort, an den sie richtig beheimatet war und so schlief sie stets dort, wo sie gerade befand, doch immer in ordentlicher Tiefe. So ging es für sie weit hinunter, bis die Sonne, wenn sie denn wach gewesen wäre, sie nicht mehr erreicht hätte. Dort, mitten im Wasser schwebend, getarnt in einem Schauer aus Dunkelheit, schlief sie dann in dämmrigen Phasen einige Stunden.

Noch vor dem Sonnenaufgang hatte sie sich genug erholt und erwachte wieder mit alter Kraft. Ein paar Fische, die sich zu nah an sie herangewagt hatten, gaben eine kleine Mahlzeit ab und befriedigt schwamm sie etwas weiter. Einige Wesen erstrahlten vor ihr in ihren geheimen Farben, und ob aus weiter Ferne oder nächster Nähe - von diesem Schauspiel wurde sie niemals satt.

Als Verteidigung und Tarnung war das Lichterspiel meist gedacht und oft grämte sie sich, diese wundervolle Kunst nicht selbst zu beherrschen. Ihr größter Respekt gestand jenen zu, die es schafften, ihr Licht als Waffen oder Köder zu nutzen und damit auf gut geplante Jagd zu gehen. Mit Spannung und großer Hingabe folgte sie kleinen Jägern und beobachte ihre Erfolge und Niederlagen, nicht zuletzt, weil hin und wieder auch für sie etwas dabei heraussprang.

Passend wären wohl die Worte „Ruhe vor dem Sturm" gewesen, die sie vor langer Zeit einmal Oben aufgeschnappt hatte. Doch sie bemerkte die Ruhe erst - sie war auf einen Anglerfisch konzentriert gewesen, dessen Beute immer näher kam - als sie endete und der Sturm über sie hereinbrach. Tonnen von Wassermassen wurden bewegt und alles, was in der Lage war sich zu bewegen, war mit einem Mal in Bewegung. Sie zog aus einem Reflex Arme und Beine an und rollte sich zu einer kleinen Kugel zusammen, bevor ihr Blick nach oben hetzte. Die schwarzen Silhouetten zweier Giganten bildeten sich am grauen Hintergrund ab und kamen in atemberaubender Geschwindigkeit näher.

Ihr Herz schlug schneller und jagte eine Mischung aus Adrenalin und Panik durch ihre Adern. Sie wollte sich bewegen und fliehen, egal wohin, nur weg von hier. Doch ihre Gliedmaßen ließen sich nicht rühren und sich fühlte sich wie versteinert. Wenn sie doch nur tiefer sinken würde, wie es Steine taten!

Sie vergaß zu atmen und hätte sie Zeit für Gedanken in diese Richtung gehabt, wäre es fragwürdig gewesen, ob sie es gewagt hätte. Fischartiges, großes und kleines, huschte an ihr vorbei, hoch und runter, einfach davon, niemand wollte in diesem Kampf zwischen die Fronten geraten. Doch sie konnte nur mit schreckgeweiteten Augen hinaufblicken.

Ein Wal - einer der größten, die sie jemals gesehen hatte - hing in der fesselnden Umarmung eines Kalmars, der gut zehnmal so lang war wie sie selbst Der Anblick jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Der Wal wehrte sich mit Leibeskräften, doch noch wollten sich die starken Fangarme seines Gegners nicht lösen. Die beiden Riesen rangen miteinander und gewannen dabei mehr und mehr an Tiefe.

Es war laut. Die erschrockenen Ausrufe anderer Meeresbewohner hatten sich bereits wieder gelegt oder wurden einfach übertönt. Es war schrecklich, fast schmerzhaft in den Ohren. Selten kam es vor, meist in Momenten wie diesen, dass sie es verfluchte die Macht zu haben, mit ihrer Frequenz fast alles zu hören. Sie hatte nicht die Kraft es zu unterbinden.

Der Wal schrie, wie er sonst schon sprach, in quietschend grellen Tönen. Es schien nichts anderes mehr zu existieren als der Lärm, die Schreie des Sturmes. Die Stimme des Kalmars, dunkel und dröhnend, schien ihr mitten ins Mark zu schießen. Sie verstand nicht, was er sagte. Wollte es nicht hören.

Als die Giganten direkt über ihr, nur noch ein paar ihrer Längen entfernt waren, schlug ihre Panik in nackte Überlebensangst um. Das Gefühl schoss wie ein Blitz in sie hinein und breitete sich mit unangenehmer Hitze im Körper aus. Gleichzeitig schien eine eisige Macht ihre Gedärme zu umklammern. Kurz war sie sich sicher, sterben zu müssen. Dann erwachten ihre Instinkte wieder, Wasser floss tief durch ihre Kiemen und endlich konnte sie sich bewegen. Schneller, als sie jemals zu vor geschwommen war, huschte sie in letzter Sekunde zur Seite.

Der Sog riss sie mit, als die Kämpfenden in an ihr vorbei jagten. Einfach mit hinunter, weiter und weiter. Wie lange vermochte sich nicht zu sagen. Das Wasser hatte seine starke Hand um sie geschlossen und war noch nicht bewilligt, sie wieder ziehen zu lassen. Sie hatte die Augen geschlossen. Warten. Einfach nur warten, abwarten, bis es vorbei sein würde.

Und irgendwann kam das Ende, wie es von allem ein Ende gab. Sie sank nicht mehr willenlos hinab und als sie die Augen behutsam öffnete, war sie alleine. Erleichterung durchflutete sie und doch dauerte es noch ein Weile, bis ihr Herz wieder in einem normalen Takt schlug und sie ruhiger atmete. Sie hatte die Orientierung verloren, wusste nur, dass sie weit unten befand, womöglich schon in der Nähe der Grenze.

Sie beschloss sich auszuruhen und einige Zeit hier zu verweilen, bis sie wieder zu Kräften kommen würde. Wieder zu einer Kugel zusammengerollt trieb sie schwerelos im Wasser und versuchte zu verarbeiten, was geschehen war und noch immer geschah. Ihr Bein schmerzte und sie redete sich ein, dass es das nicht konnte. Niemand hatte sie berührt, nicht einmal gestreift. Es konnte nicht schmerzen. Es durfte nicht mehr schmerzen - die Wunden waren schon lange verheilt. Doch egal wie lange sie zusammengekauert verharrte, der Schmerz ließ nicht nach.

Ganz vorsichtig und mit sanften Fingern fuhr sie an ihrer Wade entlang und ertastete die wulstigen Narben, die sich dort befanden. Mit der Zeit waren sie verblasst und fast hatte sie sie vergessen. Doch nun schmerzten sie genauso sehr, wie sie es in den ersten Tagen getan hatten. Die Erinnerung daran, wie sie selbst Auge in Auge mit einen dieser Tiere um ihr Leben gekämpft hatte, wurde wieder lebendig. Der Kalmar war kleiner gewesen und hatte sie genauso unvorbereitet erwischt, wie die Riesen heute über ihr aufgetaucht waren.

Sie war noch sehr jung und unerfahren gewesen, die meisten Regeln dieser Welt waren ihr noch unbekannt, und es war ihr erster wirklicher Kampf. Der Arm schien aus dem Nichts gekommen zu sein und hatte sich in Sekundenschnelle um ihr Bein gewickelt, wo die starken Saugnäpfe dann ihre Arbeit verrichtet hatten. Sie hatte gestrampelt und geschrien, doch gebracht hatte das nichts. Niemand hatte ihr helfen können und helfen wollen.

Es war pures Glück gewesen, dass sie es geschafft hatte sich zu befreien. Vielleicht hing der Kalmar unter dem Felsen fest oder hatte es plötzlich doch mit der Angst zu tun bekommen; jedenfalls tauchten nicht mehr seiner Arme auf. Und mit einem Arm war sie klargekommen, sie hatte gebissen und gezerrt, bis er sich schließlich von seinem Körper loslöste und noch heute glaubte sie, den ekelhaften Geschmack manchmal im Mund zu haben. Seit jener Begegnung hielt sie sich zu Kalmaren und auch Kraken größerer Art so fern sie nur konnte.

Mit einem Mal fühlte sie sich wieder so verletzlich wie damals. Der weite Ozean kam ihr bedrohlich und unsicher vor, nirgendwo konnte sie sich verkriechen und verstecken. Über ihr, unter ihr und neben ihr gab es ewig weit nur Wasser, Wasser und noch mehr Wasser. Und Wesen, die sie vielleicht jagen und verletzen mochten, suchen und finden konnten. Vielleicht waren gerade jetzt, direkt unter ihr, die riesigen Augen eines Jägers auf sie gerichtet, der nur darauf wartete zuzuschlagen. Sie hatte nicht die Kraft und den Mut um es zu überprüfen.

Es brauchte ihre gesamte Willensstärke, sich schließlich vom Gegenteil zu überzeugen. Sie war nicht mehr schwach. Gewachsen und stärker war sie geworden. Gelernt hatte sie auch und nichts mehr zu befürchten! Wo war denn so plötzlich all das hin, was sie gelebt hatte? Sie war eine Jägerin, rief sie sich in Erinnerung. Vielleicht gab es noch andere, doch sie war eine - eine der ganz Großen. Die meisten Kämpfe hatte sie für sich gewinnen können und wenn nicht, dann trennte man sich in der Ansicht, sich ebenwürdig in Kraft und Stärke zu sein und ging wieder seines Weges davon.

Aber was, wenn jemand kommen würde, der stärker war als sie? Wenn sie verlieren würde? Sterben müsste? Ein gezielter Biss, ein heftiger Schlag und sie wäre nur noch Futter, sowie toter Fisch, den auch sie fraß.

Doch natürlich war das Unsinn, rief sie sich ins Gedächtnis, wer sollte sie schon töten? Wer hätte denn die Macht und gleichzeitig das Interesse daran? Aber was, wenn es tatsächlich einmal geschehen würde? Was dann?

Ihre Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen, bis sie irgendwann schließlich die Erschöpfung übermannte und in einen unruhigen Schlaf fiel. Als sie erwachte, sah die Welt schon wieder viel besser aus. Kein Schmerz plagte sie mehr und sie beschloss; alle schlechten Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Lieber widmete sie sich dem Hunger, der wieder einmal in ihrem Bauch rumorte.

Die erfolgreiche Jagd hellte ihre Laune schließlich vollkommen auf und mit einem kleinen Lächeln begleitete sie einen der Bewohner der Tiefe ein Stück, dessen Körper von schmalen, harten Platten bedeckt war, trotz derer er sich überraschend schnell hinunter schlängeln konnte.

Weiter und weiter ging es für sie hinab und mit der Zeit wurde es stiller und stiller. Immer weniger Lebewesen kreuzten ihren Weg und diese wurden immer mächtiger, in ihrer Geisteskraft und auch in ihrem Körperbau. Sie schwamm so lange am Stück wie schon lange nicht mehr, doch noch war sie kein Stück erschöpft, sodass sie weiter tauchte.

Aus dem Augenwinkel nahm sie einen plötzlichen Lichtschein wahr und war kurz versucht zu fliehen, zuckte jedoch nur leicht zurück. Dann drehte sie sich in Richtung der Lichtquelle und mit leicht zusammengekniffenen Augen betrachtete sie das Wesen. Es war ihr vertraut, es handelte sich um einen der Leuchter, die zahlreich die düsteren Teile des Reiches bevölkerten.

Sie waren kugelförmige Lebewesen, im Durchmesser etwa so lang ihr Körper, deren Haut schimmerte und dazu immer in kräftig warmen Licht leuchtete. Die Augen bestanden aus zwei schwarzen Punkten, die sich nie bewegten. Ansonsten besaßen sie nichts an sich, nicht einmal Flossen. Sie waren einfach nur Kugeln, die leuchteten und sich auf rätselhafte Weise durchs Wasser bewegten.

Vor langer, langer Zeit waren sie von den Göttern der oberen Gewässern in die Tiefen des Reiches geschickt worden, um der Dunkelheit Einhalt zu gebieten - erzählte man sich zumindest. Von den meisten Bewohnern wurden sie weitläufig gemieden, da sie Jagd und Schutz nicht selten vereitelten.

Sie selbst hatte versucht, das Rätsel, das diese Wesen umgab, zu lösen. Schon zweimal war sie Leuchtern auf recht lange Zeit gefolgt und hatte sie nicht mehr aus dem Blick gelassen. Doch sie schienen lediglich zu existieren, nicht mehr und nicht weniger. Niemals hatte sie einen von ihnen jagen oder fressen sehen, - sie konnte nicht einmal sagen, ob sie einen Mund besaßen - sie schienen einfach vom Wasser um sie herum zu leben. Niemals hörten sie auf zu leuchten und niemals nahmen sie Kontakt zu anderen Lebewesen auf, nicht einmal untereinander. Sie wusste nicht, wie und ob sie sich fortpflanzten oder ob sie sich Gedanken darum machten, wohin sie schwammen. Vermutlich waren sie einfach das, was ihr Name ihnen gab; Leuchter.

Jener vor ihr hatte angehalten und vielleicht würde er bald wieder nach oben aufbrechen, den selbst Leuchter waren in diesem Gebiet selten anzutreffen. Die kleinen, leblos wirkenden Augen sahen sie an, oder einfach durch sie hindurch, so ganz vermochte sie das nicht zu sagen. Fast konnten die Leuchter ein wenig unheimlich sein, wenn man so ganz alleine mit ihnen war.

Soweit sie wusste, hatte noch nie jemand Jagd auf einen Leuchter gemacht oder einen angegriffen. Niemand traute ihnen über den Weg und sie waren nicht nur vollkommen stumm und reaktionsträge, sondern trugen auch keinen Geruch an sich. Ob sich der Leuchter wohl verteidigen würde, wenn man ihn bedrohte? Konnte sie es ausprobieren? Nein, zu gefährlich, wer wusste schon, was geschehen würde. Oder doch? Sie war doch stark, sie konnte kämpfen, sie hatte nichts zu befürchten.

Langsam streckte sie die Hand aus und tat etwas, was bis jetzt noch nie gewagt hatte. Alles mögliche hatte sie probiert, um Leuchter zu einer Reaktion zu verleiten, doch berührt hatte sie sie noch nie. Ob wohl plötzlich aus dem Nichts ein riesiger Mund mit spitzen Zähnen auftauchen würde... oder schrecklich lange Fangarme?

Sie wollte es wissen. Erst tippte sie ihn vorsichtig an, zog den Arm jedoch sofort wieder zurück. Nichts passierte. Dann wagte sie es, über ihn zu streichen. Die Haut fühlte sich glatt und warm an, ein wenig wie ihre eigene, und neugierig drückte sie schließlich etwas an dem Leuchter herum. Wieder nichts.

Ein wenig enttäuscht ließ sie wieder von ihm ab. Ob man Leuchter wohl essen konnte? Sie wollte es nicht wagen, denn ganz geheuer waren auch ihr diese mysteriösen Wesen nicht. Sie drehte noch eine Runde um den Leuchter, dann kehrte sie der Laterne des Meeres den Rücken zu und entschwand nach unten. Eiskalt wurde es hier und auch wenn sie nicht besonders kälteempfindlich war, kroch ihr hier ein wenig zu viel der Kälte in die Knochen. Später würde es wieder besser werden.

Schließlich kam sie in die tote Zone - so hatte sie diese Gegend getauft. Unter und über ihr gab es Leben in allen Formen, doch hier war nichts und niemand. Zumindest war ihr bei bisherigen Besuchen noch nie jemanden begegnet.

Doch auch dort, denn das wollte sich gar nicht, verweilte sie nicht lange, sondern näherte sich weiter ihrem Ziel, der Grenze. Die nächste Zeit wollt sie im Reich der Wenigen verbringen. Sie war einer der seltenen Grenzübergänger, die zwischen den Reichen wechselten und mal hier und dort lebten, wie es ihnen gerade beliebte. Übergänger waren in Zeiten wie diesen nicht sonderlich beliebt und waren nirgendwo willkommen. Doch wo sollte man hin, wenn man weder in das eine noch in das andere Reich gehörte?

Die Grenze war aus dickem, womöglich unzerstörbarem Gestein und es dauerte nicht lange, bis sie einen der Eingänge entdeckte. Ohne zu zögern glitt sie in die Schlucht aus Schwarz und wieder ging es hinunter. Lange Zeit folgte sie den Felswänden, bis sie ins Reich der Wenigen entlassen wurde, das sich überall unter dem Reich der Vielen erstreckte.

Unten waren ihre Sinne ein Stück weit eingeschränkt, doch ihre Augen waren gut, so gut, dass sie selbst in völliger Finsternis noch Konturen erkennen und schwache Schatten von starken Schatten auseinander halten konnte. Viele dachten, dass man Unten ganz und gar blind sei, aber dass stimmte nicht. Natürlich wusste sie, dass bei weitem nicht alle Wesen über die Gabe der Sicht der Dunkelheit verfügten, doch um so dankbarer war sie für sie, von wo auch immer sie stammen mochte.

In den langen Perioden der Stille und vollkommenen Finsternis hing sie meist bewegungslos im Wasser. Unten war man die meiste Zeit ganz alleine mit sich selbst und früher oder später musste man sich allen möglichen Gedanken stellen. Was würde sie morgen fressen? Sollte sie überhaupt jagen gehen? Warum war sie hier? Warum gehörte sie nirgendwohin? Doch auf die meisten Fragen gab es keine Antwort, die sie kannte und so quälte sie sich eine Weile herum, bis schließlich auch ihre Gedanken immer langsamer flossen und fast versiegten.

Immer häufiger und länger verbrachte sie die Zeit damit, einfach zu schlafen und ihren Träumen nachzujagen. In ihren kurzen wachen Phasen überlegte sie sich manchmal Gesellschaft zu suchen, wusste jedoch, dass dieses Vorhaben nicht einfach in die Tat umzusetzen war.

Schnell konnte sie an die Falschen geraten und auch wenn sie keine Sekunde Sorge um ihr Leben hatte, wollte sie doch lieber auf ein möglicherweise schmerzhaftes Erwachen verzichten. Manche der Wenige spielten gerne mit einem, andere beachteten einen gar nicht und wieder andere schienen nur aus Hass und Wut zu bestehen. Woher sollte man wissen, wem man gerade gegenüber stand? Noch längst begriff sie nicht alles über diese Wesen.

Sie hatte noch viel zu lernen, schließlich war sie noch jung - nicht einmal ein Jahrhundert irrte sie durch die Meere. Fast fühlte sie sich wieder klein und unbedeutend. Aber nur fast.

Jetzt fühlte sie sich gut und schläfrig. Langsam schloss sie die Augen.

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