52. Regentage

Danke für deinen tollen Text -novemberregen

Vorwort
Mobbing, Homophobie, Sexismus, Diskriminierung.
All diese Themen verkörpern noch immer ein (viel zu großes) Problem in unserer Gesellschaft, sie
sind noch lange nicht auch nur in einem geringen Maße verschwunden, geschwiege denn vollständig
behoben. Es existiert lediglich ein kaum erkennbarer, winzig, winzig kleiner Schritt in die Richtung
einer Besserung, der jedoch bei weitem nicht genügt. Er genügt noch nicht einmal ansatzweise.
So viele Menschen leiden täglich unter Sexismus oder Homophobie und bekommen immer wieder zu
spüren, dass sie anscheinend nicht erwünscht sind.
So viele Menschen verbringen ihr Leben in ständiger Angst und Selbstzweifeln, dabei sind sie die
letzten, die sich zu ändern haben.
So viele Menschen sehen in ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg mehr und
nehmen sich das Leben.
Und so frage ich euch: Sieht so die Welt aus, in der ihr euer Leben verbringen möchtet?
Meine Antwort lautet nein. Nein, das tut sie nicht. Nicht im Geringsten. Also habe ich beschlossen,
etwas zu ändern. Ich habe beschlossen, nicht länger tatenlos zuzusehen, während andere Menschen
leiden und grundlos unterdrückt werden.
Wir können etwas tun, wie klein es uns auch erscheinen mag. Vielleicht sehen wir es nicht, aber es ist
von Bedeutung. Es ist ein Anfang, nach tausend und abertausend Enden.
Und es ist an der Zeit, es ist so dringend an der Zeit, dass endlich einmal etwas verändert wird. Denn
so kann es nicht weitergehen. Nicht so, wenn unendlich viele Menschen leiden müssen. Und das
grundlos.
Ich hoffe, dass ich hiermit jemandes Augen öffnen kann. Ich hoffe es wirklich.
Widmung
Für alle, die es brauchen.
Ihr seid nicht allein und ihr seid vor allen Dingen nicht verkehrt. Nicht ihr seid es, die sich zu ändern
haben, sondern diese Welt muss es tun; diese unendlich kalte und schreckliche Welt.
Vergesst das nicht. Niemals.

+++

Wenn man Harry fragen würde, welcher Mensch sein Leben am meisten berührt hat, dann würde
Louis Tomlinson wohl zuerst in seine Erinnerung treten.
Und vielleicht würde er euch eine Geschichte erzählen.
Die Geschichte von ihm und diesem Jungen, der eines Tages einfach in sein Leben trat und mit
seinem blauen Augen seine Gedanken und sein Herz nicht mehr verlassen wollte.

000.
„Harry?"
„Ja?"
„Wer war deine erste Liebe?"
„Meine erste Liebe? Um Himmels Willen, das ist ja ewig her."
„Egal. Erzähl; mir von ihr. Was ihr zusammen unternommen habt, wie du dich gefühlt hast, wer sie war."
„Oh, wenn du wüsstest, honey. Wenn du wüsstest..."

001.
„Mama, warum trägt der Mann dort einen Rock? Darf er es denn?"
„Aber natürlich, mein Schatz. Jeder darf einen Rock tragen. Jeder, verstehst du? Daran ist nichts
falsch und nichts anders."
„Ist er dann schwul?"
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Weißt du, nicht jeder Mann, der einen Rock trägt, ist schwul – und nicht jeder Mann, der schwul ist, trägt einen Rock."
„Ist es schlimm, schwul zu sein?"
„Nein, das ist es nicht. Es ist völlig okay. Weil Liebe immer Liebe ist. Und dabei macht es keinen
Unterschied, ob es nun zwei Mädchen, zwei Jungen oder ein Junge und ein Mädchen sind, die sich lieben. Das Geschlecht ist gar nicht so wichtig, weißt du? Wenn du dich später einmal in einen Jungen verliebst, dann ist das genauso schön, wie wenn es ein Mädchen ist. Liebe ist nämlich immer etwas Schönes, ganz egal in welcher Form."
„Okay, Mama. Dann glaube ich, dass ich mich in einen Jungen verliebt habe."
„Wirklich? In wen denn? Geht er in deine Klasse?"
„Nein, er ist schon in der zweiten Klasse. Aber ich habe Angst, es ihm zu sagen. Was ist, wenn er mich auslacht?"
„Du musst es ihm auch noch gar nicht sagen. Schau doch erst einmal, was passiert. Vielleicht mag er dich ja auch..."
„Und wenn nicht?"
„Dann bin immer noch ich da, die dich mag."
„Aber du bist ja auch meine Mama."
„Na und?"
„Ich hab' dich lieb."
„Ich dich auch."
Harry blickt einige Momente gedankenversunken aus dem Fenster.
„Er heißt Louis", flüstert er dann.
Und lächelt.

002.
„Mama, ich habe gestern mit Louis zusammen Fußball gespielt!"
„Das ist schön, mein Schatz!"
„Er hat gesagt, dass ich gut bin."
„Da hat er Recht."
„Mama?"
„Ja, Harry?"
„Glaubst du, dass ich ihn mal zu mir nach Hause einladen kann?"
„Natürlich kannst du das. Hast du dir denn schon überlegt, was du dann mit ihm machen würdest?
„Vielleicht einen Film schauen? Oder wir backen Pizza! Wir können auch Verkleiden spielen..."
„Ihr könnt ja alles davon machen... Wenn du ihn für Freitag einladen würdest, könntet ihr sogar bis halb Neun aufbleiben, weil am nächsten Tag keine Schule ist."
„Oh ja, ich werde ihn morgen gleich fragen!"
Anne lacht und streicht ihrem Sohn über den Kopf.
Sie ist stolz auf ihn, denn er hat verstanden, dass es keinen Unterschied macht, ob wir uns in einen Jungen oder ein Mädchen verlieben.
Sie wünscht sich nur, dass dieser Louis das auch verstehen wird.

003.
„Louis?"
„Eye, eye, Käpt'n!"
Harry lacht ein wenig zittrig und dann nimmt er seinen ganzen Mut zusammen, um das zu fragen, was er sich schon den ganzen Tag vorgenommen hat.
„Hast du am Freitag Zeit?"
„Ja, warum?"
„Ich dachte..."
„...dass ich dich da besuchen könnte?"
„Ja, genau, woher weißt du das?"
„Weil ich Gedanken lesen kann" „Echt?" Harry macht große Augen. „Das glaube ich dir nicht!"
„Es stimmt aber!"
„Dann sag mir doch, was ich gerade denke."
„Du denkst, dass ich hübsch aussehe."
Ja, das hatte Harry wirklich gedacht...
„Stimmt nicht! Ich habe gedacht, dass du wie eine riesige Nacktschnecke aussiehst..."
„Na warte..."
Harry quietscht und will weg rennen, aber Louis ist schneller. Er packt ihn, hält ihn fest und kitzelt ihn durch.
„Ich kann nicht mehr! Hör auf, Louis, bitte!" presst Harry zwischen Lachsalven hervor und Louis gibt schließlich nach.
„Na gut. Aber nur, wenn du zugibst, dass du gelogen hast."
Harry verdreht gespielt die Augen. „Ich habe gelogen.", sagt er und fügt leise ein Nicht hinzu.
Louis lacht.
„Du bist selber eine riesige Nacktschnecke!"
„Und du bist ein Schlammmonster!"
„Dafür bist du so dick wie Asterix!"
„Der Dicke von den beiden ist Obelix!"
„Nein, Asterix!"
„Nein, Obelix!"
„Nein, Asterix!"
„Halt die Klappe"
„Halt doch selber die Klappe!"
„Selber, selber, rufen alle Kälber..."
Beide fangen haltlos an zu lachen und Harry weiß, denkt er, als Louis zu ihm blickt und lächelt, dass er diesen Jungen vor ihm wirklich sehr, sehr gerne hat.

004.
„Woher wusstest du denn jetzt, was ich fragen wollte?" will Harry von Louis wissen.
Dieser schaut etwas verlegen nach unten. „Weil ich dich den ganzen Tag dasselbe fragen wollte."
Und Harry kann sein Glück kaum fassen. Manchmal bedarf es nur weniger Worte, um jemanden
rundum glücklich zu machen.
Noch weiß Harry nicht, dass es im Umkehrschluss auch nur wenige Worte sind, die ein ganz großes Glück zerstören können.

005.
„Mama, Louis hat ja gesagt!"
Harry kann es nicht fassen und hüpft vor lauter Freude auf und ab.
Anne lächelt, als sie ihn betrachtet.
Mit seinen sechs Jahren ist es sicher keine Liebe, die ihr Sohn für den anderen Jungen empfindet.
Vielleicht ist es nicht einmal Verliebtheit. Aber es ist eine kleine Schwärmerei und es macht sie
glücklich, ihren Sohn so zu sehen.
Es macht ihr aber auch Angst.
Denn sie weiß, wie diese Welt sein kann. Sobald man ein wenig anders ist, als die Norm es von einem verlangt, wird man früher oder später untergehen. Und Harry ist schon immer ein wenig anders gewesen. Für sein Alter ist er erstaunlich selbstkennend und vor allen Dingen reif. Er versteht Dinge, über die sie selbst damals gar nicht einmal nachgedacht hatte.
Ja, Anne Styles hat ein wenig Angst um ihren Sohn.
Und das zu Recht, wie sie Jahre später noch erfahren soll.

006.
„Was wollen wir für eine Pizza backen?" fragt Harry und blickt den Älteren erwartungsvoll an.
„Du darfst es entscheiden.", sagt Louis und lächelt leicht.„Dann bin ich für Pizza Hawaii. Das ist nämlich meine Lieblingspizza..."
„Die kann ich nicht essen."
„Warum denn nicht? Hast du etwa eine Hawaii-Allergie?"
„Gibt es so eine Allergie denn?"
„Natürlich. Es gibt gegen alles eine Allergie. Sogar gegen Luft."
„Oh."
„Ja."
„Gibt es auch eine Allergie gegen Wasser?"
„Ja. Die müssen dann immer Tee trinken. Oder Kakao. Oder Saft. Oh, oder Cola."
„Dann hätte ich gerne eine Wasser-Allergie. Da dürfte ich den ganzen Tag Cola trinken."
„Cola ist aber ungesund."
„Pizza doch auch."
„Ist egal, Pizza ist lecker!"
„Cola auch!"
„Nein, Cola ist nicht lecker! Saft schmeckt viel besser!"
„Du lügst!"
„Nein, tue ich nicht!"
„Lügner!"
„Selber Lügner!"
„Jungs", unterbricht Anne die beiden lächelnd. „Jeder hat eine eigene Meinung. Der eine findet eben Cola leckerer, der andere mag Saft mehr. So ist es doch mit allem im Leben. Und das ist auch völlig okay so. Es müssen nicht immer alle derselben Meinung sein oder das gleiche gut finden und man kann auch gar nicht für alle festlegen, was denn zum Beispiel besser schmeckt. Jeder ist eben individuell und verschieden."
„Was ist ‚inividell'?" fragt Harry und Anne muss lächeln. Eigentlich muss sie schon die ganze Zeit über die beiden lächeln. Wasser-Allergie, also wirklich! Die beiden erinnern sie immer wieder daran,
weshalb Kinder so viel glücklicher sind, als Erwachsene. Erwachsene verkomplizieren immer alles. Es
ist doch zum Beispiel gar nicht so wichtig, in welches Geschlecht man sich nun verliebt und für ein
Kind spielt das auch gar keine Rolle. Nur Erwachsene, Erwachsene müssen immer aus allem eine
große Sache machen.
„Es heißt nicht ‚inividell'!", verbessert Louis ihm. „Es heißt ‚indiduell'!"
Anne lacht wieder. „Ihr habt beide nicht Recht. Es heißt ‚individuell'. Soll ich euch sagen, was das
bedeutet?"
„Du musst es uns nicht sagen.", behauptet Harry. „Louis kann nämlich Gedanken lesen."
„Oh! Stimmt das denn?" fragt Anne Louis und dieser guckt ein bisschen schüchtern. Er ist zuckersüß.
„Ja."
„Und was bedeutet ‚individuell' nun?"
Louis überlegt. „Es bedeutet, wenn man Schokolade mag.", sagt er dann.
„Dann bin ich inidiell!", ruft Harry und Anne verkneift es sich, ihn zu verbessern.
„ich auch!", stimmt Louis ihm zu und sie schauen sich an und lachen.
Ja, Erwachsene verkomplizieren wirklich immer alles... Warum können sie nicht einfach jeden
‚inidiell' sein lassen, ohne ihn dafür zu verurteilen? Was ist denn schon groß dabei, wenn ein Mensch
einen anderen liebt? Anne hat es noch nie verstanden. In dieser Hinsicht ist sie wohl ein Kind
geblieben. Denn Erwachsen-sein heißt heutzutage anscheinend, alles und jeden in einem fort zu
diskriminieren.
Wenn nur alle auf dieser Welt noch Kinder wären...

007.
„Können wir jetzt Pizza Hawaii machen? Biiiiitte!"
„Die ist aber mit Fleisch und ich bin ein Vegetarier."
„Was ist ein Vegetarier?"
„Das ist jemand, der kein Fleisch isst."
„Und warum isst er kein Fleisch? Hat er eine Allergie dagegen?"„Nein. Aber er möchte nicht, dass Tiere für sein Essen sterben mussten. Tiere haben doch genauso
sehr ein Recht darauf zu leben wie wir."
„Oh.", macht Harry nur. So hat er noch nie darüber nachgedacht. Aber Louis hat Recht, findet er. Und
er mag ihn jetzt nur noch mehr. Es ist toll, dass er auf etwas Leckeres verzichten kann, weil er es nicht
unterstützen möchte.
„Ich bin auch ein Vegetarier", beschließt er.
Anne lächelt ihn an.
Menschen sind doch komische Geschöpfe, denkt sie. Sie regen sich darüber auf, wenn ein Junge
einen anderen liebt, aber Tiere töten und essen sie. Man darf also nicht lieben, aber Abschlachtung
hingegen ist okay? Was davon ist denn schlimmer; Liebe oder Mord? Ginge man nach der heutigen
Zeit, fiele die Wahl wohl auf das erstere...
Ja, Menschen sind in der Tat komische Wesen.

008.
Sie machen eine Mehlschlacht. Die ganze Küche ist schon weiß von dem Mehl und das Braun von
Louis' Haaren ist durchsetzt von grauen Strähnen.
Aber dann fällt Harry hin und stößt sich den Kopf am Tischbein.
Er fängt an zu weinen und Anne rennt zu ihm und nimmt ihn in den Arm.
Louis sieht betreten zu, dann ruft er: „Harry ist ein Mädchen, Harry ist ein Mädchen!"
„Warum?", fragt Anne ihn, obwohl sie die Antwort bereits kennt.
„Weil er weint.", erklärt Louis ihr.
„Jungs dürfen auch weinen. Es ist überhaupt nichts Schlimmes, zu weinen. Und absolut jeder hat das
Recht dazu. Erinnere dich doch mal an eine Situation, in der dir etwas weh getan hat. Hast du da
denn etwa nicht geweint?"
„Doch, hab' ich."
„Na, siehst du."
„Es tut mir leid, Harry, okay? Jeder darf weinen und ich weine auch manchmal. Ich hab's nicht so
gemeint."
„Entschuldigung angenommen."
„Hab' dich lieb, Harry."
„Hab' dich auch lieb, Louis."
Anne betrachtet die beiden lächelnd. Nur zu gerne würde sie wissen wollen, ob aus dem Ich hab' dich
lieb irgendwann ein Ich liebe dich werden könnte. Für Harry hofft sie es so sehr.

009.
„Louis?", flüstert Harry, als sie beide schon im Bett liegen und es nur noch das Licht des Mondes ist,
das durch das Fenster fällt und den kleinen Raum erhellt.
„Eye, eye, Käpt'n!"
„Willst du mein bester Freund sein?"
„Ja. Willst du auch mein bester Freund sein?"
„Ja, will ich."
„Gut. Dann sind wir jetzt beste Freunde."
„Gute Nacht, bester Freund."
„Selber gute Nacht, bester Freund."

010.
„Anne?"
„Was ist denn, Louis?"
„Ich hab' eingepullert."
„Das ist doch nicht schlimm. Das passiert eben manchmal."
„Bitte verrat' es Harry nicht, ja?"
„Das muss dir doch nicht peinlich sein, Lou! Harry pullert auch manchmal noch ein."
„Aber er ist auch vor kurzem erst sechs geworden. Ich bin schon sieben." „Es ist trotzdem nicht schlimm."
„Aber Harry soll es nicht wissen."
„Du magst ihn, oder?"
„Ja."
„Sehr?"
„Er ist mein bester Freund. Obwohl ich ihn noch gar nicht so lange kenne."
„Und soll ich dir was verraten?"
„Ja, was denn?"
„Du bist auch Harrys bester Freund."
„Das weiß ich doch."
„Na siehst du. Und seinen besten Freund lacht man nicht aus. Auch nicht, wenn er mal eingepullert
hat. Verstehst du?"
„Ja."
„Weißt du, Louis", sagt Anne nach einigem Schweigen. „Eigentlich lacht man niemanden aus. Denn
jeder darf selber entscheiden, wie er sein und was er tun möchte. Und nur, weil du das vielleicht
komisch findest, hast du dann trotzdem nicht das Recht, ihn dafür auszulachen. Du musst es ja auch
gar nicht verstehen, aber du musst es akzeptieren. Und du verletzt ihn, wenn du über ihn lachst."
„Was ist ‚akzeptieren'?"
„Das bedeutet, dass du eine Person annimmst und sie so sein lässt, wie sie eben ist und sein möchte,
ohne dich darüber lustig zu machen. Also wenn jemand zum Beispiel gerne mit Autos spielt und du
selber Autos gar nicht magst, dass du ihn dann nicht auslachst oder ärgerst, sondern ihn eben einfach
weiter mit den Autos spielen lässt, weil es ihn nun einmal glücklich macht. Jeder ist verschieden,
weißt du? Und deshalb mag auch jeder andere Dinge mehr und hat andere Vorlieben. Und nur, weil
man selbst das anders sieht, darf man dann trotzdem nicht fies zu jemandem sein."
„Genau", sagt Louis und plötzlich kann Anne ihm direkt ins Herz sehen. Seine folgenden Worte
berühren sie ungemein.
„Wenn man gemein ist, dann macht man jemanden traurig. Aber es soll niemand traurig sein. Wenn
niemand auf der ganzen Welt irgendjemanden traurig machen würde, dann wären alle glücklich.
Aber es sind nicht alle glücklich, oder? Meine Mama zum Beispiel ist nicht glücklich. Sie weint ganz
oft, aber sie will mir nicht sagen, was sie traurig macht. Warum machen Menschen das? Warum
machen Menschen andere Menschen traurig, wenn doch alle glücklich sein könnten?"
Ach, Louis, denkt Anne und streicht ihm übers Haar. Es ist nicht so einfach, Louis. Jeder trägt Leid in
sich, als wäre es die Essenz, die uns an dieses Leben bindet und schlussendlich auch zu Fall bringt. Sind
wir nicht alle auf die ein oder andere Art und Weise gebrochen?
Nur die Kinder nicht, verbessert sie sich und betrachtet Louis. Er hat ernst gemeint, was er gesagt hat;
sie erkennt es an seinem Blick.
„Manche Menschen sind selber traurig", versucht sie ihm zu erklären. „Und da geht es ihnen
manchmal besser, wenn sie andere genauso fühlen lassen."
„Aber warum? Wenn man andere Menschen glücklich macht, dann wird man doch selbst auch ein
bisschen glücklicher."
Oh, würde nur die ganze Welt so denken wie Louis Tomlinson. Dann wäre sie wohl wahrhaft ein
schönerer Ort – und wohlgemerkt auch einer ohne jegliche Form von Diskriminierung.

011.
„Aufstehen, bester Freund, das Frühstück ist fertig! Ich hab' eingepullert, aber du lachst doch nicht
über mich, oder? Das macht man nämlich nicht. Jeder ist indiduell und deshalb denkt jeder anders,
das hat Anne mir gesagt. Man darf sich nicht über jemanden lustig machen, weil jeder so ist, wie er
ist und auch gut so ist, wie er ist. Anne hat gesagt, wir sind alle gleich viel wert, egal, wer wir sind und
wie oft wir eingepullert haben. Du lachst also nicht, oder? Es tut mir auch leid, dass ich gestern über
dich gelacht habe, das war gemein. Ich wollte dich nicht traurig machen."
Harry setzt sich verschlafen auf und blinzelt gegen das grelle Sonnenlicht, das in sein Zimmer scheint.
„Du lachst nicht, oder?", plappert Louis weiter und sieht Harry erwartungsvoll an.
„Nein", beruhigt Harry ihn müde. „Gut!", ruft Louis fröhlich. „Sonst hätte ich dich ‚Idiot' genannt."
„Dann hätte ich dich ‚Blödmann' genannt"
„Und ich dich ‚Affe'"
„Dann hätte ich dich ‚Dumme Kuh' genannt"
„Und ich hätte ‚schwul' zu dir gesagt"
„Was ist schwul?", fragt Harry, obwohl er es weiß. Aber er möchte wissen, ob Louis es auch wirklich
selber weiß, denn wenn er es tut, dann möchte Harry nicht mehr sein bester Freund sein. Er möchte
nicht, dass der, der sein bester Freund ist, es komisch findet, wenn zwei Menschen sich lieben. Anne
hat oft genug mit Harry darüber geredet.
Louis beugt sich vor und flüstert leise, fast so, als würde er ihm ein Geheimnis verraten: „Ich weiß es
nicht so genau. Meine Schwester sagt das immer zu mir, wenn wir ‚Das Schimpfwort-Spiel' spielen
und wenn ich sie frage, was das ist, dann sagt sie, das bedeutet, wenn zwei Jungen sich lieben."
„Warum ist es dann ein Schimpfwort?", fragt Harry ihn.
„Ich weiß nicht. Ist es denn eines?"
„Nein", sagt Harry fest. „Anne hat gesagt, dass es völlig okay ist, als Junge einen anderen Jungen zu
lieben."
„Dann glaube ich Anne und nicht meiner Schwester. Anne hat immer Recht. Und sie weiß ganz viele
Sachen. Meine Mama weiß nicht so viele Sachen. Sie redet auch gar nicht so oft mit mir."
„Warum nicht?"
„Weil sie ganz oft traurig ist."
„Und warum ist sie traurig?"
„Ich weiß es nicht."
„Du musst versuchen, sie wieder glücklich zu machen!"
„Aber wie soll ich das machen?"
„Vielleicht... kaufst du ihr Schokolade? Jeder mag Schokolade."
„Meine Schwester nicht. Sie sagt, Schokolade macht dick."
„Ist es schlimm, dick zu sein?"
Louis überlegt. „Nein", sagt er.
„Na, siehst du", sagt Harry. Das hat er sich von Anne abgeschaut.
„Ich kenne eine Frau, die ist ganz dick, aber dafür auch ganz lieb; und sie sieht trotzdem schön aus.
Sie redet immer mit mir und manchmal, wenn es mir nicht so gut geht, dann nimmt sie mich in den
Arm. So wie Anne. Meine Mama nimmt mich nie in den Arm."
„Nimmst du deine Mama denn manchmal in den Arm?"
„Auch nicht"
„Das musst du mal machen. Vielleicht geht es ihr dann besser."
„Aber wir kaufen trotzdem Schokolade, ja?"
„Ja."
Sie gehen ins Wohnzimmer, wo Anne vor dem Fernseher sitzt. Harry denkt daran, dass Louis der
Meinung war, ‚schwul' wäre ein Schimpfwort und dass seine große Schwester ihm das anscheinend
so beigebracht hat. Er versteht die Menschen nicht. Warum haben sie etwas dagegen, wenn zwei
Menschen sich lieben?

012.
„Anne? Dürfen wir Geld haben, um für meiner Mama Schokolade zu kaufen? Damit sie wieder
glücklich wird, weißt du. Und wir wissen schon, dass Schokolade dick macht, aber es ist nicht
schlimm, dick zu sein. Es geht ja auch gar nicht darum, wie man aussieht. Dicke Menschen sind auch
schön, so wie sie sind. Jeder ist indiduell und gut, so wie er ist, das hast du ja selber gesagt." Ja, Louis
Tomlinson ist manchmal eine kleine Plappertasche.
Harry mag es.
Anne lächelt Louis an. „Es heißt ‚individuell', Louis", erklärt sie ihm. „indiviell", wiederholt er und
redet gleich weiter: „Man darf auch nicht gemein zu dicken Menschen sein. Sonst macht man sie
traurig. Man muss ihnen zeigen, dass man sie schön findet, das freut sie."„Weißt du, Louis, Schokolade macht auch gar nicht so dick, wenn du sie nicht in Massen zu dir
nimmst. Und ihr habt ja nicht vor, deiner Mama dreißig Kilo an Schokolade zu kaufen, oder etwa
doch?"
„Nein, haben wir nicht."
„Na, siehst du. Und außerdem; das hast du schon richtig gesagt, es ist gar nicht schlimm, etwas
beleibter zu sein. Man sagt da übrigens auch nicht ‚dick', man drückt es etwas feinfühliger aus. Man
sagt einfach ‚etwas kräftiger', okay? Und außerdem, wer kann denn entscheiden, ab welchem Punkt
das dick-sein beginnt und ab welchem das dünn-sein? Wer kann denn entscheiden, welche Figur
‚normal' und ‚am Schönsten' ist?"
„Niemand", sagt Louis, der ihre Frage wortwörtlich und nicht rein rhetorisch aufgefasst hat. „Weil
‚normal' für jeden etwas anderes ist und weil jeder schön ist; auf seine eigene Weise – viele sehen es
oft nur nicht. Das hast du doch selber gestern Abend gesagt, erinnerst du dich nicht? Und außerdem
heißt es nicht ‚dick-sein'. Es heißt ‚etwas-kräftiger-sein'."
Anne Styles kann sich nur schwer ein Lachen unterdrücken. Wenn Louis nicht voll und ganz
bezaubernd ist, dann weiß sie auch nicht weiter.
„Da hast du Recht, mein Schatz", sagt sie und streicht ihm über den Kopf. „Da hast du Recht..."

013.
Es wurde zur Gewohnheit, dass Louis bei Harry war.
Es wurde zur Gewohnheit, dass sie die Pausen miteinander verbrachten.
Es wurde zur Gewohnheit, dass sie einander Spitznamen gaben.
Es wurde zur Gewohnheit, dass sie sich mitunter an den Händen hielten, dann, wenn sie sich sicher
waren, dass niemand zusah.
Es wurde zur Gewohnheit, dass sie sich manchmal auf die Wange küssten, einfach nur, um es mal
auszuprobieren.
Und es wurde zur Gewohnheit, dass sie manchmal spielten, sie wären verheiratet und würden
zusammen in einer Wohnung leben.
Und ja, Harry war glücklich. Er war es wirklich. Und er wusste, dass er Louis sehr, sehr gerne hatte. Es
war noch lange keine Liebe, sicher nicht. Dafür war er noch zu jung. Aber vielleicht, in einigen Jahren,
vielleicht konnte es dann zu Liebe werden. Harry wollte es gerne herausfinden. Und wenn er für eine
Person Liebe verspüren könnte, dann wäre Louis Tomlinson immer seine erste Wahl.

014.
„Hazza?"
„Eye, eye, Käpt'n!" Das hatte Harry sich von Louis abgeschaut.
„Kommst du mit zum Fußballspielen?"
„Ich kann nicht; Fuß gebrochen und so?"
„Oh, stimmt, hatte ich gerade vergessen. Tut mir leid."
„Alles gut."
„Geht es jetzt aber wenigstens oder tut es immer noch so Dolle weh?"
„ich schätze, ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt..."
„Na, siehst du." Das hatte Louis sich von Harry abgeschaut. „Ich bleibe trotzdem bei dir."
„Wirklich?"
„Wirklich. Das machen beste Freunde so."

015.
„Anne?"
„Ja, Louis?"
„Darf man sich in seinen besten Freund verlieben?"

016.
Louis sieht Harry an und plötzlich verändert sich etwas in ihm. Er kann nicht genau bestimmen, was
es ist; er weiß nur, dass es sich gut anfühlt.Er hat bisher nie bemerkt, dass Harrys Augen grün sind. Aber sie sind es. Jetzt fällt es ihm auf. Und er
fragt sich, wie er es einmal nicht hatte bemerken können. Denn es ist ein solch intensives Grün, dass
Louis für einen Moment nicht wegsehen kann.
Grün ist schon immer Louis' Lieblingsfarbe gewesen.

017.
„Ja, natürlich darf man sich in seinen besten Freund verlieben, Louis. Du weißt doch, dass Liebe
immer etwas wundervolles ist, egal, wem sie gilt. Es spielt überhaupt gar keine Rolle, ob es nun ein
Junge oder ein Mädchen ist. Und wenn es um Liebe geht, dann haben wir niemals eine Wahl. Wir
können nicht entscheiden, in wen wir uns verlieben. Und das müssen wir auch gar nicht. Weil es okay
ist. Es ist okay, als Jungen einen Jungen zu lieben und es ist genauso okay, als Junge ein Mädchen zu
lieben. Aber es ist schlussendlich auch egal, von welchem Geschlecht die jeweilige Person nun ist,
weißt du? Weil Liebe eben immer wundervoll ist."
„Das ist gut. Ich glaube, ich habe es nämlich getan."
„Und weiß dein bester Freund das?"
„Nein."
„Wirst du es ihm sagen?"
„Nein."
„Warum nicht, Lou?"
„Weil ich Angst habe."
„Wovor?"
„Davor, dass er mich auslacht."
„Sprichst du von Harry?"
„Ja, natürlich, von wem denn sonst?"
„Ich hatte nur sicher gehen wollen." Anne Styles macht eine kurze Pause, dann spricht sie weiter.
„Louis, du kennst Harry. Würde er dich jemals auslachen? Würde er das tun?"
„Nein. Harry würde das niemals tun."
Ja, Harry nicht, denkt Anne. Aber diese Welt, diese Welt würde es tun.

018.
„Hazza?"
„Eye, eye, Käpt'n!" Harry salutiert.
„Was würdest du sagen, wenn ich dir sagen würde, dassichinmeinenbestenfreundverliebtbin?"
„Hä? Was ich sagen würde, wenn du mir sagen würdest, dass du deinen Schuh ausgezogen hättest?"
„Nein!" Louis lacht schrill. Er ist nervös. Sehr nervös. „Was würdest du sagen, wenn ich dir sagen
würde, dass ich in..."
„...dass du in deinen besten Freund verliebt bist?"
„Ja, woher weißt du das?"
„Ich kann Gedanken lesen."
„Dann sag' mir, was ich gerade denke."
„Du denkst, dass ich hübsch aussehe."
„Du kleiner Nachmacher..."
Sie lächeln sich an und denken beide an diesen einen Tag vor so vielen Jahren.
„Ich wusste es, weil ich dir schon den ganzen Tag dasselbe sagen wollte."
Und Louis ist glücklich. Er ist es wirklich.
Harry ist es auch.

019.
Morgen ist Harrys zwölfter Geburtstag. Er freut sich auf die Geschenke, aber vor allen Dingen freut er
sich auf Louis. Denn dieser wird das ganze Wochenende über zu ihm nach Hause kommen. In letzter
Zeit wird ihm immer warm, wenn er an Louis denkt. Er beginnt dann, wie ein Idiot zu lächeln und
Löcher in die Luft zu starren. Seine Mama hat gesagt, so sei das, wenn man verliebt ist. Wenn das so
ist, das ist Harry gerne verliebt. Es ist ein schönes Gefühl. Und wie kann etwas falsch sein, dass sich sogut anfühlt? Er versteht diese Gesellschaft nicht. Wieso soll es falsch sein, als Junge einen Jungen zu
lieben; nicht aber, ein Mädchen zu lieben? Was macht es denn für einen Unterschied? Das Gefühl ist
doch immer dasselbe, oder etwa nicht? Aber eigentlich ist es Harry auch egal. Er braucht nicht zu
wissen, wie es ist, in jemand anderen verliebt zu sein, denn er ist gerne in Louis verliebt. Seit sie es
sich vor einem halben Jahr gesagt haben, hat sich äußerlich nichts in ihrer Freundschaft geändert.
Natürlich nicht. Sie sind beide noch jung. Aber dennoch; irgendetwas hat sich seit dem anders
angefühlt. Wenn Louis Harrys Hand nimmt, fängt es an zu kribbeln und wenn er ihn auf die Wange
küsst, dann bleibt die Stelle danach für eine kurze Zeit warm. Wenn Harry Louis ansieht, dann kann er
manchmal nicht wegsehen und wenn Louis seinen Blick erwidert, dann lächeln sie beide. Wenn Louis
ihn ‚Hazza' nennt, dann bedeutet Harry das mehr, als es das noch vor einigen Jahren getan hat und
wenn Louis nicht da ist, dann vermisst er ihn sehr viel schneller als früher.
Ja, jetzt kann man durchaus von Verliebtheit sprechen.
Harry würde gerne auch noch Liebe kennenlernen.

020.
„Anne?"
„Louis?" Louis ist jetzt dreizehn Jahre alt und Anne weiß, dass er nun schon ein großer Junge ist. Er
wird nicht mehr diese kindlichen Sachen fragen, wie noch vor einem Jahr.
„Darf ich dich was fragen?"
„Natürlich, das weißt du doch."
„Ich habe ein Gespräch zwischen meiner Mama und ihrem neuen Freund belauscht. Und sie haben
gesagt..."
„Was haben sie gesagt, Lou?"
„Sie haben gesagt, dass sie nicht akzeptieren werden, wenn ich schwul wäre."
Anne ist schockiert. Sie hat immer gewusst, dass Louis' Elternhaus ein doch recht schwieriges war;
schon allein wegen der Tatsache, dass Louis um die fünf Schwestern hat, dafür aber von seinem
Vater sitzen gelassen wurde. Louis hat ihn nie kennen gelernt. Und sie weiß, dass er sich manchmal
fragt, wer er ist, wo er sich im Moment aufhält, was er macht und weshalb er gegangen ist. Es ist
ähnlich wie mit Harrys Vater. Aber bei Harry ist es nicht ganz so schlimm, denn er hat immerhin noch
sie; Anne. Aber Louis, Louis hat auch zu Hause niemanden. Soweit Anne es weiß, trinken alle seine
Schwestern, gehen jeden Abend bis zum Morgengrauen feiern und kümmern sich so gut wie nie um
ihren kleinen Bruder. Und seine Mutter hat Depressionen. Das vermutet Anne zumindest, da Louis
immer davon erzählt, dass sie oft traurig ist und die meiste Zeit nur dasitzt. Im Moment scheint es ihr
aber wieder ein wenig besser zu gehen, denn sie hatte einen neuen Mann kennengelernt. Von dem
hatte Louis bisher noch nicht so viel erzählt, nur, dass er ihn nicht mochte und jetzt noch weniger
gern zu Hause war. Louis tut ihr leid. Ein Kind sollte aufwachsen mit der Sicherheit, etwas zu haben,
in das es sich zurückziehen kann – und vor allem: Jemanden zu haben, der für es da sein wird,
bedingungslos und immer. Anne hat immer versucht, Louis das geben zu können. Manchmal glaubt
sie, dass sie es auch geschafft hat.
„Würdest du denn sagen, dass du schwul bist?", will sie von ihm wissen.
„Ich weiß es nicht", sagt Louis und sieht sie ein wenig verzweifelnd anmutend an.
„Das musst du auch nicht wissen. Es ist völlig in Ordnung, wenn man sich nicht definiert. Vor allem
mit dreizehn Jahren musst du das nicht tun. Und weißt du was? Ich definiere mich auch nicht. Ich
sage nicht über mich, dass ich heterosexuell bin und auch nicht etwas anderes."
„Und warum nicht?"
„Weil ich es nicht möchte. Ich möchte mich nicht einschränken, nicht begrenzen und vor allen Dingen
nicht labeln. Und das muss man auch nicht tun. Man braucht sich keinen Stempel aufzudrücken,
wenn man es nicht möchte. Niemand sollte irgendwem seiner Sexualität bezüglich Rechenschaft
schuldig sein. Solange man lebt und liebt ist doch alles super; es reicht doch völlig. Man muss sich
doch nicht immer und überall abstempeln. Ich meine, ich verliebe mich in den Menschen und nicht in
das Geschlecht. Vielleicht kann ich im Moment sagen, dass ich mich mehr von Männern angezogen
fühle, aber das bedeutet nicht, dass ich ‚heterosexuell' bin, denn vielleicht werde ich mich in einigen
Jahren in eine Frau verlieben, wer weiß? Und deshalb werde ich mich nicht festlegen. Allein schon,weil ich es auch gar nicht könnte. Ich möchte mich nicht einmal ‚bisexuell' oder ‚pansexuell' nennen;
einfach, weil ich keine dieser Bezeichnungen brauche. Man muss nicht immer alles labeln. Hast du
das verstanden?"
„Ein bisschen"
„Und, was denkst du?"
„Ehrlich gesagt, Harry ist bisher die erste und einzige Person, in die ich mich verliebt habe und
deshalb kann ich es nicht sagen. Alles, was ich weiß ist, dass ich die Zukunft einfach kommen lassen
möchte und mich davon überraschen werde, was für Personen noch so in mein Leben treten, in die
ich mich vielleicht verliebe. Aber eigentlich, eigentlich hoffe ich, dass es bis zum Ende nur Harry sein
wird."

021.
„Hast du deiner Mama denn erzählt, du seist schwul?"
„Nein, aber ich habe ihr von Harry erzählt – und davon, dass ich später einmal mit ihm
zusammenkommen möchte. Ich dachte eigentlich, dass sie wieder einmal nicht zugehört hätte, aber
vielleicht hat sie in Wahrheit ja immer zugehört und wusste nur nicht, was sie darauf sagen sollte..."
„Das kann sein. Weißt du, Louis, das Leben ist nicht immer so schwarz-weiß, wie wir oft annehmen.
Die meisten Dinge sind ganz anders, als sie auf den ersten Blick scheinen und die erstbeste Lösung,
die uns auf eine Frage einfällt, ist nicht unbedingt auch gleich die richtige. Eigentlich verstehen wir
einen anderen Menschen erst dann so richtig, wenn wir für ein ganzes Jahr lang in seinem Körper
stecken und all seine Gedanken und Gefühle selber denken und fühlen würden. Und weißt du, ich
denke manchmal, dann würden wir eigentlich jeden gern haben können. Denn ja, viele Menschen
verletzen andere, sind gemein oder anderweitig fies zu ihnen – aber wir wissen nicht, wie es in ihrem
Inneren aussieht; was sie alles durchmachen mussten; was sie erlebt haben, dass sie zu dem
Menschen wurden, der sie nun einmal sind. Man sagt sich ja nicht einfach mal so ‚Hey, ich glaube, ich
werde jetzt mal jemanden traurig machen. Ich hab' eben einfach gerade Lust dazu' – nein, so simpel
ist das Leben nicht. Hinter jedem Gesicht steckt eine Geschichte, die wir nie gehört haben und ein
jeder Mensch hat einen Kampf zu kämpfen, über den wir rein gar nichts wissen. Und deshalb sollten
wir niemanden verurteilen, egal was er getan hat. Denn jeder von uns hat seine Fehler – die einen
mehr, die anderen weniger. Aber vor allem hat jeder von uns seine Gründe. Vergiss das nicht, ja?"
„Ja." Louis schweigt für einen kurzen Moment dann sagt er: „Danke." Ein simples und einfaches
Danke, aber in diesem Moment bedeutet es Anne die Welt.
„Wofür?"
„Dafür, dass du immer da bist, wenn ich jemanden brauche und dafür, dass ich immer zu euch
kommen kann. Dafür, dass du einen so wundervollen Sohn hast und dafür, dass du mir so schöne
Dinge beibringst. Danke eben. Für alles."
Louis Tomlinson vermag es doch immer wieder, einen zu überraschen. Anne hat ihn lieb gewonnen,
das hat sie wirklich.
„Das ist doch selbstverständlich."
„Nein, ist es nicht."

022.
„Ich gehe zum Fasching als Prinz!", ruft Harry freudig.
„Dann bin ich dein Pferd!"
„Prima, dann kann ich auf dir reiten!"
Anne lacht über die beiden. Wären sie fünf Jahre älter, hätten sie das Ganze vermutlich zweideutig
gemeint. So aber überwiegt ihr kindlicher Übermut und sie meinen es einfach nur wortwörtlich.
Anne ist zufrieden, doch als sie das Kostüm sieht, dass Harry sich ausgesucht hat, beschleicht sie ein
ganz mieses Gefühl. Er ist zu naiv, ihr kleiner Harry, viel zu naiv. Naiv, unerfahren und viel zu
gutgläubig. Er glaubt, alle Menschen wären so tolerant wie seine Mutter. Aber leider Gottes ist das
ganz und gar nicht der Fall.
Aber sie wird ihn trotz alledem seine Erfahrungen machen lassen. Soll er doch selbst sehen, wie die
Gesellschaft wirklich ist, in die er hineingeboren wurde...023.
Harry zieht sich das rosa-weiße Kleid über und betrachtet sich anschließend mit einem zufriedenen
Lächeln im Spiegel.
„Ich dachte, du wolltest als Prinz gehen?", fragt Louis ihn und tritt in seinem Pferdekostüm hinter ihn,
um sich ebenfalls zu begutachten. Vielleicht sieht er aber auch nur Harry an und nicht sich selbst;
vielleicht kann er den Blick nicht abwenden von dem Leuchten in Harrys Augen.
„Tue ich doch", sagt Harry und sieht Louis durch den Spiegel in die Augen. „Wer sagt denn, das
Prinzen nicht auch Kleider tragen dürfen?"
„Recht hast du."
„Ja, ich habe immer Recht."
„Sei mal nicht so vorlaut."
„Ich bin doch nur ehrlich."
Sie lachen beide und Louis kitzelt Harry durch, bis keiner von ihnen mehr kann. Aber dann sieht Louis
ernst zu Harry.
„Du weißt, was sie sagen werden, oder?"
„Was wer sagen wird?"
„Die Leute aus der Schule. Du weißt, was sie sagen werden, oder?"
Harry bleibt stumm. Und Louis fühlt, wie Tränen in seine Augen treten.
„Sie werden über dich lachen. Sie werden dich ‚Mädchen' nennen und ‚schwul'."
„Beides ist für mich keine Beleidigung und es ist traurig, dass es für andere eine ist."
„Aber es fällt dennoch unter Mobbing. Und erzähl mir nicht, dass es dich völlig kalt lassen wird."
„Nein, das wird es nicht. Aber ich habe es satt, mich immer und ewig verstellen zu müssen. Ich
verstehe diese Menschen nicht, Louis. Was finden sie so schlimm daran, wenn ein Junge ein Kleid
trägt? Inwiefern ist es anders, als wenn ein Mädchen das tut? Und fernab davon, ein Mädchen darf
doch auch Hosen tragen, ohne schief angeguckt zu werden, oder nicht? Was so verwerflich daran,
wenn ein Junge sich in ein Jungen oder ein Mädchen sich in ein Mädchen verliebt? Es ist doch
dieselbe Liebe wie zwischen einem Jungen und einem Mädchen auch; wo also liegt der Unterschied?
Ich verstehe es einfach nicht!"
„Das tue ich auch nicht", erwidert Louis leise. „Glaub mir, ich tue es nicht. Aber man muss sich
anpassen, Harry, sonst wird man untergehen."
„Ja, das muss man wohl." Harry ist den Tränen nah. „Und genau das ist ja das Traurige..."

024.
„Du bist der schönste Prinz, den ich je gesehen habe."
„Und du das hässlichste Pferd..."
„Na warte!"
Für einen Moment vergessen sie beide ihre Probleme und jagen sich einfach nur durch die Wohnung;
unbeschwert, fröhlich und frei.
Es könnte doch alles so einfach sein, denkt Anne, als sie die beiden beobachtet. Im Grunde wollen
wir doch alle nur ein und dasselbe. Wir wollen alle nur glücklich werden in dieser Welt, die manchmal
so schön und oft so grausam sein kann. Warum also kämpfen wir noch, warum stellen wir noch
immer Hass über Liebe, Diskrimination über Toleranz, Vorurteile über Verständnis. Warum werten
wir noch immer einige Menschen ab und schreiben anderen vor, wie sie zu sein haben? Warum
kommen wir nicht alle einfach zusammen, wir alle, und werden glücklich. Wir sind doch alle nur
Menschen, wir leben auf demselben Planeten, wo also liegt das Problem? Anne kann es nicht sehen.
Wir sollten endlich anfangen, Liebe und Empathie zu verbreiten und nicht immer nur ewigwährenden
Hass und Ablehnung.
Wäre das denn wirklich so schwer?

025.
Harry hat ein wenig Angst, das muss er selber zugeben. Aber nun gibt es kein Zurück mehr. Er und
Louis betreten das Schulgebäude und Harry kann die Blicke der anderen förmlich auf ihm spüren. Er kann das fiese Grinsen auf ihren Gesichtern sehen; kann die abfälligen Bemerkungen hören, die sie
einander zu murmeln. Er kann den Spott in ihren Augen erkennen.
Er versteift sich.
„Es ist alles gut, Harry. Ich bin bei dir, okay?", sagt Louis und drückt kurz und unauffällig seine Hand.
Doch es war nicht kurz und unauffällig genug.
„Harry und Louis sind zusammen, Harry und Louis sind zusammen!"
„Nein, sind wir nicht!", verteidigt Louis sich sofort. Es ist mehr ein Reflex gewesen, als eine bewusste
Entscheidung.
Es war der Reflex, der einsetzt, wenn wir Angst haben, lächerlich gemacht zu werden; der, wenn wir
unsicher sind und nicht wissen, was wir tun sollen; der, der eine harte Schale um uns aufrichtet und
verhindert, dass uns etwas treffen kann. Es war der Reflex, der einsetzt, wenn wir fürchten, verletzt
zu werden.
Er setzt sehr oft ein, in Zeiten wie diesen.

026.
Ja, es ist nur ein Reflex gewesen.
Aber es hat Harry dennoch verletzt.
Und zwar sehr, sehr dolle.

027.
Harry spürt, wie ihm Tränen in die Augen treten. Aber er darf nicht weinen; nicht hier, nicht vor
diesen Leuten. Denn er weiß, was dann kommen wird, er weiß es sehr genau.
‚Harry ist ein Mädchen!'

028.
Louis hat Angst. Er hat große Angst. Er hat Harry verletzt, das weiß er. Und man verletzt keine
anderen Menschen. Aber er weiß nicht, was er tun soll, um ihn wieder glücklich zu machen. Er kann –
nein; er darf nicht vor all diesen Leuten sagen, dass sie doch zusammen sind, irgendwie, auf diese
Art, auf die Kinder eben zusammen sind. Er darf es nicht sagen, denn dann würden sie ihn alle
verachten. Ihn und Harry.
Dabei ist es doch nur Liebe. Was ist denn schon dabei?

029.
Louis schaut Harry an und erkennt den Schmerz in seinem Gesicht; sieht die winzige Träne in seinem
linken Auge. Und er weiß, denkt er, als Harry ihn ebenfalls anblickt und Louis zulässt, dass Harrys
Schmerz zu seinen und zu einem einzigen Schmerz wird; er weiß, dass er diese Träne nie wieder in
Harrys Augen sehen möchte.
In diesem Moment trifft Louis eine Entscheidung. Er ist dreizehn Jahre alt und Harry ist nur ein Jahr
jünger. Sie sind beide jetzt schon große Kinder; nicht mehr so jung, wie als sie sich kennengelernt
haben. Sie werden einen Weg finden, damit umzugehen. Sie werden einen Weg finden müssen,
damit umzugehen. Denn Louis möchte sich nicht länger verstecken.
Niemand sollte sich verstecken müssen.

030.
„Doch", sagt Louis. Er sagt es leise, aber dennoch ist er gut zu hören. „Doch, ich und Harry sind
ineinander verliebt. Und das ist auch okay. Es ist dasselbe Gefühl, das auch Nathan und Emma
füreinander verspüren und es ist das gleiche, wie das, von dem Mr. Rose spricht, wenn er uns von
seiner Frau erzählt. Wann immer wir uns in einen anderen Menschen verlieben, dann fühlt sich auf
die gleiche Art und Weise an – und niemals ist es verkehrt. Wie kann so etwas Schönes und
Wundervolles; wie kann etwas, das uns so gut fühlen lässt; wie kann so etwas denn verkehrt sein? Ist
es falsch, dass ich lächeln muss, wenn ich Harry ansehe? Ist es falsch, dass ich mir eine Zukunft mit
ihm erhoffe und wünsche? Ist es falsch, dass ich manchmal denke, dass er eigentlich alles ist, was ichjemals bräuchte, um glücklich zu sein? Ist es falsch, dass das Licht in seinen Augen eines der
schönsten Dinge ist, die ich kenne?
Ist es denn wirklich so falsch, dass ich mich in Harry verliebt habe?"
Louis sieht sich um. „Ist es so falsch?". Er schreit es fast, denn er braucht eine Antwort; er braucht sie
so dringend; braucht die Bestätigung, dass er nicht verkehrt ist; dass er gut und richtig so ist, wie er
ist, und dass er sich nicht ändern muss. Er braucht die Antwort, obwohl er sie eigentlich kennt, doch
diese Gesellschaft lässt ihn dennoch zweifeln; lässt ihn zweifeln an sich selbst.
Er braucht die Antwort, doch alles, was seine Worte hinterlassen, ist Stille.

031.
Anne Styles weint, während sie auf dem kleinen, grünen Sofa sitzt; eine Tasse bisher unberührten
Kaffees in der Hand, der mittlerweile sicher schon kalt geworden ist; vor sich der laufende Fernseher
– es läuft ein Liebesfilm, einer von der schnulzigen Sorte; und mit ihren Gedanken ganz woanders;
nicht länger hier, in diesem gemütlichen Zimmer, in dem sie extra für den Film das Licht gedämmt hat
und auch nicht bei ihrem Harry, dem es hoffentlich gut geht; der hoffentlich stark bleibt und sich
nicht unterkriegen lässt von den Meinungen der anderen.
Nein, heute gelten Anne Styles' Gedanken etwas anderem.

032.
Ist es so falsch?
Die Worte mögen Louis' Mund verlassen haben, doch sie schweben noch immer im Raum, hallen von
den buntbehängten Wänden wieder und nisten sich in den Falten der Vorhänge ein, die das Licht der
Sonne ein wenig abschirmen. Sie klingen auch noch immer in seinem Kopf nach, als Louis eine
Atempause einlegt; den Blick zu Boden gerichtet, denn er fürchtet die Reaktion auf seine kleine Rede;
traut sich nicht, in die Gesichter der anderen Schüler zu sehen – und noch weniger in Harrys.
„Nein, ist es nicht.", hört er plötzlich Harrys Stimme dicht neben seinem Ohr und er sieht auf und
blickt in strahlendes Grün. „Denn wenn du Liebe fühlst, dann ist es Liebe; unsere Herzen lügen nicht.
Und Liebe ist niemals etwas Falsches – sie kann es gar nicht sein. Liebe ist das eine Ding, das Licht in
unsere Augen bringt; das eine Ding, das uns lebendig fühlen lässt. Liebe ist sowohl der Weg, der uns
zum Menschen macht, als auch der Grund.
Und warum legen wir so viel Wert darauf, wem genau sie gilt? Warum teilen wir sie ein, in ‚hetero'
und ‚homo'? Warum spielt es für uns eine so große Rolle, von welchem Geschlecht die Person ist, die
von einer anderen geliebt wird? Warum ist uns neben der Tatsache, das es Liebe ist, noch etwas
anderes wichtig; ja sogar wichtiger als die Liebe selbst? Warum konzentrieren wir uns so sehr auf den
Fakt, dass es da zwei Jungen sind, die sich ihr Herz geschenkt haben und vergessen darüber
anscheinend, dass es doch trotzdem Liebe ist? Und wie kann es verschiedene Arten von Liebe geben,
wenn das Gefühl doch immer gleich ist? Ist es nicht dasselbe Gefühl, das wir verspüren, wenn wir uns
verlieben? Ist es nicht dasselbe aufgeregt-Sein, dasselbe Kribbeln, dasselbe Leuchten in den Augen?
Und überhaupt: Wer kann sich anmaßen zu sagen, zwischen dem gleichen Geschlecht wäre Liebe
‚schlecht'? wer kann seine subjektive Einschätzung über die anderer stellen und bestimmen, was
‚normal' und ‚richtig' ist und was nicht? Wer kann sich das Recht nehmen, andere zu verurteilen?
Niemand kann sich das Recht dazu nehmen. Und doch tun wir es so oft. Wir vergessen anscheinend,
dass wir auch nur unsere eigenen Augen haben, mit denen wir die Welt sehen und das diese sich
nicht nur um uns selbst dreht. Jeder denkt anders über die Dinge und wer sind wir, unsere Sicht als
die einzig richtige darzustellen?
Und im Grunde sind wir alle sowieso ein und dasselbe, denn früher oder später werden wir doch alle
nur noch ein wenig Licht in all der endlosen Schwärze dieses großen Universums sein..."
Es sind die Worte eines zwölfjährigen Kindes, die die Welt für einen Augenblick verstummen lassen;
eines Kindes nur, doch in ihnen steckt so viel Wahrheit und vielleicht; vielleicht ist es gerade deshalb
so, weil es ein Kind ist, das sie gesagt hat, denn Kinder sehen die Welt auf andere, unverschleierte
Weise und sie begreifen sehr viel schneller.
Für sie spielt es keine Rolle, wen genau wir nun letztendlich lieben.033.
Anne Styles denkt daran, dass es im Leben immer beides gibt; Sonne und Regen. Denn man braucht
beides. Schmerz und Freude, weinen und lachen, Verzweiflung und Glück. Aus dem einen lernt man;
das andere ist es, das das Leben lebenswert macht.
Doch was ist mit den Menschen, deren Leben vielleicht nur aus Regentagen besteht?
Mit den Menschen, die vielleicht schon lange vergessen haben, wie sich Glück anfühlt und die doch
eigentlich nur nach Hause kommen wollen, wo auch immer das ist.
Mit den Menschen, die täglich nur Hass und Abneigung erfahren; die das Gefühl nicht kennen,
geliebt und gehalten zu werden; die nicht sehen können, dass sie alle, jeder einzelne von ihnen,
genug und wundervoll, absolut wundervoll, sind.
Mit den Menschen, die von der Gesellschaft jedes Mal aufs Neue zu spüren bekommen, dass sie
falsch sind und sich gefälligst zu ändern haben; dass ihre Herkunft falsch ist, ihre Hautfarbe, ihr Beruf,
ihr Glauben, ihre Liebe, ihr Aussehen, ihr Verhalten, ihr Sein.
Daran denkt Anne Styles und das ist auch der Grund, weshalb sie weint.
Denn die heutige Zeit lässt für viele Menschen allzu leicht die Sonne hinter einer schwarzen Wolke
verschwinden.
Dabei wind wir doch alle nur Menschen. Warum konzentrieren wir uns so sehr auf unsere
Unterschiede? Warum richten wir das Augenmerk nicht stattdessen auf Toleranz und
Gleichberechtigung und vergessen, dass sich nicht alle ähneln. Wir sollten uns wieder in Erinnerung
führen, dass es schlussendlich völlig gleich ist, ob die Person vor uns nun genauso ist wie wir, oder
eben nicht; das doch nur zählt, dass es ein Mensch ist und dass alle – absolut alle Menschen ein Recht
auf ein Leben in Selbstbestimmung und Freiheit haben.
Ein Recht darauf, glücklich zu sein.

034.
Louis hat seine Meinung geändert.
Er hat seine Meinung über die Dinge geändert.
Vor wenigen Minuten hatte er zu Harry gesagt: „Aber man muss sich anpassen, Harry, sonst wird
man untergehen."
Vielleicht ist diese Welt aber gerade so, wie sie nun einmal ist, weil sich alle anpassen.
Wenn niemand zeigt, wie er wirklich ist; wenn niemand sich traut; wenn niemand einen Anfang setzt
und für Freiheit aufsteht, dann gibt es eben auch keine Freiheit. Und solange es die nicht gibt, muss
eben jemand den ersten Schritt gehen, denn sich nur selbst anpassen, ist keine Lösung.
Und vielleicht wird dieser eine Erste Schritt ein ganzes Leben dauern; vielleicht ist das so mit allen
Schritten, die wir gehen. Aber er wird dennoch etwas verändern. Zuerst im kleinen Maße nur, doch
dann wird die Veränderung sich ausbreiten und ein Hauch von Neuanfang wird in der Luft liegen.
Natürlich wird es lange dauern und natürlich wird es sehr, sehr viele Erste Schritte brauchen – aber
ist das nicht mit allem so gewesen? Wie lange mussten Frauen dafür kämpfen, auch arbeiten zu
gehen und Hosen tragen zu dürfen? Und bis heute ist dieses Ziel noch immer nicht ganz erreicht,
aber es wurde trotz alledem ein sehr deutlicher Fortschritt erzielt. Und das ist immerhin etwas, oder
nicht?
Männer sollen endlich auch Männer lieben dürfen und Frauen Frauen und auch alles dazwischen.
Jeder sollte endlich selbst bestimmen dürfen, was er für Klamotten tragen möchte, ohne fürchten zu
müssen, dafür verurteilt zu werden. Alle Menschen sollten endlich so sein können, wie sie sind, ohne
jeden Tag mit Angst auf die Straße zu gehen. Gleichberechtigung und Selbstbestimmung sollten
endlich nicht mehr nur auf dem Papier existieren und es sollte sie für alle geben; für Männer und
Frauen und jedes andere Geschlecht; für alle Ethnien und Herkünfte; für alle Sexualitäten; für alle
Glaubensrichtungen; für alle Identifizierungen; für alle Menschen – für alle.
Denn alles, was Louis weiß ist, dass es nicht mehr so weitergehen kann.
Und deshalb wird er aufhören, sich anzupassen.

035.
Natan ist der erste, der beginnt zu klatschen.Vielleicht tut er es, weil er in der Ansprache namentlich erwähnt wurde und vielleicht tut er es, weil
die Worte ihn berühren.
Vielleicht tu er es aber auch nur, weil diese beiden kleinen Jungen da vorne ihn an sich und Emma
erinnern; an die Zeit, als sie genauso jung waren und begannen, sich in den anderen zu verlieben. Sie
hatten sich damals auf die gleiche Art und Weise in die Augen gesehen. Und dennoch hatte man sie
nicht verurteilt. Es ist nicht fair, dass manche Menschen sich lieben dürfen, während es anderen
verwehrt bleibt.
Und deshalb klatscht Nathan.
Und deshalb beginnen nach einer Weile auch einige andere mit klatschen.
Und deshalb werden es mehr und mehr, die sich den Klatschenden anschließen.
Ein kleines Zündholz vermag es, ein Leuchtfeuer zu entfachen.

036.
Wir alle; wir alle können ein Zündholz sein.
Vergesst das niemals.

037.
Harry ist glücklich.

038.
Louis ist glücklich.

039.
Und die Jahre verstreichen...
Es wird Herbst und die Blätter fallen. Rot, Grün, Gold. Sie sind vereint in diesen Zeiten. Wie Honig
scheint die Sonne durch die Äste der Bäume und weißer Nebel zieht sich über die Wiesen.
Im Winter fällt der erste Schnee, hell, noch frei von Schmutz. Das Blau der Seen und Flüsse gefriert zu
kaltem Weiß und lässt die Sonne sich darin brechen. Ein kalter Wind beginnt zu wehen, treibt all den
Staub vergangener Tage fort.
Als der Frühling in die Lande zieht, beginnt das helle Weiß des Schnees grau zu werden und zu
schmelzen, hinfort getragen von der Wärme der Sonne. Die ersten Blumen sprießten hervor, lila,
gelb, rot.
Bald darauf beginnt der Sommer. Es wird heller und wärmer und die Landschaft überzieht sich mit
Gold. Lachen hallt durch die Lande und alles wird lebendiger. Lange dauert es, bis die Sonne stirbt
und nur kurz, bis sie erneut erwacht, bereit für einen neuen Morgen.
Und schlussendlich bricht wieder der Herbst herein, mit all seinen Farben und Mustern.
Während die Natur sich fortwährend wandelt, ihr Kleid abstreift und wechselt, wie einen alten
Mantel, bleibt eine einzige Sache allzeit und fortwährend gleich. Zu allen Zeiten trägt Harry ein
Lächeln auf dem Gesicht, wenn er an Louis denkt und in allen Tagen vermisst er ihn, wenn er nicht da
ist. Ihre Verliebtheit ist längst zu Liebe geworden und Harry möchte für immer darin verloren gehen.
Und das ist die Konstante in Harrys Leben, das eine Ding, das sich nicht verändert, wenn auch alles
andere im Wandel ist. Dass er sein Herz an Louis Tomlinson verloren hat.

040.
Menschen suchen, wie Motten, das Licht. Ich habe das meine gefunden. In deinen Augen.

041.
"Ich danke Gott jeden Tag dafür, dass ich dich kennen darf", sagt Harry, als das Licht der Sonne
goldene Tupfen auf die Wände malt, sich in Louis' Augen bricht und diese von innen heraus zum
Strahlen bringt.
Er sagt Louis nicht, dass er ihn ansieht und nicht wegschauen kann; dass er sich manchmal fragt, wie
jemand ihn denn nicht anstarren könnte; dass er in dem Blau seiner Augen versinkt und vergisst, wie
man schwimmt.Er sagt ihm nicht, dass Louis ihm mehr das Gefühl von zu Hause verleiht, als vier Wände es je
könnten; dass er weiß, ja verdammt noch mal weiß, dass er ohne ihn nicht mehr leben kann und das
sich wohl so Liebe anfühlt.
Er sagt ihm auch nicht, dass er Angst hat, irgendwann einmal ohne diese blauen Augen und dieses
goldene Lächeln leben zu müssen; dass er sich vor dem Tag fürchtet, an dem Louis ihn vielleicht
verlassen wird und dass er in einsamen Nächten bei dem Gedanken daran weint und nicht mehr
damit aufhören kann.
Er sagt all diese Dinge nicht, und so schweben sie unausgesprochen im Raum, verstecken sich
zwischen den Falten der Vorhänge und kleben unter Harrys Sachen; fallen mit den Sonnenstrahlen in
den Raum und spiegeln sich in den Wassertropfen, die die Fensterscheiben herablaufen.
Er sagt es nicht, aber vielleicht hat Louis es gesehen; vielleicht hat er es in seinen Augen gesehen, hat
all das erkannt, was Harry nicht auszusprechen gewagt hat, und vielleicht, nur vielleicht, fühlt er
dasselbe.

041.
Louis beugt sich vor. Und dann noch ein bisschen weiter. Jetzt sind ihre Gesichter sich nah. Fast zu
nah. Viel zu nah. Harry kann Louis' heißen Atem auf seinem Gesicht spüren, auf seinem Hals, seiner
Nase, seiner Wange.
Und in diesem Moment...
Louis überbrückt auch noch den letzten Abstand zwischen ihnen; die letzte Lücke, und lässt ihre
Lippen miteinander verschmelzen; eins werden, so wie ihre Herzen es in all der Zeit schon lange
waren.
...fällt Harry, aber Louis fängt ihn auf.

042.
„Du hast mich geküsst."
„Ja, das habe ich wohl."
„Es war schön."
„Das war es. Fast so schön wie ich."
„Nichts könnte schöner sein als du."
„Hm, das stimmt. Nicht einmal du könntest das..."
„Idiot"
„Selber Idiot"
„Es ist schon ein Wunder, das ich es mit dir aushalte, hm?"
„Nein, das Wunder bin eher ich."
Sie beide fangen an zu lachen. Sie sind ein wenig verlegen, denn es war ihr erster Kuss. Aber er wird
ihnen in Erinnerung bleiben als das, was er war: Der Beginn einer Liebe.

043.
„Danke."
-„Für was?"
„Dafür, dass du jetzt hier bist und mich anlächelst."
„ich werde immer da sein und dich anlächeln, Hazza."
Hätte Louis da mal nur nicht zu viel versprochen...

044.
Und als Harry in Louis blaue Augen sieht, will er nichts lieber, als sich in ihrem Meer zu verlieren,
denn dann müsste er keine Angst mehr haben zu ertrinken.
Und er fürchtet sich vor dem Tag, an dem er einmal aufwachen und ohne diese Augen wird leben
müssen. Fast, als hätte er geahnt, dass dieser schneller kommt, als er wissen kann.
045."Ich liebe dich, Harry", sagt Louis später, als die Sonne ein wenig weiter in Richtung Horizont
gewandert ist und sie beide auf dem Sofa sitzen, ihre Beine ineinander verschlungen, ihre Blicke
verknüpft, untrennbar miteinander verbunden und dieses Kribbeln Harry durchfährt, dieses Kribbeln,
dass er immer verspürt, wenn Louis da ist; als das Licht auf Louis' Haare und in seine Augen fällt und
seine Gesichtszüge weich anmalt, zum Leuchten bringt und er Harry ein Lächeln schenkt, von dem
dieser weiß, dass er es niemals würde vergessen können. Ja, Louis Tomlinson hat dieses Lächeln, dass
sich einem in die Seele brennen kann. Er hat dieses Lächeln, dass einen alles andere vergessen lässt
und eine ganze Welt zum Leuchten bringt. Er hat dieses Lächeln, bei dem es manchmal weh tut, es
anzusehen, bei dem einen dieser brennende Schmerz durchfährt; dieses Gefühl, diese Ahnung, diese
Angst, es irgendwann nicht mehr zu sehen.
Louis Tomlinson hat dieses Lächeln, von dem Harry nicht genug bekommen kann.
„Ich liebe dich auch, Louis."

046.
„Anne?"
„Ja, Louis?"
„Kann ich für einige Wochen bei euch einziehen?"
„Natürlich. Du bist hier immer willkommen, das weißt du doch."
„Danke. Wirklich, das bedeutet mir so viel. Du warst immer die Mutter, an die ich mich erinnere."
„Und das bedeutet mir viel, Louis. Sehr viel."

047.
„Möchtest du darüber reden, Lou?"
„Wenn du zuhören möchtest, Hazza."
„Ich höre dir immer zu."
„Ich weiß. Ich weiß doch, Harry. Aber es... ist nicht leicht für mich, so etwas zu erzählen."
„Lass dir einfach Zeit."
Louis lächelt, aber es ist ein trauriges Lächeln. „Was würde ich nur ohne dich tun?"
„Atmen, vermutlich. Und essen. Und trinken. Mitunter natürlich auch mal einen Film schauen.
Wahrscheinlich all die Dinge, die du auch jetzt schon tust.", sagt Harry und er weiß selber, dass es ein
dummer Witz ist. Aber es ist ihm egal, denn alles, was er möchte ist, den Schmerz aus Louis' Augen
zu vertreiben.

048.
„Es ist wegen meiner Mutter. In letzter Zeit macht sie gar nichts mehr, verstehst du? Gar nichts mehr.
Sie sitzt einfach nur da. Und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Sie redet nicht mit mir, sie redet
nicht mit meinen Schwestern und sie redet nicht mit ihrem Freund. Es geht jetzt schon seit einigen
Wochen so, und -"
Louis' Stimme bricht.
Harry nimmt ihn in den Arm und hält ihn; gibt ihm all den Halt, den er nicht finden kann, und Louis
klammert sich an ihn wie ein Ertrinkender.
„Ich bin bei dir", sagt Harry. Und es ist ein Versprechen.

049.
„Hast du mal überlegt, Hilfe zu hohlen?"
„Hilfe? Du meinst, dem Jugendamt Bescheid sagen oder so? Die stecken sie doch sowieso nur in
irgendeine Klinik, in der sie unter der ‚Diagnose' Psychisch Gestört mit Medikamenten vollgepumpt
wird. Aber das ist keine Lösung, Haz. Es muss doch einen Grund geben, weshalb sie so geworden ist;
irgendeine Ursache, einen Auslöser; irgendwas. Ich hatte schon überlegt, ob es vielleicht was mit
meinem Vater und seinem Fortgehen zutun hat, aber ich weiß nichts Genaues darüber, als dass ich es
mit Sicherheit sagen könnte."
„Das könnte sein. Ich meine, es ist schon hart, mit sechs Kindern sitzen gelassen zu werden."„Darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus. Ich meinte eher... also, ich habe gestern mit meinem
Nachbar geredet, und er hat mir erzählt, dass meine Mutter damals, als sie in dem Haus eingezogen
ist, völlig alleine gewesen sei und nur eine Matratze, einen Rucksack und eben uns Kinder dabei
gehabt habe, nichts weiter. Und er sagte, dass sie in den ersten Jahren fast nie aus der Wohnung
gegangen sei. Ich weiß nicht, wie sehr ich seinen Worten vertrauen kann, denn er ist schon alt, aber
es beunruhigt mich dennoch. Denn für mich klingt das mehr nach Flucht, als nach einem lange und
gut geplanten Umzug. Und was ist denn, wenn... wenn mein Vater meine Mutter missbraucht und
eingesperrt hat, oder so?"
„Du wirst es vielleicht nie herausfinden, Lou."
„Ich weiß."
„Du musst auch aufpassen, dass du im Jetzt und für das Jetzt lebst. Ich kann es nicht beurteilen, aber
mir scheint, du wärst ein wenig in der Vergangenheit verloren gegangen."
„Ach Hazza, du bist süß. Ich weiß doch, und die einzige Sache, in der ich jemals verloren gegangen bin
und sein werde, bist du. Aber du musst mich auch verstehen; wenn du an meiner Stelle wärst,
würdest du doch auch wissen wollten, was passiert ist, oder etwa nicht?
„Doch, ich glaube schon. Aber nach alldem, das du mir erzählt hast, denke ich, dass die Chancen nicht
so hoch stehen, dass du es in absehbarer Zeit erfahren wirst."
„Ja, vielleicht." Louis macht eine kurze Pause und Harry hat den Eindruck, dass er mit seinen
Gedanken ganz woanders ist. Er hat ein bisschen Angst um ihn, wenn er ehrlich ist. Louis Tomlinson
ist schon immer sehr zerbrechlich gewesen.
„Weißt du, ich möchte einfach nur nicht, dass ich nichts mehr das Resultat eines Gewaltakts bin, und
nicht das, einer erfüllten Liebe."

050.
„Letztendlich spielt es ja auch gar keine so große Rolle, wie und weshalb du entstanden bist, Lou.
Wichtig ist nur, dass du da bist und dass du lebst und dass du liebst und geliebt wirst. Und ich bin so
unendlich froh, dich kennen zu dürfen."
„Ich auch, Harrylein. Ich auch..."
Es macht Harry Angst, was er in Louis' Augen sehen kann.

051.
Louis breitet langsam die Arme aus, streckt die Hände und richtet den Blick gen Himmel, als würde er
dort etwas finden, das er so lange gesucht hat, und Harry denkt, er ist ein Wunder, als das Licht der
Sonne auf sein Gesicht, seine Haare, seine Augen fällt und ihn erstrahlen lässt; er sich zu ihm
umdreht und lächelt, wie nur Louis Tomlinson es kann; als er sagt "Ich glaube, die Sonne ist ein
bisschen wie du", dann seine Augen schließt und Harry dennoch das Gefühl hat, seinen Blick auf sich
zu spüren.
Harry denkt es, als Louis sich zu drehen beginnt, die Hände ausgestreckt, als probierte er zu fliegen
oder vielleicht auch einfach nur, die Luft zwischen seinen Fingerspitzen zu fühlen; als er umfällt und
nicht mehr aufhören kann zu lachen und als er hochblickt und ihre Blicke sich treffen.
Harry denkt es, als Louis näher kommt und er denkt es, als seine Augen der Sonne hinter ihm
Konkurrenz machen und das Licht in ihnen vielleicht das Einzige ist, das Harry jemals sehen müsste,
um glücklich zu sein.
Und als Louis ihn küsst, da denkt er es nicht mehr, nein, da weiß er es; er fucking weiß, dass dieser
Junge vor ihm ein Wunder ist und dass er ein verdammt großes Glück hat, ihn zu kennen.

052.
„Wie siehst du das Leben, Louis?"
„Es ist eine gottverdammte Horrorgeschichte."
„Aber warum?"
„Da ist so viel Schmerz, weißt du. So viel."

053.
Und Harry weiß, denkt er, als Louis sich noch einmal zu ihm umdreht, mit diesem umwerfenden
Lächeln auf den Lippen; als sich das Licht der sterbenden Sonne in seinen Haaren verfängt und seine
Augen zum Strahlen bringt, er noch einmal zurück kommt und ihn in die Arme nimmt; er weiß, als er
sein Gesicht in Louis' Hals vergräbt, seinen Duft einatmend, der so vertraut geworden ist, Louis sich
zu ihm herunter beugt und ihm ins Ohr flüstert Wir sehen uns gleich, Hazza; als er ihm noch einen
letzten kleinen Kuss auf die Wange drückt und sich dieses Kribbeln in Harry ausbreitet, dieses
Kribbeln, das er immer verspürt, wenn Louis ihn berührt; er weiß, dass er ohne ihn nicht mehr leben
könnte, ohne diesen Jungen mit den blauen Augen und den braunen Locken und dem Lächeln aus
Gold; diesen Jungen, der ihm schon jetzt so viel bedeutet; diesem Jungen, dessen Augen so voller
Trauer sind, dass Harry es manchmal nicht ertragen kann und wegsehen muss.
Diesem Jungen, der nicht dazu bestimmt ist, für lange Zeit auf dieser Erde zu verweilen.
Nur ahnt Harry das noch nicht.

054.
„Manchmal wünschte ich, ich könnte mehr sein."
„Was heißt schon mehr? Du bist alles."

055.
Louis steht langsam auf und tritt ans Fenster. Aus seinen Bewegungen spricht diese Mattigkeit; diese
Gleichgültigkeit; diese Taubheit.
Die Sonnenstrahlen bündeln sich im Glas des Fensters, treffen auf sein schmales, markantes Gesicht
und lassen es erhellen. Wenn man ihn dort stehen und auf die Menschenmassen hinunterblicken
sähe, würde man ihn vielleicht für glücklich halten.
Nur, wenn man genauer hinsieht, würde man den tiefgehenden Schmerz in seinen Augen erkennen.

056.
„Gibt es einen Sinn im Leben? Wenn ja, dann kann ich ihn nicht sehen."
Harry überlegt. „Ja", sagt er schließlich; langsam und unsicher, und dennoch, etwas Entschlossenes
liegt in seiner Stimme; etwas, dass davon zeugt, dass er sich sicher ist; dass er die Antwort gefunden
hat, die ihm als die richtige erscheint; dass er zu wissen glaubt, die Wahrheit zu kennen.
„Ja und nein. Ich denke nicht, dass es einen gegebenen und festgelegten Grund für unser Dasein gibt.
Aber das können wir ändern, verstehst du? Wir selbst – und wir selbst allein – haben die Möglichkeit,
unserem Leben einen Grund zu verleihen. Wir haben die Wahl, ob und wie viel Sinn wir unserem
Dasein zumessen möchten. Der Sinn des Lebens ist es vielleicht, dem Leben einen Sinn zu geben."
„Und was für einen Grund? Was für einen Grund kann man dem Leben schon geben?"
Oh, Louis... Bist du so zerbrochen?
„Nun, ich denke, da gibt es vieles. Zum einen das Leben selbst. Zu leben. Leben und leben lassen. Zu
lieben. Ehrlich lieben. Lieben und geliebt zu werden. Denn das Leben, Louis, kann man nur genießen,
wenn man es lebt."

057.
Harry sieht Louis an; betrachtet seine hohen Wangenknochen und seine geschwungenen Lippen;
seine weiche, gebräunte Haut und seine runde Nase. Seine zimtbraunen, allzeit verwuschelten Haare
und seine blauen, so unendlich blauen Augen. Er sieht ihn lange an. Man könnte meinen, er habe sich
satt gesehen, doch dem würde niemals so sein, dass weiß Harry. Er weiß es.

058.
„Das Leben, Louis, ist diese eine Chance, die wir haben. Den einen Versuch, glücklich zu sein. Ich für
meinen Teil möchte ihn genutzt haben."
„Aber es ist so schwer."
„Weißt du, ich glaube, mehr als alles andere ist Glück eine Entscheidung. Es ist keine gegebene
Tatsache, und es ist auch kein Ziel, das wir erreichen können. Ich denke, Glück ist ein fortwährenderProzess, der vielleicht unser ganzes Leben andauern wird. Aber mehr als alles andere ist es eine
Entscheidung."

059.
Louis fühlt sich wie Regen. Er möchte weinen und nicht mehr damit aufhören.

060.
„Was bedeutet Glück für dich?"
„Glück, wenn es denn existiert, ist für mich mit Einklang gleichzusetzen – Einklang mit dir selbst,
deinem Leben und deinem Umfeld. Ich denke, Annehmen ist das Fundament, auf dem das Glück des
Lebens aufbaut."
„Was meinst du damit?"
„ich meine, Louis, dass man es selbst in der Hand hat, ob man glücklich ist, oder ob man sich von
allem Traurigen runterziehen lässt. Und ja, so viele Menschen trauern ihrem Glück hinterher oder
regen sich darüber auf, wie schief doch alles in ihrem Leben gelaufen ist, dabei sind es doch nur sie
selbst, die es wieder gerade biegen können. Aber die Meisten versuchen es dann gar nicht und sehen
nur das Schlechte, ohne zu erkennen, wie viel Gutes sie doch trotzdem noch haben...
Und so viele Menschen sagen, sie möchten glücklich leben, aber jeder von ihnen tut nichts dafür,
sondern erwartet, dass die Dinge von ganz alleine super laufen. Wenn dann mal was schief geht,
verzweifeln sie gleich, ohne es eben einfach anzunehmen und zu akzeptieren - denn das Leben kann
nun mal nicht immer nur Sonnenschein bereithalten.
Ich glaube, der Schlüssel zum richtigen Glück es ist, zu erkennen, dass man im Leben eigentlich keine
Kontrolle hat. Zumindest nicht darüber, was passiert. Wir können lediglich entscheiden, wie wir
reagieren. Und natürlich können wir uns darüber aufregen, was alles schief gelaufen ist, aber das
macht uns nicht glücklicher. Es ist, was es ist und das müssen wir akzeptieren. Aber was es werden
kann - das liegt bei uns!
Wir alle wollen doch nur glücklich ‚werden'. Aber was wir allzu oft vergessen: Glück ist kein Ziel,
keine Endstation, die wir nach einem langen Weg erreichen können. Nein. Glück ist auch nicht der
Weg dahin. Glück ist eine Lebenseinstellung. Es ist die mentale Einstellung, die man dem Leben und
seinen Geschehnissen entgegen bringt. Ich kann mich Stunden darüber ärgern, den Bus verpasst oder
eine schlechte Note geschrieben zu haben. Ich kann mich selbst und andere ewig dafür hassen, nicht
allen Erwartungen entsprechen zu können. Aber das macht mich nicht glücklicher. Und auch
niemanden sonst. Und deshalb kann ich die Dinge auch einfach so nehmen, wie sie sind, dankbar
darüber zu sein und das Beste daraus machen.
Glücklich-sein ist keineswegs einfach. Aber es ist auch kein immer währender Zustand. Es ist eine
Entscheidung. Glück beginnt im Kopf. In deinen Gedanken. Es liegt allein in deiner Hand, ob du mit dir
und deinem Leben glücklich bist.
Wir haben also die Macht, glücklich zu sein. Aber warum tun wir es dann nicht? Weil wir Angst
haben. Wir haben Angst, uns auf dieses unbekannte Terrain zu begeben.
Zum einen müssen wir uns dann mit uns, unserem Leben und anderen auseinandersetzten. Wie
müssen etwas tun, handeln, leben.
Und zum anderen, zum anderen fürchten wir so sehr, enttäuscht zu werden. Wir haben Angst, dass
wir dieses neuentdeckte Glück nicht halten können, dass es nur von kurzer Dauer ist und wir danach
sowieso wieder fallen werden - und zwar tiefer als zuvor, weil wir ja jetzt das Gefühl kannten, ganz
oben zu sein."
Die Sonne scheint durch das Fenster, trifft auf Louis Augen, die von seinen Tränen mit einem
silbernen Glanz überzogen sind, und lässt sie so hell aufleuchten.
„Ich glaube, wir Menschen wären glücklicher, wenn wir das Gefühl von Glück nicht andauernd
vergessen würden."

061.
„Woraus bestehen Menschen?"„Aus Liebe und Hass. Aus Mut und Furcht; Barmherzigkeit und Grausamkeit; Milde und Jähzorn;
Weichheit und Härte; Klugheit und Torheit; Stärke und Schwäche; Licht und Schatten.
Aus Menschlichkeit."

062.
„Ich bin schwach, Harry. Ist das ein Problem für dich? Ich habe schon oft geweint. Und es macht mich
nicht weniger stark als dich. Schwäche ist nicht das Gegenteil von Stärke. Das Gegenteil von Stärke ist
gar nichts."

063.
„Harry, ich kann das nicht mehr. Hast du mal auf die Leute geachtet, wenn wir händchenhaltend
durch die Straßen laufen? Siehst du ihre Blicke? Hörst du sie reden? Ich ertrage das nicht länger.
Überall, wo ich hinkomme, werde ich verurteilt.
Es ist, als wäre man ein Buch und die Menschen beurteilen einen nach den Bildern darin, ungeachtet
der Tatsache, dass es um den Text geht; als hätten sie die Fähigkeit verlernt zu lesen.
Ich habe das Gefühl, niemand versteht heutzutage, dass die Dinge nicht immer so simpel und einfach
zu erklären sind, wie es vielleicht scheinen mag. Es ist nicht immer so, wie man zuerst annimmt und
wenn man länger darüber nachdenken würde, würde man erkennen, dass alle Dinge viel zu
vielschichtig und komplex sind, dass sie überlappen und nicht klar zu bestimmen sind und dass man
nicht das Recht hat, nach dem ersten Eindruck; dem ersten Blick; der ersten Begegnung zu
behaupten, etwas über jemanden zu wissen, über ihn zu urteilen, ihn abzuwerten.
Denn eine Person ist mehr als das, was wir sehen.
Wir alle sind mehr."

064.
„Ich weiß, Louis. In manchen Momenten vergesse ich es; in manchen Momenten entfällt es mir; in
manchen Momenten denke ich nicht daran, dass nahezu jedes Gesicht uns komische Blicke zuwirft,
aber nur allzu bald holt mich die Dunkelheit des Augenblickes wieder ein.
Aber ich verstehe es nicht; ich kann es einfach nicht mehr nachvollziehen. Warum, warum um Gottes
Willen, kann man uns nicht einfach so sein lassen, wie wir eben sind? Niemand verlangt doch von
einem, dann sofort ebenso zu sein! Ich meine, man muss es doch auch nicht nachvollziehen können,
sondern einfach nur endlich akzeptieren. Und ist es denn so schwer? Ist es wirklich so schwer,
Menschen einfach lieben zu lassen, wen sie nun einmal lieben, ohne ihnen hereinreden zu müssen,
das sei ‚falsch' und ‚unnatürlich'?
Wir Menschen sind so verdammt verblendet. So sehr gefangen in unserer subjektiven
Wahrnehmung, und dennoch meinen wir, die Wahrheit zu kennen."

065.
„Das Leben ist wie das Tanzen auf einem dünnen Seil. Entweder, man tanzt erst gar nicht oder man
begeht das Risiko, zu fallen. Tief zu fallen."

066.
Louis sieht hinauf in den strahlend blauen Himmel und die goldene Sonne lässt seine Tränen silbern
glitzern; ihre roten Strahlen vermischen sich mit dem Blau seiner Augen, lassen sie so hell
aufleuchten.
Harry sieht ihn an und spürt ebenfalls die Nässe von Tränen auf seinen Wangen. Er lässt zu, dass
Louis' Schmerz zu dem seinen und zu einem einzigen Schmerz wird, und er weiß, denkt er, dass ihm
Louis langsam, aber sicher entgleitet.
Und Harry fürchtet sich davor, er fürchtet sich so sehr davor, dass dieser Junge neben ihm
irgendwann einmal nicht mehr da sein wird.
Harry beginnt zu ahnen, dass es letztendlich so kommen wird. Und es tut weh, das zu wissen.

067.
„Ich glaube, ich bin zerbrochen, Harry. Und ich breche jeden Tag aufs Neue. Denn auch Scherben
können noch weiter zersplittern, nicht wahr?"
„Nein, Louis. Nein. Es mag sein, dass du verbogen bist. Es mag sein, dass du verformt bist. Es mag
sein, dass du abgenutzt und gerostet bist. Aber du bist nicht gebrochen."
Louis sagt nichts. Und das ist der Anfang vom Ende.

068.
„Vergiss niemals, dass du die Macht hast, dein Leben zu verändern und so zu formen wie du willst.
Niemand wird kommen, um dich zu retten. Du musst dich selbst retten.
Und ja, mitunter ist das Leben eine nicht enden wollende Folter – aber es ist dennoch das Schönste,
das wir jemals erleben werden."

069.
„Du hast meine Liebe, heute, Morgen und für immer.", sagt Louis in die Stille hinein. Und vielleicht ist
es ein Versprechen.

070.
„Vielleicht geht es im Leben nicht darum, immer und zu jeder Zeit zufrieden zu sein. Vielleicht geht es
darum zu lernen, auch die schrecklichsten Zeiten schön zu finden."
„Ich weiß es nicht.", sagt Louis.
Und bis jetzt hat Harry nicht gewusst, wie viel Leere in der Stimme einer Person liegen kann.

071.
„Weißt du, Louis, du kannst das Leben nur genießen, wenn du lebst." sagt Harry irgendwann.
Und für einen Augenblick lang befindet Louis sich wieder in Jamaica in dem kleinen Ferienhaus. Es ist
Samstagmorgen und er sitzt am Frühstückstisch. "Weißt du, mehr als alles andere ist das Leben dazu
da, gelebt zu werden.", sagt sein Großvater. „Wir alle sind hier, um zu leben. Zu leben und zu lieben
und zu lachen. Durch den Regen zu tanzen und dann doch wieder vom Licht der Sonne geblendet zu
werden." Louis vermisst seinen Großvater. Und er erinnert sich an dessen letzte Worte; an seine
Worte vor gut zweieinhalb Jahren, die er in einem steril riechenden Krankenhausbett unter dem
grellen Licht einer Neonlampe zu ihm sagte: „Soll es das sein?, frage ich mich. Soll das mein Leben
sein? Das kann es noch nicht gewesen sein, oder etwa doch? Aber da ist doch noch so vieles, das ich
erleben will; so vieles, das ich noch sagen, noch tun will. Mir fehlen doch noch so viele Puzzleteile, das
Bild ist noch lange nicht vollständig. Doch jetzt ist es zu spät, nicht wahr? Und deshalb sage ich dir:
lebe, als stürbtest du morgen. Plane, als lebtest du für immer. Denn in einem Jahr wirst du dir
wünschen, du hättest heute damit angefangen. Mit leben."

072.
„Manche Dinge kann man nicht mehr reparieren, Harry." Louis spricht von sich selbst, als er Harry
das sagt, und Harry weiß es; er sieht es in Louis Augen; sieht den Schmerz darin und die tiefgehende
Verzweiflung. Seit wann ist dieser Junge vor ihm nur so geworden; wo ist der lebensfrohe Louis hin,
den er gekannt und in den er sich verliebt hat? Aber vielleicht, denkt Harry, vielleicht ist Louis in
seinem Herzen schon immer so gewesen; vielleicht ist er es schon, seit seine Mutter ihn das erste
Mal geschlagen und seine Schwestern ihn das erste Mal beschimpft haben; seit er erfahren hat, das
er seinem Vater anscheinend nicht Grund genug war zu bleiben; seit irgendwann dann auch noch die
Gesellschaft, diese schreckliche Gesellschaft ihm immerzu vermittelt hat, er sei nicht gut und nicht
genug. Ja, vielleicht ist Louis Tomlinson schon immer so gewesen, und vielleicht hat er auch allen
Grund dazu.
Harry schweigt einen Augenblick.
Dann sagt er: „Es muss erschöpfen, etwas reparieren zu wollen, das nicht kaputt ist."

073.
Louis sieht müde aus. Nicht die Art von müde, die von wenig Schlaf zeugt, nein. Seine Müdigkeit geht
tiefer und rührt von etwas anderem her, als nur einem Mangel an Ruhe.
Harry sieht ihn an und für einen kurzen Augenblick meint er, so etwas wie Aufgeben in seinen Augen
gesehen zu haben.
"An manchen Nächten schaue ich in den Himmel. Ich schaue in den Himmel und sehe all die Sterne,
ich sehe ihr Licht und ihr unendliches Leuchten. Es sind so viele von ihnen, so viele... Und dann
schaue ich in den Spiegel und sehe keinen einzigen"
"Louis", entgegnet Harry leise und sanft, " Augen können nicht leuchten, es sei denn, es scheint
etwas dahinter. Und das kann es immer nur tun, wenn man lebt. Denn es gibt einen Unterschied
zwischen Leben und Existieren, verstehst du?"
„Ja", sagt Louis mit Tränen in den Augen. „Aber mit dem Leben kommt stetig und unaufhaltsam auch
Schmerz. Und manchmal kann man daran kaputt gehen.
Mein Leben war wundervoll, Harry. Ich habe erfahren, wie es ist, von ganzem Herzen geliebt wurden
zu sein. Und das ist alles, was ich mir ersehnt habe."
Louis ist kurz davor, endgültig zu zerbrechen. Harry sieht es in seinen Augen.
„Das ist immer so, Lou. Schmerz und Freude sind untrennbar miteinander verknüpft; mit dem einen
geht unausweichlich auch das andere einher. Aber das ist okay, denn ist die Freude nicht so viel
schöner, wenn man auch das Gegenteil kennt?"
Louis antwortet nicht. Und ein Hauch von Endgültigkeit liegt in der Luft. Es macht Harry Angst.

074.
„Was macht dich glücklich, Hazza?"
„Das Gefühl, etwas Gutes in der Welt getan zu haben. Die Art, wie die Leute einen anlächeln, wenn
man sie glücklich gemacht hat. Der Geruch von Büchern und das Gefühl von bedrucktem Papier unter
den Fingern. Die Art, wie man sich fühlt, wenn man in Musik versinkt. Mit anderen Menschen reden
und sie zum Lächeln bringen. Die Freiheit, die man verspürt, wenn man ganz schnell Fahrrad fährt
oder rennt und der Wind einem durch die Haare weht. Das Gefühl von Rehgentropfen auf der Haut.
Personen, die grundlos freundlich sind (obwohl die Freundlichkeit an sich eigentlich schon Grund
genug ist). Leute mit denen ich tiefgründige Gespräche führen kann. Mathematik. Dinge, die ich gut
kann. Jemandem etwas schenken, worüber derjenige sich freut. Menschen, die andere nicht
verurteilen, sondern einfach nur neugierig sind. Wenn jemand mich anlächelt. Dinge, in denen man
versinken kann, wie zum Beispiel lesen oder Sport. Das Lachen von anderen, nachdem man einen
Witz gemacht hat. Jemandem eine Freude zu machen. Sonnenauf- und untergänge. Wenn ich ein Bild
fotografiere und es danach wunderschön ist. Viele Dinge. Du. Das Leben an sich." Harry macht eine
kurze Pause; er möchte eine Frage stellen, aber er fürchtet die Antwort. „Und was macht dich
glücklich, Lou?"
„Ich weiß es nicht mehr." Man mag sich kaum vorstellen, wie viel Leere in den Augen einer Person
liegen kann.
Louis ist gebrochen, und vielleicht versteht Harry das, als sie ihn ansieht. Vielleicht versteht er, dass
diese Leere in Louis' Augen seinen gesamten Körper ausfüllt; dass diese Dunkelheit draußen zu jeder
Zeit in Louis' Herzen ist.
„Bin ich dir nicht mehr genug?"
„Es liegt nicht an dir, Harry. Du bist wundervoll. Aber diese Welt ist es nicht und ich verkrafte es nicht
mehr."
„Warum fokussierst du dich nur auf das Negative?"
„Nun, das liegt nun einmal leider Gottes in der Natur des Menschen."
Louis fühlt keinen Schmerz mehr. Nur das dumpfe Gefühl der Taubheit.
„„Du verbeißt dich in deinem Hass und siehst nichts anderes. Du konzentrierst dich so darauf, aber es
macht dich kaputt. Es höhlt dich innerlich aus, weil es dich verzehrt. Hass kann immer nur
zerstören.", sagt Harry. Ja, er sieht es auch, diese Welt und die Menschen darauf sind oft sehr
grausam. Aber das ist noch lange kein Grund, sie zu hassen. Jeder Mensch hat Liebe verdient.
Aber Louis, so scheint ihm, Louis ist von Hass erfüllt. Harry hat nur noch nicht herausgefunden, ob
dieser sich gegen die Menschen im Allgemeinen oder gegen Louis' selbst richtet.Louis sieht Harry an und Harry kann nicht mehr in seinen Augen lesen wie früher. „Vielleicht sieht
jeder im Leben etwas anderes. In den Menschen."

075.
„Ist man dann tod, wenn das Herz aufhört zu schlagen? Oder schon dann, wenn es keinen Grund
mehr dazu hat?"
Harry weiß nicht, was er darauf sagen soll.
"Es wird einfacher werden. Es wird einfacher, ich verspreche es dir."

076.
„Was ist nur geschehen, Louis? Was ist geschehen, dass du die Welt so siehst?"
„Das, was jedem passieren kann. Das Leben, schätze ich."
„Erzähl' es mir. Ich werde zuhören."
Louis fängt an zu weinen. Er lässt sie heraus; lässt sie fließen, wie als hätte er alle Tränen; allen
Schmerz hinter einem sorgsam errichteten Staudamm aus Gleichgültigkeit versteckt, und dieser
würde nun endlich brechen.
„Es ist okay. Es ist okay, Lou. Shh, es ist okay." Harry nimmt Louis in den Arm, hält ihn, verleiht ihm
den Halt, den er nicht finden kann, in dieser Welt, die sich so schnell dreht.
„Harry, gestern... hat sich meine Mutter umgebracht. Sie hat sich einfach umgebracht. Sie ist weg,
verstehst du? Einfach weg. Als hätte es sie nie gegeben; als hätte sie nie existiert. Und weißt du, was
das Schlimmste ist? Ich habe sie nie wirklich gekannt. Was wusste ich schon über sie? Kann ich sagen,
welche ihre Lieblingsteesorte war und was sie wirklich glücklich machte? Kann ich sagen, auf welche
Weise sie die Welt gesehen hat? Kann ich sagen, was ihr wichtig war in dem, was wir ‚Leben'
nennen? Was ihre Träume waren; ihre Hoffnungen; ihre Ziele; ihre Ängste? Nein, ich weiß nichts von
alledem. Und ich habe die Chance darauf verspielt, es jemals herauszufinden."
„Louis, dass deine Mutter sich umgebracht hat, ist nicht deine Schuld."
„Das kannst du nicht wissen, Harry. Ich war ihr anscheinend kein triftiger Grund zu bleiben. Ihr nicht
und meinen Schwestern auch nicht. Sie sind nach Amerika gegangen, allesamt. Um sich ein neues
Leben aufzubauen. Und was ist mit mir? Wie soll ich mir schon ein neues Leben aufbauen, wenn ich
noch nicht einmal eines davor hatte? Bei dem Versuch, alles zusammenzuhalten, bin ich wohl selbst
immer mehr zerrissen." Louis weint nun unaufhörlich. Er zittert am ganzen Körper und Harry hat
Angst um ihn; er hat so große Angst um ihn, so dass er nichts fühlt außer alles überschattenden
Schmerz. Schmerz, weil er ahnt, dass seine Angst begründet ist.

077.
„ich bin kein Grund zum Bleiben.", sagt Louis nach einigen Minuten; gefasst, ernst, entschlossen. Er
hat aufgehört zu weinen, aber die Tränen haben nasse Spuren auf seinen Wangen hinterlassen, in
denen sich das Licht der Sonne spiegelt; ein Zeugnis seines Schmerzes und dennoch etwas, das
leuchtende Spuren auf seine Haut zaubert und sie mit Funken überzieht.
„Für mich bist du einer.", sagt Harry. „Ich würde immer und zu jeder Zeit für dich bleiben. Du bist
wertvoll, Louis. Du bist genug. Du warst schon immer genug, und du wirst es immer sein. Du wirst
geliebt, Lou. Von so vielen. Vergiss das nicht. Vergiss nicht, dass du geliebt wirst. Denn das ist eines
der wertvollsten Dinge in diesem Leben."
„Ich werde geliebt, werde geliebt, geliebt. Ich werde geliebt." Louis wiederholt diese Worte; immer
und immer wieder wie ein Mantra; als wären sie der Anker, an den er sich klammert; der einzige
Grund, der ihn davon abhält, vollends zu versinken; zu fallen in die unendliche Leere des Universums.
„Louis", sagt Harry und mit einem Male ist es, als wäre dieser Junge vor ihm schon gegangen.
„Würdest du denn auch für mich bleiben?"
Schweigen bleibt. Es ist die Stille vor dem Sturm.

078.
„Man kann in vielen Dingen im Leben verloren gehen. Auch in Schmerz."
„ich weiß, Harry. Aber manchmal fühlt sich das besser an, als wenn man es im Leben selbst tut."„das Leben ist schön, Lou. Vergiss das nicht."
„Wie soll man etwas vergessen, an das man sich nicht erinnert?"

079.
„Jeder von uns ist dazu bestimmt, er selbst zu sein.
Für die Dinge, die man liebt und unbedingt erreichen will, sollte man immer kämpfen. Und all die
Narben, die man bei diesem Kampf davonträgt, sind letztendlich nicht schlimm, denn sie haben uns
zu dem gemacht, der wir sind. Weil wir an schweren Situationen wachsen. Und weil ein Sturz nicht
schlimm ist, sondern nur eine weitere Gelegenheit, zu lernen, wie man wieder aufsteht.
Verletzt zu werden gehört nun einmal zum Leben dazu.
Und vielleicht geht es im Leben nicht darum, zu jeder Zeit glücklich zu sein, sondern einen Weg zu
finden, auch die schlimmsten Zeiten zu genießen."
„Vielleicht ist das unmöglich."
„Vielleicht liegt es in unserem eigenen Ermessen, ob etwas möglich ist oder nicht."

079.
„Ich möchte doch nur nach Hause kommen... Wo auch immer das ist. Aber ich habe das Gefühl, mich
selbst verloren zu haben."
„Egal, was man verliert; einen Anfang kann man überall finden."
„Ich hoffe so sehr, dass du Recht hast..."

080.
„Harry, ich werde gehen. Es tut mir leid. Ich ertrage es nicht mehr. Alles an dir erinnert mich an
früher und alles an früher erinnert mich an sie.
Und außerdem habe ich es satt. Ich habe es so satt, komische Blicke auf der Straße zugeworfen zu
bekommen. Ich habe es so satt, mich nicht zu trauen, in der Öffentlichkeit deine Hand zu halten. Ich
habe es so satt, auf die Frage ‚Warum trägst du Mädchensachen?' immer und immer wieder ‚Das
sind keine Mädchensachen' zu antworten. Ja, manchmal trage ich Röcke, na und? Hat die Welt keine
schlimmeren Probleme, als ein Junge, der sich selbst verwirklicht? Hat sie keine schlimmeren
Probleme, als zwei Männer, die sich lieben? An jeder Hausecke bekomme ich ein ums andere Mal
aufs Neue nur vermittelt, dass ich anscheinend nicht erwünscht bin. Und es... es ist ein Schmerz
jenseits aller Grenzen, nicht wahr?"
Louis macht eine kurze Pause. Vielleicht, weil er selbst den Entschluss noch nicht ganz gefasst hat; es
noch nicht vollständig über sich bringt.
„Und deshalb werde ich gehen. Ich habe auch schon eine neue Wohnung, denn ich...ich habe jemand
neuen kennengelernt; eine Frau, und ich glaube, ich liebe sie. Es tut mir leid, Harry. So sehr."
„Ich konnte dir nicht geben, was du gesucht hast, ist es nicht so?"
„Nein. Um zu finden musste ich immer nur in deine Augen schauen, Harry. Aber ich habe alles wieder
verloren, sobald ich die Ablehnung auf den Gesichtern der Menschen gesehen habe; diese
Ablehnung, die mir galt."
„Bist du sicher, Lou? Soll es das gewesen sein?"
„Ja."
„Dann wünsche ich dir, dass du deine Zukunft findest, in dieser Welt, die manchmal so grausam und
oft so wunderschön sein kann. Ich wünsche es dir von ganzem Herzen."
Wie kann ich sie finden, wenn ich sie gerade verlasse?, fragt Louis sich, denn seine Zukunft hat er
immer nur in Harrys Augen gesehen.
„Ich habe dich geliebt, Harry. Von ganzen Herzen. Vergiss das niemals."
„Wenn du jemanden brauchst... Du kannst immer zu mir kommen."
„Danke. Mach's gut, Harry."
„Mach's besser, Lou."
Sie lachen beide. Doch es ist kein glückliches Lachen.
Harry sieht Louis an; betrachtet seine blauen Augen, in denen er so oft versunken ist; seine
schokoladenbraunen Haare, die das Licht einfangen und so hell aufleuchten, schaut sein Gesicht an;sein Lachen und die Fältchen, die sich dabei in seinen Augenwinkeln bilden; versucht, es sich
einzuprägen, damit er es niemals vergessen kann.
Louis lächelt Harry an. Ein letztes Mal.
Und es ist das Geräusch von Endgültigkeit, mit dem die Hacken von Louis' Schuhen über das Paket
klackern. Sie werden sich niemals wiedersehen.

081.
An jenem Tag hält die Trauer Einzug in Harrys einst so leuchtenden Augen.

082.
Louis sieht sie an und sagt sich, dass er sie liebt. Aber da fehlt irgendetwas; irgendetwas ist nicht
richtig; irgendetwas macht es nicht vollständig. Seine Gedanken wandern zu Harry und er findet, was
er gesucht hat.

083.
Sie ist arbeiten. Sie ist jeden Abend arbeiten. Und es ist wahrhaft kein Traumjob, nein, dieser würde
seinen Platz wohl kaum in einem kleinen und ebenso verruchten Bordell am Rande einer Großstadt
finden. Manchmal lässt uns das Leben keine andere Wahl, als täglich mit Leid konfrontiert zu werden.
Wie wir schlussendlich damit fertig werden, das kümmert es nicht.
Sie versteht ihn. Denn ist genauso gebrochen wie Louis. Vielleicht ist es das, das sie miteinander
verbindet; ihr Schmerz und das sie beide keinen Ausweg sehen; keinen Ausweg aus diesem
grausamen Ort, der sich ‚Das Leben' nennt.

084.
Louis ist alleine in dem großen Zimmer.
Nur die Schatten an den Wänden leisten ihm Gesellschaft; die Schatten, die sich auch schon längst in
seinem Herzen eingenistet haben und es fest umschließen.
Die sterbende Sonne erhellt die Welt für ein letztes Mal; das verzweifelte Aufleuchten vor dem
unaufhaltsamen Verglühen; ein letzter Versuch, sich an diese Welt zu binden.
Und die angebrochene Nacht fordert ihren Tribut von dem jungen Mann, so wie jedes Mal. Als er
weinend auf seinem Bett zusammenbricht, ist niemand da, der ihn halten kann, ihm sagen kann, dass
es okay ist. Niemand ist da, der seine Tränen abwischen kann, und Louis selbst hat schon vor langer
Zeit damit aufgehört. Wozu, wenn doch eh immer neue kommen? Seit jeher kennt nur die Nacht
Louis' Tränen, nur sie weiß um seinen Schmerz. So war es immer und so wird es immer sein. Der Wind
trägt sein Schluchzen durch das geöffnete Fenster nach draußen, lässt es mit den Geräuschen der
Nacht verschmelzen und in der Ferne leiser und leiser werden. Fast so, als bezweckt er etwas damit,
bringt er es auch zu anderer Menschen Ohren, die ihrerseits am geöffneten Fenster stehen. Hört ihr
das Weinen? Hört ihr es? Der Schmerz eines Mannes, der doch eigentlich nur er selbst sein wollte...
doch anscheinend ist das in der heutigen Zeit zu viel verlangt..., flüstert der Wind, doch sie verstehen
es nicht, können es nicht verstehen, hören nur ein Rauschen und in der Ferne ein leises Wimmern.
Wenn sie nur wüssten... Wenn sie nur verstünden...

085.
„Kennst du das? Das du einfach nur auf deinem Bett sitzt und an die Wand starrst, ohne irgendetwas
wahrzunehmen, fast wie in Trance, leer und völlig taub. Es können Sunden vergehen und doch
erscheint es dir wie Sekunden, du verlierst dich im Raum und hast kein Gespür mehr für irgendwas."
„Du wirkst weit weg, Louis. Woran denkst du?"
„Ich denke schon den ganzen Tag über eine Sache nach, aber ich... weiß nicht, was ich machen soll.
Ich habe Angst, etwas falsches zu tun."
Für einen Moment ist es still zwischen ihnen.
Louis blickt aus dem Fenster und in diesem Moment weiß er mit alles erdrückender Gewissheit, dass
er kein Glück erfahren wird, in diesem Leben.„Was auch immer du gemeint hast, Louis, das dich nicht loslässt und zum Grübeln bringt, vielleicht
kenne ich ja deine Antwort. Wenn du zwischen zwei Dingen wählen musst und dich nicht
entscheiden kannst, dann wähle immer das, mit dem du eher leben kannst."
Aber meine Wahl ist die, zwischen Leben und Tod. Und bei dem einen kann ich gar nicht leben, bei
dem anderen nur so, dass ich es nicht ertrage.

086.
Und Louis' Tränen fließen, angetrieben durch die Erinnerung.

087.
„Warum weinst du, Louis?"
„Es ist nichts, Liebling."
„Lüg mich nicht an, Lou; tu das bitte nicht. Ich liebe dich, das weißt du, oder?"
„Ich... ich muss an die frische Luft. Heute Abend bin ich wieder da."
Warte nicht auf mich, nicht dieses Mal. Heute werde ich nicht nach Hause kommen.

088.
Louis läuft mit entschlossenen Schritten die Straße entlang. Es ist kalt und der Wind pfeift unter seine
dünne Jacke; zerrt an seinen Haaren, doch es stört ihn nicht. Denn wenn die Kälte in dir ist, dann
frierst du unaufhörlich und zu jeder Zeit. Egal, ob nun die Sonne scheint oder nicht. Und Louis Inneres
ist schon seit einer sehr langen Zeit von Kälte erfüllt; einer schrecklichen Kälte, die sich in seinen
Körper bohrt wie Eis und ihn erstarren lässt.
Louis betritt den Park, der gegenüber von der kleinen Wohnung liegt, in der er mit Harry so viele
Jahre zusammen gelebt hat. Er sieht nicht zu ihr; will das Licht nicht sehen, dass aus ihren Fenstern
scheinen wird; will Harry nicht sehen, der dort stehen könnte. Denn er weiß, dann wäre er nicht
weitergegangen.
Er nimmt den größten Weg von allen; den, der unter den Weiden verläuft und schließlich zu einer
Brücke führt. Einer Brücke, die lang und hoch ist, und der Fluss unter ihr tief und reißend. Es ist der
perfekte Ort.
Louis Füße tragen ihn wie von selbst durch den Park und auf die Brücke zu und als er sie erreicht,
verweilt er nicht, wie sonst immer, um sich in der Ruhe des Wassers zu verlieren. Nicht dieses Mal.
Nicht heute. Er geht bis zur Brückenmitte, bis er endlich stehen bleibt. Seine Finger schließen sich um
das Geländer. Er streicht darüber, fährt die Linien nach, die irgendjemand in das Holz geschnitzt hat.
Irgendjemand, der vielleicht genau dasselbe vorhatte, wie Louis jetzt. Vielleicht ist es aber auch
jemand gewesen, der glücklich war mit seinem Leben. Vielleicht ist er in der Nacht auf die Brücke
gegangen, um die Sterne zu beobachten, oder am Tag, weil er einen Fischreiher sehen wollte.
Vielleicht sind es auch zwei Personen gewesen, die ihrer Liebe oder ihrer Freundschaft ein
Erinnerungsstück setzen wollten, sie unsterblich machend. Wer auch immer es gewesen ist, er hatte
sich verewigt in diesem Holz. Und Louis beschließt, wenn es schon seine letzte Nacht auf dieser Welt
ist, dann wird auch er ein Zeichen hinterlassen; ein letzter Beweis, dass er einmal gelebt hat; dass
einmal ein Junge mit Augen so blau wie das Wasser, das seinen Weg unter der Brücke findet, auf
diesem Planeten gewesen ist. Er muss nicht überlegen, um zu wissen, was genau er dieser Brücke
hinzufügen möchte.
Er sucht sich am Ufer einen spitzen Stein - und davon gibt es viele. Es scheint ganz so, als würde der
Fluss wollen, dass so viele Menschen ihr Zeichen hinterlassen. Auf jeden Fall aber will er, dass Louis
sein Zeichen hinterlässt, denn dieser hat nicht einmal suchen müssen, um den richtigen Stein zu
finden. Vielleicht ist das aber einfach auch so im Leben; vielleicht müssen wir nicht suchen, um zu
finden; vielleicht haben wir nur aus den Augen verloren, dass wir alles, was wir benötigen, in
unserem Herzen tragen und das es uns schon den richtigen Weg zeigen wird - wenn wir ihm nur
folgen.
Louis wird es nicht mehr herausfinden.

089.
Verlogen und kalt.
Das ist es, das Louis hinterlässt.
Denn diese Welt ist es; diese Welt ist verlogen und kalt.
Es ist eine so kalte Welt, dass sie das Feuer der Liebe nicht mehr zulässt; dass sie manchen Menschen
ihre Liebe verbietet.
Und sie ist so verlogen, dass sie einem vorgaukelt, jeder wäre gleich und hätte ein Recht auf ein
Leben in Freiheit.
Verlogen und kalt.

090.
„Danke, Harry. Du hast es geschafft, dass sich das Leben in manchen Zeiten erträglich angefühlt hat.
Meine Liebe gehört dir. Heute und morgen und für immer."

091.
Louis Tomlinson springt.
Und denkt an das Leben, das er hätte haben können.

092.
Am nächsten Morgen geht die Sonne auf.
Sie lässt diese Welt in goldenen Tupfen erstrahlen und überzieht sie mit flüssigem Honig. Der Himmel
strahlt; blau, gelb, orange, pink und grün. All diese Farben werden eins, vermischen sich, leuchten so
hell auf.
Das Licht breitet sich weiter aus; findet seinen Weg über die Dächer, durch die Fensterscheiben, in
die Augen der Menschen, bis zum Horizont.
Ein heller Glanz, mit der Erinnerung an Hoffnung.

093.
Das Leben geht weiter.
Silberne Regentropfen prasseln auf den Bürgersteig, über den all die Menschen hinweg hetzen; auf
dem Weg zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen.
Autos hupen, lassen ihre Reifen aufkreischen und jede Pfütze, die sie durchqueren, wird für einige
Momente zu einer Wasserfontäne, in der sich das Licht ihrer Scheinwerfer bricht.
Das Gurren der Tauben durchbricht die Stille in dem Park, der gegenüber einer kleinen Wohnung mit
grauer Fassade liegt; die Luft ist erfüllt von ihrem Scharren und Flattern; von dem Picken ihrer
Schnäbel nach vereinzelten Brotkrumen zwischen den Steinen.
Das Leben geht weiter.
Diese Welt dreht sich weiter, ungeachtet der Tatsache, das sie gestern Nacht für jemanden stehen
geblieben ist.
Die Sonne geht wieder auf, so wie sie es immer getan hat und immer tut und immer tun wird.
Die Passanten auf der Straße folgen einen weiteren Tag ihrem Tagesablauf; leben ihr Leben weiter,
so gut wie sie es eben können.
Die Tauben erwachen erneut aus ihrem Schlaf, schütteln ihr Gefieder und machen das, was Tauben
nun einmal machen.
Das Leben geht weiter.
Nur für Louis Tomlinson hat es aufgehört.

094.
Eine alte Frau sieht seinen Körper als erste. Zuerst denkt sie, es wäre nur ein großer Stein, doch als
sie näher tritt, erkennt sie, dass es ein Junge ist, der dort im Wasser schwimmt.
Er reagiert nicht auf ihr Rufen und eine Ahnung beschleicht sie; eine Ahnung, dass er nie wieder auf
irgendwas reagieren wird; dass er schon weg ist, diese Welt verlassen hat, vom Wind verweht wurde
wie die graue Asche eines Feuers.
Sie wählt den Notruf; 112.Polizisten kommen in blau-weißen-Autos angefahren, mit Blaulicht und Alarmsirene.
„Was ist da passiert?", fragt ein kleines Mädchen seine Mutter, doch sie kann ihm keine Antwort
geben. Sie weiß ebenso wenig wie jeder andere, was dort geschehen ist.
Ratlos blickt auch der rothaarige Verkäufer hinter der Bäckertheke seinen Kunden an. Polizei mit
Blaulicht in dieser frühen Morgenstunde? Und dann auch noch als Ziel der kleine Park?
Jetzt sind sie alle noch verwirrt, doch gut eine halbe Stunde später wandelt sich ihre Neugier in
Betretenheit um. Drei Polizisten verlassen mit einer von einem weißen Tuch überdeckte Tragebare
den Park und begeben sich in einen der Krankenwagen, die eben angekommen sind.
Die Emotionen auf den Gesichtern sind verschieden. Schock. Angst. Betroffenheit. Wehmut. Mitleid.
Scherz. Unverständnis. Verwirrtheit. Wut. Und wieder Schock. Doch auf ihnen allen ist die Frage zu
lesen: Habe ich sie gekannt; die Person, deren Leben ein Ende gefunden hat?
Einer unter ihnen wird sie bejahen müssen.

095.
Harry weiß, als er den Bäcker verlässt und die Menschentaube sieht, die sich mittlerweile vor dem
Park gesammelt hat, er seine Tüte fest umklammert und probiert, sich einzureden, seine Angst sei
unbegründet; als er sich einen Weg durch die vielen Menschen bahnt, diesen Stich in seinem Herzen
verspürend, diesen Stich, diese Angst, diese Ahnung; er von allen Seiten angerempelt wird und denkt
Wann immer etwas Schlimmes geschieht, müssen alle Menschen zusehen, als würde Leid sie
anziehen; als würden sie sich daran weiden; und er mitunter fast gestolpert wäre, über einen der
Steine zu seinen Füßen oder über ein anderes Bein, das sich in seinen Weg schiebt; er weiß, als er für
einen kurzen Augenblick in den Himmel sieht, auf dem noch die letzten Reste Gold zwischen dem
Blau schimmern, durchhaucht von weißen und rosanen Wolkenfetzen; er dann den Blick wieder
senkt und dieser auf der Tragebare landet, die soeben in einen Krankenwagen transportiert wird,
und er den Ausdruck auf dem Gesicht der Polizisten sieht; diesen Ausdruck von Schmerz; er weiß,
dass diese Welt heute einen Menschen verloren hat; einen Menschen mit blauen Augen, braunen
Locken und einem Lächeln aus Gold; einen Menschen, der ihm so viel, so unendlich viel bedeutet hat;
einen Menschen, dem er als erstem und einzigem seine Liebe geschenkt hat.
Einen Menschen, mit dem nun auch Harrys Herz gegangen ist.

096.
Harry vermisst Louis.
Er geht Einkaufen und versucht, seine Gedanken von dem Jungen mit den blauen Augen zu lösen,
doch sein Verstand ist erfüllt von ihm. Louis hat diesen veganen Käse immer geliebt. Wie von selbst
greifen Harrys Finger nach der Käsepackung; umschließen sie und halten sie fest. Sie ist ein
Erinnerungsstück.
Harry vermisst Louis.
Er geht an die Kasse und lächelt die Verkäuferin an. „Ist das alles?" „Ja, ist es." „Gut, das macht dann
ein Euro zwanzig." Harry gibt ihr einen Fünf-Euro-Schein. „Das passt so. einen schönen Tag Ihnen
noch! Vergessen Sie nicht zu lächeln." Wie es anderen geht, liegt nicht außerhalb unserer Reichweite.
Wenn wir morgens aufstehen, können wir immer eine Entscheidung treffen, ob wir etwas verändern
wollen oder ob wir das nicht tun möchten. Unsere Wahl sollte auf ersteres fallen. Denn diese Welt
braucht ein bisschen Liebe. Das hat Louis immer gesagt. Und er hat Recht.
Harry vermisst Louis.
Er verlässt den Supermarkt und wie von selbst tragen seine Füße ihn an seiner Wohnung vorbei in
den Park und zu der Brücke. Der Brücke; die letzte Sache, die Louis Tomlinson gesehen hat, den
letzten Ort, an dem er sich aufhielt. Was mochte Louis damals gedacht haben?, fragt sich Harry.
Harry vermisst Louis.
Er blickt in den goldenen Himmel und sieht der Sonne beim Sterben zu. Rot und Gelb vermischen
sich, werden eins, verschmelzen zu einer einzigen Farbe. Dazwischen helle Strahlen; fast wie ein
letzter verzweifelter Versuch, sich auf dieser Erde zu halten; noch nicht zu gehen.
Harry vermisst Louis.Seine Finger schließen sich um das Brückengeländer; ertasten die Kerben darin und die feinen Linien.
Da kühle Holz fühlt sich rau an unter seinen Händen; rau und gleichzeitig auch weich. Er streicht
darüber und denkt an Louis. Er denkt immer an Louis.
Der Himmel beginnt dunkler zu werden und Harry beginnt zu frieren. Er begibt sich auf den Weg
nach Hause, langsam und ein wenig zögerlich, denn sein zu Hause ist nicht länger eines ohne Louis.
Harry vermisst Louis.
Die Sonne scheint es auch zu tun, denn sie möchte gar nicht weichen, bis spät in die Nacht bleibt ein
heller Schimmer, als würde sie ihn suchen; den Jungen mit den braunen Locken und den blauen
Augen und dem Lächeln aus Gold. Du wirst ihn nicht finden, denkt Harry. Du wirst ihn nie wieder
finden... Es tut weh, so weh. Und es hört nicht auf. Harry möchte, das es aufhört.
Harry vermisst Louis.

097.
Es ist eine weiße Rose, die Harry auf Louis' Grab legt. Denn weiße Rosen stehen für Neuanfang und er
hofft so sehr, dass, wenn es ein Leben nach dem Tod gibt; irgendwas; eine weitere Stufe der Existenz;
dass Louis Tomlinson dann endlich seinen Frieden gefunden hat; seinen Halt, den er auf dieser Erde
nicht finden konnte; auf dieser Erde, die sich so schnell dreht; viel zu schnell für manche und zu
langsam für andere.
Ich werde mich an dich erinnern.

098.
„Louis Tomlinson. Er war ein Mensch, der an dieser Welt zerbrochen ist. Ich glaube, es lag daran, dass
er sich selbst nie genug gefühlt hat und sich vielleicht selbst auch nie genug war. Er hat in den Spiegel
geschaut und konnte das Licht nicht finden, das ich all die Jahre in seinen Augen gesehen habe. Ich
wünschte, er hätte es getan, denn vielleicht wäre er dann heute noch hier. Aber es spielt keine Rolle.
Wichtig ist nicht, was hätte sein können, es zählt nur, was schlussendlich wirklich geschehen ist. Und
leider Gottes vermögen wir das nicht zu ändern. Das Leben spielt seine grausamen Karten aus, und
wir müssen zusehen, wie wir damit klar kommen.
Und deshalb werde ich Louis Tomlinson als die Person in Erinnerung behalten, die er war: Jemand
der sein Leben gelebt hat, so gut wie er es eben konnte und der es verdient hatte, dass man für ihn
bleibt – auch, wenn er es nicht immer sehen konnte. Ein Junge, der zu jeder Zeit in seinem Leben für
Gleichberechtigung von jedem einzelnen auf diesem Planeten aufgestanden ist und der gekämpft
hat, für die Welt, die er sich erträumte.
Ich werde ihn in Erinnerung behalten, als die Person, die er war: Ein Mensch, der wie wir alle seine
guten und schlechten Seiten hatte; seine Fehler und Makellosigkeiten, Schwächen und Stärken,
Lächeln und Tränen.
Er war wunderschön – in jeder Hinsicht. Und von all jenen, die ich je geliebt habe, liebte ich keinen
auf solche Weise wie ihn. Und ich weiß, in diesem Moment, in dem ich hier stehe; ich weiß, dass ich
ihn nicht vergessen können werde, und es vielleicht auch niemals wöllte. Ich möchte mich für immer
daran erinnern, dass er seinen Tee immer mit drei Stücken Zucker getrunken hat und dass er zu klein
war, um an die obersten Schubladen unserer Küchenschränke heranzukommen. Dass er unter der
Dusche gesungen hat und dass seine Lieblingsband bis zum Ende Guns N' Roses war. Dass seine
Augen geleuchtet haben, wenn wir über Musik sprachen und dass es stets sein Traum war, ein
eigenes Stück zu komponieren. Dass er eine Schwäche für gepunktete Socken und Schokolade hatte
und morgens jedes Mal vergessen hat, sich die Zähne zu putzen. Dass er orangene Blusen mit blauen
Hosen kombinierte und es ihm gänzlich egal war, ob seine Sachen zusammen passten. Ich möchte
mich für immer an die Art erinnern, wie er mich angesehen hat und wie seine Stimme klang, wenn er
‚ich liebe dich' sagte. An die Art, wie er mich küsste und wie er meine Hand nahm. An die Art, wie er
lachte und wie er weinte und wie er tanzte und still war und Fahrrad fuhr und Kaffee trank und vom
Ski-fahren sprach und mich kitzelte und Klavier spielte und-"
Harrys Stimme brach. Da war zu vieles; viel zu vieles, an das er sich erinnern wollte. Und er fürchtete
sich so sehr vor dem Tag, an dem er den Klang Louis' Stimme nicht mehr im Kopf haben würde; nicht
mehr die Farbe seiner Augen vor sich sah; sein Gesicht nicht mehr in und auswendig kannte und esfortan nur noch aus Nebel und dem Dunst einer längst vergangenen Erinnerung bestehen würde. Er
fürchtete sich vor dem Tag, an dem die Zeit ihre Arbeit tun Louis Tomlinson aus seinem Gedächtnis
gestrichen sein würde. Er fürchtete sich so sehr davor; so, so sehr.
„Ich kann ihn nicht in Worte fassen. Ich kann Louis nicht einfangen, wie die kleinen Goldfische, nach
denen wir vor so vielen Jahren gemeinsam mit unserem Kescher jagten, oder wie einen der
Schmetterlinge, die wir in unsere hohle Hand lockten. Ich kann ihn nicht halten; ich spüre bereits, wie
er mir entgleitet und das macht mir eine verdammt große Angst. Denn ich habe ihn geliebt; ich habe
ihn so sehr geliebt; so sehr, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Und ich bin dankbar dafür,
dass ich ihn lieben durfte und von ihm geliebt wurde. Ich hätte mir nicht mehr erträumen können.
Wir alle; wir alle, die wir Louis Tomlinson gekannt haben, stehen jetzt vor der Wahl: Entweder, wir
versinken ewig in Trauer über den Verlust eines unendlich wunderbaren Menschen – oder wir finden
uns damit ab, denn so ist es nun einmal gekommen; wir finden uns damit ab und danken Gott, dass
wir die Ehre hatten, dass unser Leben sich für einen Augenblick in der großen unendlichen Weite des
Universums mit dem seinen gekreuzt hat; dass wir für einige Zeit Seite an Seite mit ihm gelebt haben;
dass wir sehen durften, wie das Licht in seinen Augen all die Sterne mühelos überstrahl hat. Ja, es tut
weh, dass wir ihn nie wiedersehen werden – aber wir haben ihn gekannt! Und dafür sollten wir
dankbar sein. Versteht ihr, was ich meine? Wir können trauern und ewig in Selbstmitleid versinken –
oder wir erinnern uns an ihn als den, der er war und freuen uns, diese Augenblicke mit ihm unser
Eigen nennen zu können. Es fällt schwer, aber ich hoffe, dass ich die Kraft finden werde, mich für
letzteres zu entscheiden.
Ich musste auf die schmerzliche Tour lernen, dass wir nicht die Kontrolle darüber haben, was in
unserem Leben geschieht. Obwohl, vielleicht doch. Beides zugleich irgendwie. Ich meine, natürlich
kann man nicht selbst bestimmen, was in seinem Leben passiert – aber man kann immer bestimmen,
wie man damit umgeht. Es ist, wie wenn man ein Haus baut. Die Grundsteine sind gelegt, das
Fundament ist unveränderbar - aber nach oben hin kann man selbst entscheiden, ob und wie man
weiterbauen möchte. Wie unser Leben ist, liegt außerhalb unserer Reichweite – aber wie es wird, das
können wir entscheiden. Es liegt allein in unserer Hand, was wir daraus machen. Aber wir sollten mit
Bedacht wählen, denn was wir allzu oft vergessen: Man hat nur ein Leben. Und vielleicht sollte man
es genießen, mit allem, was man hat. Vielleicht sollte man endlich aufhören, seine Zeit mit Streits
über belanglose Nichtigkeiten zu vergeuden, sondern einfach alle einem zur Verfügung stehenden
Sekunden nutzen, um das zu tun, was einen glücklich macht. Und es macht niemanden glücklich,
tagelang beleidigt oder gemein oder nachtragend zu sein. Wir alle verlieren viel zu oft aus den Augen,
wie endlich unser Leben ist und das wir jeden Tag best-möglichst nutzen sollten. Also lasst uns
einfach freundlich zu einander sein, lasst uns Liebe verbreiten, lasst uns unser Leben in vollsten
Zügen genießen - die guten und die schlechten Tage gleicher Maßen - und lasst uns einfach frei sein!"
Harry hält einen Augenblick inne. Er verflucht seine Angewohnheit, einfach draufloszureden. Das
alles schön und gut, aber in dieser Rede sollte es um Louis gehen.
„Louis war es. Er war frei. Er lebte sein Leben so, wie er es wollte und wie ihn es erfüllte, und dafür
bewundere ich ihn. Wisst ihr, was er einmal zu mir gesagt hat? Er sagte: ‚Lebe, als stürbtest du
Morgen. Handle, als lebtest du für immer.' Ich habe damals nicht verstanden, was er gemeint hat,
aber ich glaube, jetzt tue ich es. Vielleicht meinte er ‚handeln' gleichbedeutend mit ‚verändern'. Ich
denke, er wollte darauf hinaus, dass man zwar so leben sollte, als wäre es morgen schon vorbei; also
jede Sekunde auskosten, jede Chance ergreifen und das Gute wie das Schlechte genießen. Aber
gleichzeitig sollte man sich für die Dinge einsetzen, die man erreichen möchte – ganz so, als würde
man für immer leben. Und er hat es getan. Louis Tomlinson hat stets alles daran gesetzt, diese Welt
zu einer besseren zu machen. Und wir alle sollten uns ein Beispiel an ihm nehmen."
Harry stockt. Es tut weh, sehr weh, von Louis zu sprechen. Vielleicht wird dieser Schmerz ihn bis ans
Ende seines Lebens begleiten.
„Ich erinnere mich an ein Gespräch, das wir einst führten. Ich fragte ihn: ‚Wie sieht die Welt aus, in
der du leben möchtest, Louis?' Und seine Antwort lautete: ‚Nicht so.'
Und er hat Recht. Er hat so Recht.
Wenn ich die Möglichkeit hätte, vor der ganzen Menschheit zu sprechen, dann hätte ich wohl
tausend Stunden reden können. Denn es gibt so vieles, was hier ganz gewaltig schief läuft.Diese Welt geht kaputt, man sieht es an den Meeren, die unter Plastik ersticken, an den Wäldern, die
täglich abgeholzt und stetig kleiner werden. Man sieht es an den Tieren, die unter moralisch absolut
verwerflichen Mitteln gehalten werden, nur um schließlich brutal getötet zu werden. Man sieht es an
den unzähligen Ländern, in denen noch immer Krieg herrscht; in denen Menschen blind andere
ermorden. Man sieht es an der westlichen Welt, die sich Designerklamotten und neuste
Technologien anschafft und nicht einen Euro spendet, nicht wenigstens einen einzigen Brunnen in
Afrika erbauen lässt.
Ist es denn wirklich das Wichtigste auf der Welt, jeden Morgen Salami auf dem Brot zu haben?
Geht es in dieser Welt wirklich nur noch darum, die angesagtesten Filme und Serien zu sehen, das
neuste Handy zu besitzen und die trendigsten Klamotten zu tragen? Es ist traurig, wohin wir
gekommen sind.
Denn was kostet es uns denn, unseren Müll bis zum nächsten Mülleimer zu tragen und ihn nicht
einfach liegen lassen? Was kostet es uns, mal nicht jeden Tag Fleisch zu essen oder aus Glasflaschen,
statt aus Plastikflaschen zu trinken? Was kostet es uns, einfach freundlich zu anderen Menschen zu
sein? Nicht viel, außer vielleicht ein bisschen Zeit und ein paar Cent mehr. Aber das ist es doch wert,
finde ich. Ich kenne so viele Menschen, denen einfach egal ist, wie es den Tieren gegangen ist, die sie
essen oder wie den Menschen, die ihre H&M-Kleidung hergestellt haben. Und ich kenne so viele
Menschen, die bestimmte Gesellschaftsgruppen diskriminieren, verachten und abwerten, dabei hat
das absolut niemand verdient. Mensch ist Mensch und jeder davon ist gleich viel wert, egal, was er
glaubt, woher er kommt, wie er aussieht, was er getan hat oder wen er liebt. Vorurteile und Klischees
sind unfair und einfach nicht zutreffend und jegliche Art von Diskriminierung ist eine zu viel. Warum
kann man andere nicht einfach so akzeptieren, wie sie sind, auch, wenn man vielleicht selbst anders
ist? Warum kann man nicht jeden einfach so leben lassen, wie er es möchte und ihn eben auf seine
Weise glücklich werden lassen, auch wenn man selbst sich das nicht vorstellen könnte? Und warum
verdammt kann man nicht einfach freundlich zu allen sein und andere mit Liebe und Respekt
behandeln?
Ich verstehe es nicht.
Tut ihr es?"
Harry macht eine kurze Pause, hält kurz inne, denn er ist vom Thema abgekommen. Aber eigentlich
ist das nicht schlimm. Denn es musste einmal gesagt werden. Louis hätte es sicher verstanden, wenn
Harry an seinem Grab ein Plädoyer an die Menschlichkeit hält – zumindest hofft Harry das. Nein, er
weiß es. Denn er kennt Louis. Er kennt ihn gut.
„Um Gleichberechtigung und Akzeptanz für alles und jeden zu erreichen, hat diese Welt noch einen
sehr langen Weg zu gehen; und ich frage mich, ob wir das Ziel überhaupt jemals erreichen werden.
Mit der heutigen Gesellschaft wirkt es nicht so; das mag sein – aber vergesst nicht, dass wir die
Gesellschaft sind. Und wir alle, jeder einzelne von uns, können etwas verändern. Wie heißt es gleich
so schön? ‚Denn die Menschen, die verrückt genug sind, zu glauben, sie könnten die Welt verändern,
sind die, die es tun'. Weshalb nicht heute damit anfangen?
Und ganz gleich, woran wir glauben und welche Werte uns wichtig sind, wir sind alle Menschen. Wir
sollten aufhören, uns fortwährend nur zu hassen. Warum Hass verbreiten, wenn man es doch auch
mit Liebe tun könnte? Hass zerstört, doch Liebe macht ganz. Hass trennt, doch Liebe vereint. Hass
erbringt Tränen, doch Liebe lässt lächeln. Also lasst uns Liebe in die Herzen anderer tragen, in Zeiten,
in denen sie so voller Hass sind. Ich bitte euch, geht hinaus. Verbreitet Liebe, verbreitet Glück,
verbreitet Lachen, verbreitet Positivität, verbreitet Hoffnung.
Denn jeder verdient es, glücklich zu sein.
Und im Grunde sind wir doch alle nur Menschen."
Für einen Moment bleibt nur Stille hinter seinen Worten zurück, doch dann wird der Saal erfüllt von
dem Klatschen tausender Hände. Und plötzlich fragt Harry sich, ob Louis noch irgendwo da draußen
ist; ob irgendetwas von ihm zurückgeblieben ist und er Harry jetzt vielleicht sieht, jetzt, in diesem
Moment; ob er hier ist, und Harry ihn nie verloren hat; nie wirklich; nie ganz. Er wird es nie
herausfinden, dass weiß er. Und er weiß nicht, ob er das gut oder schlecht finden soll. Denn das
würde wohl von der Antwort abhängen; von der Antwort, die entweder all seine Träume erfüllen
oder all seine Hoffnungen in den Sand setzen könnte.Aber schlussendlich ist es auch egal, ob ein Teil von Louis Tomlinson auf dieser Erde geblieben ist –
denn er wird sowieso für immer in Harrys Herzen sein. Geliebte Menschen können uns nie ganz
verlassen, denn ein winziges Stückchen von ihnen behalten wir bei uns; wir bewahren es;
beschützen es vor dem Zerfall der Endlichkeit.
Harry weiß, dass er Louis für immer in seinem Herzen tragen wird. Und irgendwie entlockt ihm das
eine Träne, die in der eisigen Kälte eine warme Spur auf seiner Wange hinterlässt.

099.
Harry ist erfüllt von Erinnerungen. Und dennoch so leer wie noch nie.
„Das Leben zeichnet uns, wir alle sind gezeichnet. Wir tragen seine Spuren auf unserer Haut, manche
unsichtbar und manche klar wie Tinte. Ich besitze viele solcher Zeichen, manche sind klein und leicht
zu übersehen, andere flächendeckend und auffallend. Ihre Linien ziehen sich über meinen Körper,
verschlingen und verflechten sich ineinander, bilden Formen und Muster. Und wenn man mich fragt,
was mich am meisten gezeichnet hat, dann werde ich sagen, dass warst du. Denn du hast mich am
meisten berührt. Von allen.
Und ich habe begriffen, dass ich nie wieder jemanden so lieben kann wie dich."

100.
Leben ist Schall und Rauch. Unaufhaltsam rieseln die gelben Körner durch die Sanduhr, größer und
größer wird der Berg auf ihrem Grund. Alles, was bleibt, ist die Erinnerung - und vielleicht der damit
verbundene Schmerz, was man alles verloren hat. Leben ist Schall und Rauch, nichts weiter.
Und der Schmerz nistet sich in Harrys Herzen ein und er trägt ihn fortan mit sich.

000.
„Harry?"
„Ja?"
„Wer war deine erste Liebe?"
„Meine erste Liebe? Um Himmels Willen, das ist ja ewig her."
„Egal. Erzähl' mir von ihr. Was ihr zusammen unternommen habt, wie du dich gefühlt hast, wer sie
war."
„Oh, wenn du wüsstest, honey. Wenn du wüsstest..."
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„Ich liebe dich, Louis", sagt Harry und sieht den anderen an. Louis läuft neben Harry und beiläufig
berühren sich ihre Hände. In Harry kribbelt alles. „Kann ich verstehen", entgegnet Louis mit diesem
Lächeln, von dem Harry nicht genug kriegen kann und das so viel Wärme in seinem Bauch entstehen
lässt. Und wer wäre er, dass dieses Lächeln nicht alles wäre, was er je bräuchte, um glücklich zu sein?
Im Umkehrschluss war das Fehlen dieses Lächelns jedoch auch alles, was ihn vollständig und restlos
zerstören könnte. Bevor Harry etwas erwidern kann – denn Louis weiß, Harry ist sehr gut im Kontern
– rennt Louis los, um vor Harry den Gipfel des kleinen Berges zu erreichen. Oben angelangt dreht ersich herum, das braune Haar fliegt ihm um die Ohren, das er mühsam zu bändigen versucht, und
seine blauen Augen funkeln in der Wintersonne.

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