V


Gewidmet lynxheart07, die uns mit Koffer und Regenschirm die unbestimmte Desorientierung nahebringt, die uns im Herbst manchmal überfällt

Thesas Gehirn fühlt sich seltsam leer an, als sie den Ankömmling näherkommen sieht. Die schlaksige, zu schnell gewachsene Figur; die braunen Locken, welche dringend geschnitten gehören; diese Art, beim Gehen die Füße in einer Linie zu setzen („Er schnürt wie ein Fuchs", hat Andres immer gesagt); die in den Gürtel gesteckten Daumen, als wisse der Besitzer nicht, wohin sonst mit den Händen – es ist alles so vertraut. Und gleichzeitig so unwirklich wie ein Traum. Thesa zweifelt an dem, was sie sieht, zweifelt, ob sie überhaupt wach ist. Unzählige Male hat sie sich diese Szene ausgemalt; sie kann einfach nicht auf einmal wahr georden sein.

Sanna hingegen hat keine Zweifel. Kaum hat sie den Neuankömmling erkannt, schreit sie auf: „RUUUUBEN!" Schon ist sie bei ihm, umhalst ihn so heftig, dass er taumelt. Aber er fasst sich schnell und nimmt die Schwester in die Arme. Klammert sich fest an sie, birgt sein Gesicht in ihrem Haar, damit er Thesa nicht ansehen muss.

Thesa setzt sich jetzt auch in Bewegung. Jeder Schritt ist eine kaum zu bewältigende Anstrengung. Aber sie zwingt sich, weiterzugehen; auf die Gefahr hin, dass diese schöne Vision vor ihren Augen zerfließt, sobald sie sie erreicht. So ist es immer, wenn sie davon träumt. Warum sollte es jetzt anders sein?

Ruben scheint es ähnlich zu gehen; mit der kleinen Schwester im Arm macht er einige kleine und doch entschlossene Schritte auf Thesa zu. Sein Gesicht ist sehr ernst, doch ein Mundwinkel zuckt, als er Eleni am Zaun stehen sieht, mit aufgerissenen Augen und vor den Mund geschlagenen Händen, sichtlich bemüht, ja nicht zu stören.

Doch dann sieht er Thesa an. Unsicher, zitternd, beinahe ängstlich. Und so klingt auch seine Stimme, als er fragt: „Mama – bist du mir noch sehr böse?"

„Böse?", Thesa spricht abwesend, wie in einem Traum. „Warum sollte ich dir böse sein?" Sie versteht es nicht. Sie ist es doch, die nicht auf ihr Kind aufgepasst hat. Sie hat keinen Grund, Ruben zu zürnen, den sie selbst mit ihrem Leichtsinn in Lebensgefahr gebracht hat.

„Wegen der Dummheit mit den Herbstzeitlosen. Nur darum konnte Papa mich dir wegnehmen. Ich wusste ja, dass er nach einer Gelegenheit suchte – und ich hab sie ihm dann auch noch gegeben." Ruben spricht bitter, mit Hass erfült gegen Achim - und sich selbst.

Allmählich begreift Thesa, dass dies hier kein Traum ist. Dass ihr Sohn wahrhaft und leibhaftig vor ihr steht. Sie streckt die Arme nach ihm aus. „Dafür konntest du doch nichts. Wenn jemand an der ganzen Sache unschuldig ist, dann bist das du!" Es kommt spontan und überzeugt heraus. Ruben begreift, dass sie niemals ihm die Schuld gegeben hat. Achim hat ihm oft gesagt, Thesa wolle ihn nicht mehr sehen, weil Ruben so leichtsinnig gewesen sei. Und ihn nie mehr auf die Alm mitnehmen, die Ruben so sehr zu lieben gelernt hat wie Thesa. Aber wie sich die Herbstzeitlosen gegen den kommenden Winter sperren, hat sich Ruben dieser Behauptung widersetzt. Gegen den nagenden Zweifel jedoch ist er machtlos gewesen. Nun aber hat Thesa auch das ausgelöscht.

Sanna rutscht hastig unter seinem Arm hindurch, als ihr Bruder nun die letzte Distanz zu Thesa überwindet. Und dann hält Thesa ihr Kind endlich wieder in den Armen. Nach vier Jahren, in denen sie sicher war, Ruben für immer verloren zu haben. Sie drückt Ruben fest an sich, genießt es, den schmalen, kräftigen Körper an dem ihren zu spüren. Er ist sehr gewachsen, überragt sie mittlerweile um ein Weniges und riecht nicht mehr nach Erde und Farben wie damals, sondern nach neuem Leder und einem exklusiven Deo. Weder das Deo noch die teure Lederkluft, in der er steckt, hätte Thesa ihm kaufen können. Aber sie vermutet, dass es Ruben nicht wichtig ist.

Es dauert eine Weile, bis Thesa fragen kann: „Wieso kannst du jetzt hier sein? Hat Achim nachgegeben?"

„Der Arsch!", entfährt es Sanna. Hastig kneift sie die Lippen zusammen, aber Mutter und Bruder haben es beide gehört und grinsen. Beide mit diesem schiefen Feixen, das im rechten Mundwinkel beginnt und den linken Winkel im Gegensatz dazu nach unten zieht. Auch das haben beide Kinder von Thesa geerbt.

„Ich bin vierzehn", erklärt Ruben. Als ob Thesa das nicht wüsste! An jedem Geburtstag und Weihnachten hat sie Ruben ein Geschenk gesandt. Und nie erfahren, ob Achim es ihm jemals ausgehändigt hat.

„Ich darf jetzt selbst entscheiden, bei wem ich lebe. An meinem Geburtstag bin ich aufs Jugendamt und hab gesagt, ich will zu dir. Papa hat das nicht gepasst, aber er hat da nichts mehr zu sagen. Du musst jetzt nur noch unterschreiben, dass du das Sorgerecht übernimmst. Die Papiere hab ich mitgebracht."

„Das wird das erste sein, was ich tue, wenn wir unten sind!", versichert Thesa und Ruben lächelt. „Ja, sobald wir die Kühe abgetrieben haben! Lebt Frieda noch?", erkundigt er sich dann besorgt.

„Ja und wir haben sie schon aufkranzt. Mit deinem Bild!", Sanna zieht den Bruder zu Frieda hinüber, die ihn erfreut muhend begrüßt. Kühe haben ein gutes Gedächtnis.

Thesa blickt zu den Herbstzeitlosen unter dem Apfelbaum. Andres und Veit werden erneut die Erde abtragen müssen; denn auch wenn Sanna und Ruben nun um die Gefahr wissen, ist es noch immer möglich, dass eines der Rinder von ihnen frisst.

Aber nun kann Thesa die Herbstzeitlosen und ihren trotzigen Widerstand gegen den ermattenden Herbst und den kargen Winter wieder lieben. Seit Rubens Vergiftung hat sie den Herbst nur noch als Abschied von allem gesehen, was ihr lieb und wert ist. Nun aber hat  gerade der Herbst ihr Ruben zurückgebracht.

Die Herbstzeitlosen haben recht behalten. Nicht immer bedeutet der Herbst auch gleichzeitig Abschied. Manchmal steht er für einen Neuanfang.

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