Kapitel fünf.
Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen. Mein Kopf wollte einfach nicht aufhören, sich schlimme Dinge auszumalen, die möglicherweise passieren können, weil ich mein Notizbuch in Weeping Willow vergessen habe. Wie konnte ich nur so dumm sein? Ich nehme überall ein Notizbuch mit und das ist mir noch nie passiert. Zumindest nicht an einem öffentlichen Ort. Der Nachttisch meiner Mutter scheint jetzt, wo ich es im Coffee Shop vergessen habe, einfach ein jugendlicher Fehler zu sein.
Das ist nicht irgendein Coffee Shop, sondern einer, wo ich gerne noch einmal hingehen könnte. Ich mache mich selber verrückt, ich weiß. Es wird alles gut gehen. Ich bin mir sicher, dass einer der Baristas - am Besten nicht Trent - es genommen und in ein Büro gebracht hat, bis der Besitzer kommt, um es zu holen. Ein nettes, privates Büro, wo niemand mein Buch öffnet.
Ich liege wach im Bett, bis es Zeit ist, für die Schule aufzustehen. Ich werde versuchen meine Eltern zu überzeugen, mich fahren zu lassen, um mein Notizbuch zu holen und später zur Schule zu kommen. Mein Argument ist, dass das nur ein Tag ist. Ich habe das Gefühl, dass sie sich selber auf den Weg machen, um es zu holen, wenn ich ihnen sage, wie wichtig mir das ist, das Buch so schnell wie möglich zurückzubekommen. Und mit so schnell wie möglich meine ich gestern.
Während ich mich für den Tag fertigmache, ertappe ich mich dabei, wie ich Mascara auftrage und drei verschiedene Shirts zu meiner Jeans anprobiere. Meine Lieblingsjeans habe ich schon so oft getragen, dass die Innenseite beider Oberschenkel anfängt abzunutzen. Ich hatte sie mal aus einem Konsignationslager und danach habe ich die Marke nirgendwo sonst in der Stadt gefunden.
Letztendlich entscheide ich mich für ein schwarz-weiß gestreiftes Shirt, das bis zum Knopf meiner Jeans geht. Meine Sneakers sind unten bei meinen Eltern, mit denen ich mich diesen Morgen zu Tode langweilen muss. Nicht wörtlich gemeint. Manchmal ekel ich mich selber an. Ich finde mich selbst lustiger, als die meisten es tun. Ich lache über meine Unbeholfenheit, als ich die Küche betrete. Ich glaube, die Sorge um mein Notizbuch frisst mein Hirn langsam lebendig auf.
Mein Dad sitzt am Tisch und meine Mutter beugt sich vor und holt etwas aus dem Schränkchen unter der Spüle hervor.
Ihre Stimme ist gedämpft. "Ich könnte schwören, dass ich es letzte Woche hier unten gesehen habe", beschwert sie sich.
Dad schaut etwas von einem Ring auf, auf dem er gerade einen breiten grüne Stein klebt.
"Ich bin mir, das hast du, Honey", stimmt er ihr zu.
Bevor sie eine Ehediskussion führen - über was auch immer sie sucht - starte ich mit meiner Bitte.
Ich setze mich Dad gegenüber und fange an. "Letzte Nacht habe ich mein Notizbuch in Weeping Willow gelassen", sage ich ihnen. Mom knallt mit ihrem Kopf gegen den Tresen, als sie ihn hebt, um mich anzusehen. Ihr weißes Overall ist bedeckt mit einem Mix aus Farbe, Essen und etwas, das aussieht wie Blur, aber ich frage nicht nach.
"Oh nein", sagt sie mitfühlend. Guter Anfang.
Ich stütze meine Ellbogen auf den Tisch ab und beginne mit dem nächsten Teil meines Plans. "Ich muss es holen gehen. Es ist voller Gedichte."
Mein Vater nickt und legt den fertigen Ring auf ein Handtuch zu den vielen anderen Ringen, die alle verschiedenfarbige Steine haben. Der tiefgrüne ist mein Liebling. "Das ist nicht gut. Wir können heute Abend gehen", sagt er und schaut fragend zu Mom.
Sie schließt das Schränkchen und wischt sich mit der Hand über die Stirn. "Ja, wir können heute Abend gehen. Keine große Sache, Baby." Sie lächelt und ist glücklich mein Problem gelöst zu haben.
"Ich wollte heute morgen gehen", beginne ich. Sie sind beide kurz davor nein zu sagen. "Dieses Notizbuch ist voller Gedichte, die noch keiner lesen soll. Ich glaube nicht, dass ich mich auf den Unterricht konzentrieren kann, wenn ich weiß, dass er jede einzelne Seite lesen könnte." Ich versuche schnell mich selber zu korrigieren, weil ich "er" gesagt habe, aber es ist zu spät. Beide haben es sofort gecheckt.
"Wer ist er?", fragt meine Mutter zuerst. Dad schaut mich geradewegs an.
Ich schaue weg. "Niemand. Ich meinte das allgemein, niemanden Bestimmten."
"Bullshit", ruft meine Mutter aus.
Ich gebe es lieber gleich zu, bevor sie es mir aus der Nase ziehen. Vielleicht hilft es meiner Sache ja.
"Na gut, der Junge, der dort arbeitet. Er heißt Trent. Ich kenne ihn nicht oder so. Ich habe ihn nur gestern getroffen, aber Crane kennt ihn." Ich labere umher, aber ich kann irgendwie nicht aufhören. "Ehrlich, da ist nichts, wir haben nur zwei Minuten oder weniger geredet. Macht daraus bitte keine große Sache."
Meine Mutter presst ihre Lippen aufeinander um nichts zu sagen. Sie sieht zu Dad und er grinst und lacht. "Würden wir nie", sagt er. Ich versuche zu lachen, aber ich mache mir immer noch Sorgen um mein Notizbuch.
"Kann ich also bitte vor der Schule zu Willow fahren und eine Befreiung für die ersten Stunden bekommen? Bitte?" Ich lächle, gebe ihnen den besten Eindruck meines fünfjährigen Ichs.
Dad schaut zuerst mich an, dann Mom. "Ich weiß nicht, Chaucer", sagt er. Meine Mutter bleibt still und lässt meinen Vater dem Überbringer der schlechten Neuigkeiten sein.
"Ich habe in den ersten Stunden Jahrbuchgestaltung. Das kann ich verpassen", werfe ich ein weiteres Argument ein. Das wird langsam knapp.
"Es geht nicht darum, dass du Stunden verpasst. Du weißt, dass wir uns nicht wohlfühlen, dich dort hinfahren zu lassen. Es ist so weit und die Autobahn wird von Leuten, die zum Arbeiten in die Stadt fahren", sagt Mom. Ich habe keine Chance, das kann ich an ihrem Ton und dem mitfühlenden Ausdruck in ihrem Gesicht erkennen.
"Ich kann dich dort hinfahren", schlägt Dad vor. Er schaut zu meiner Mutter und ihr Gesicht erhellt sich. Offensichtlich hat sie nicht an diese Möglichkeit gedacht. Ich auch nicht.
"Ja, dein Vater kann dich da hinfahren und dich später zur Schule mitnehmen. Crane kann dich dann heimfahren oder einer von uns holt dich ab."
Meine Nerven beruhigen sich allmählich. In weniger als einer Stunde wird mein Notizbuch wieder in meinem Besitz sein. Ich danke beiden und stecke einen Bagel in den Toaster, damit ich auf der Fahrt zum Viertel essen kann.
Den Großteil der fahrt haben wir damit verbracht, Musik zu hören. Mal habe ich einen Song ausgesucht, mal er. Das ist unser Ding. Die meisten Lieder passen vom Musikgeschmack gar nicht zusammen, aber Dad beschwert sich nicht, wenn ich meine Lieblingslieder spiele.
"Das Parken ist am Tag eindeutig besser", sagt Dad, als er ein paar Meter von der Eingangstür entfernt parkt. Ich nicke bestätigend. Ich frage mich, ob Trent diesen Morgen arbeitet. Er hat vor zwölf Stunden gearbeitet, deshalb bezweifle ich, dass er eine so frühe Schicht haben wird.
"Soll ich im Auto warten?", fragt mein Vater und wackelt mit den Augenbrauen. Ich stöhne und wünschte, ich könnte in ein Loch krabbeln, in dem mein Vater keine Witze über mein nicht vorhandenes Liebesleben macht.
"Bitte." Ich steige aus dem Wagen und gehe auf den Gehsteig.
Mein Vater lässt das Fenster herunter. "Schreib mir, wenn du etwas brauchst."
Ich nicke und winke ihm kurz zu, bevor ich durch die offene Tür gehe. Der Laden ist nicht annähernd so voll wie gestern Abend und als ich zur Theke laufe, nimmt eine temperamentvolle Blondine gerade Bestellungen auf. Huh. Nicht Trent. Demütigungend, wenn er meine Gedichte lesen würde.
Ich nähere mich der Theke mit meinen Händen in der Hosentasche. Die Blondine kommt näher, sie lächelt breit und ihr Eyeliner ist dick. "Was kann ich für dich tun?", fragt sie.
"Eigentlich bin ich hier, um etwas zu holen. Ein Buch, das ich gestern hier vergessen habe." Meine Stimme zittert und klingt unsicher.
Für einen Moment schaut sie verwirrt aus, doch dann zeigt sie mit einem Finger auf mich. "Oh! Du bist es! Du bist das Mädchen!" Ihre Aufregung mischt sich mit meiner Verlegenheit.
Bevor ich irgendetwas sagen kann, schreit sie: "Trent!" Ohne nachzudenken ducke ich mich und sie bemerkt es. Die Frau lächelt mich wissend an und ich versuche mich gerade hinzustellen, auch wenn mein Körper aus dem Laden rennen will und das Notizbuch vergessen will.
Wie gerufen kommt Trent aus dem Hinterzimmer. Er trägt heute ein weißes T-Shirt und eine blaue Schürze. Seine Jeans ist dunkel und an den Knien leicht zerrissen, aber nicht absichtlich. Heute sieht er mit seinem verwuschelten, blondierten Haar, das seine Ohren bedeckt, etwas lässiger aus.
"Du!" Er zeigt auf mich mit einem breiten Lächeln. Was haben sie heute alle mit dem Zeigen?
Ohne zu wissen, was ich sagen soll, antworte ich mit: "Ja, ich bin's!" Ich hatte vor ruhig und gesammelt zu klingen, aber dem war nicht so. Anscheinend habe ich eine Maus im Hals, die meine Wörter in ein Quietschen verwandelt.
Er knotet seine Schürze auf und weist mich mit dem Finger an zu warten. Er legt sie auf den Tisch im Pausenzimmer und holt ein Buch vom Tisch. Mein Notizbuch. Er klemmt es sich unter den Arm, hält es, als würde es ihm gehören.
Trent berührt den Arm des blonden Mädchens. "Ich bin in ein paar Minuten zurück", sagt er zu ihr. Sie grinst uns beide an.
Mein Notizbuch ist wie ein Feuerwerk in seinen Armen und es macht mir Angst.
Trent kommt hinter der Theke hervor und berührt meinen Arm. Er ist zärtlich. Das mag ich. "Magst du Kaffee oder Tee, irgendwas?", bietet er an. Ich hätte liebendgern einen Green Tea. Als ich meinen Mund öffne, um einen zu bestellen, erinnere ich mich daran, dass mein Vater auf mich im Auto wartet.
"Nein, passt schon. Aber danke." Ich lächle.
Er führt uns zu einem Tisch im vorderen Teil des Cafés und ich richte meine Augen auf das Notizbuch. Er bemerkt es. Er setzt sich mir gegenüber und legt das Buch auf den Tisch.
Sobald er es zwischen uns abgelegt hat, greife ich danach. Er ist schneller als ich, nimmt es mir weg und drückt es sich an die Brust.
"Noch nicht", sagt er mit einem Lächeln. Seine Augen sind dunkelgrün und von dicken blonden Wimpern umrandet.
Er lehnt sich vor, so dass er kaum noch auf dem Stuhl sitzt. "Hast du das alles geschrieben?"
Ich nicke und schlucke. "Ja, deshalb gib es mir zurück." Ich lache ungeschickt. Er muss sie gelesen haben.
Seine Augen werden groß und sein Lächeln nimmt sein halbes Gesicht ein. "Wow." Er kratzt sich leicht mit der freien Hand übers Gesicht. "Wow. Sie sind so . . .", er macht eine Pause, "so gut."
Ich kann die Hitze unter meinen Wangen spüren. Seine grünen Augen hören einfach nicht auf mich anzustarren. "Danke." Ich greife wieder nach dem Buch. Er zieht es zurück.
Er hebt eine Hand hoch, um mir zu sagen, dass ich geduldig sein soll. "Beinahe." Ich starre zurück, hasse und liebe gleichzeitig den Mut dieses Fremden mit der zerrissenen Jeans.
"Versprichst du mir etwas?", fragt er und hebt seine dunklen Augenbrauen.
Ich lache und zapple auf meinem Stuhl. "Damit ich das richtig verstehe", ich schaue geradewegs in seine Augen und fahre fort, "du stellst mir eine Bedingung, damit ich mein Eigentum zurückbekomme?" Sein Grinsen lässt meinen Ton am Ende ein wenig sanfter werden.
Ein Paar sitzt am kleinen Tisch neben uns und Trent senkt seine Stimme. "Wenn das klappt, dann schon", lacht er. Der Klang seines Lachens ist warm und süß wie Honig.
"Deinem Blick nach zu urteilen, wird das mit dir nicht klappen. Was hältst du davon, wenn du mir stattdessen zuhörst und ich dir dein Notizbuch gebe? Deal?" Er öffnet das Buch auf einer beliebigen Seite und ich halte den Atem an. Ich bin nicht so ängstlich, wie ich dachte. Ich bin mehr auf seine Meinung gespannt als gekränkt.
Seine Finger fahren über die schwarzen Linien der Seite. Ich erinnere mich an dieses Gedicht, Zuflucht. Ich erinnere mich, wie ich einen Haufen Efeu an den Rand der Seite gemalt habe. Die Wörter schauen unter seiner Berührung eleganter aus.
"Dieses hier." Er tippt auf das letzte Wort der achten Zeile, sicher. Ich erröte vor Freude. Ich liebe dieses Gedicht. Ich denke an den Schmerz, den ich gefühlt habe, als ich von einer Mutter schrieb, die ihr junges Kind verloren und nach viel Schmerz endlich Frieden gefunden hat.
Ich bleibe ruhig, auf Trents Wörter wartend. "Es ist so traurig, dass ich letzte Nacht sogar Albträume hatte."
Ich kaue auf meiner Unterlippe herum. "Danke?" Ich lehne mich zurück und er lehnt sich näher zu mir und schlägt eine andere Seite auf.
"So, zurück zu unserer Abmachung und deinem Versprechen. Du musst mir versprechen, dass du etwas damit machen wirst." Er muss meine Unsicherheit bemerkt haben, weil er schnell hinzufügt: "Es muss nicht jetzt sein, aber bitte verschwende diese Wörter nicht." Jetzt hat er Kulleraugen, weit und grün und ehrlich und lieblich.
Der Inhalt seines Versprechens überrascht mich. Ich habe nicht darüber nachgedacht, was sie für einen Effekt haben würden, aber ich habe nicht erwartet, dass diese von einer Fremden niedergeschriebenen Wörter seine Gefühle so beeinflussen.
Trent redet wieder, bevor ich es tun kann. "Willst du sie vortragen oder nur aufschreiben?"
Will ich das mit ihm teilen?
Ich entscheide mich, ihm meine Bedingung zu stellen. "Erzähl mir etwas über dich, das niemand weiß, wenn ich deine Frage beantworten soll", sage ich. Er grinst, führt seine Hände zusammen und bewegt seine Finger, wie als wäre unsere Verhandlung mehr als ein albernes Spiel zwischen zwei Fremden in einem Coffee Shop.
"Hmm." Er benutzt seinen Zeigefinger, um auf seine vollen Lippen zu tippen. Ich versuche nicht zu starren. Trent wendet den Blick von mir ab, sein Gesicht in Konzentration gehüllt. Ich liebe es, wie ernst er das nimmt.
Nach mehreren Sekunden, spricht er. "Ich habe Angst meinem Onkel zu sagen, dass ich diesen Laden nicht übernehmen will."
Ich habe einen Witz erwartet, wie zum Beispiel, dass er drei Nippel hätte oder dass sein zweiter Name Bartholomeus sei.
So einen ehrlichen Satz habe ich aus seinem Mund nicht erwartet.
"Wieso hast du Angst?", frage ich ihn. Das interessiert mich echt. Schnell führe ich die Teile des Trent Puzzles zusammen. Er arbeitet als Barkeeper im Laden seines Onkels. Er ist witzig und lächelt viel. Er duftet nach Sommer und Regen und wenn seine grünen Augen das Gras sind, dann ist seine Stimme die Luft. Eine frische, ruhige Brise.
Er seufzt und reibt seine Hände gegen die zerrissenen Jeans. "Ich wollte mehr machen, weißt du? Dieser Laden ist toll, ich liebe ihn wirklich, aber ich will hier nicht für immer arbeiten. Dieses Gebäude gehört meiner Familie seit . . . Nun, seit immer." Er lacht halb und seine Wangen nehmen einen Rotton an. Ich fühle, wie er versucht mich zu lesen. "Wieso rede ich so viel? Ich hätte dir erzählen sollen, dass mein echter Name Tutu ist oder so." Er schaut mir nochmal in die Augen.
"Du siehst mehr wie ein Bartholomeus aus als wie ein Tutu." Ich lache und sein Gesicht bricht in das wärmste Grinsen aus, das ich jemals gefühlt habe. Ich höre, wie die Wörter in meinem Kopf Gestalt annehmen. Sonnenschein und Haut, von der Sonne geküsst. Gelbe Blumen und grünes Gras.
Als unser Gelächter langsam abbremst und ich ihm gerade einen unbrauchbaren Ratschlag geben will, kommt mein Dad durch die Tür. Ich lehne mich auf meinen Stuhl zurück und erinnere mich nicht einmal, wann ich mich das erste Mal so weit zu Trent gelehnt habe.
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