Ungereimtheiten
Drei Tage später fühlte ich mich wieder um einiges besser. Die Benommenheit und bleierne Müdigkeit verschwand allmählich und ich hielt mich wieder draußen auf.
Der Sturm hatte sich noch am Tage nach unserer Rückkehr gelegt, aber viele Schäden hinterlassen. Von Anne hörte ich, dass das Dach eines der Freilaufställe der Jungpferde zerstört wurde und einige Zäune in Mitleidenschaft gezogen wurden. Außerdem war das Dach über dem Heuboden undicht geworden. Seit dem Morgen arbeiteten Dachdecker dort, um das anderthalb Meter breite Loch wieder zu schließen.
Ich verbrachte viel Zeit auf meinem Balkon oder im Garten und dachte über die vergangenen Tage nach. Der Gedanke daran, wie der Ast mich getroffen hatte, rief ein unwohles Gefühl in mir hoch. Was mir aber mehr zu bedenken gab, war die Situation mit Harry.
Was waren wir jetzt? Wir würde das mit uns weitergehen?
Würden wir so tun, als sei einfach nichts passiert? Würden wir uns weiter ankeifen und voneinander genervt sein? Oder hätten wir eine Chance darauf, ein normales Verhältnis aufzubauen?
Fragen über Fragen häuften sich in meinem Kopf und wirbelten wie ein dichtes Wirrwarr herum. Aber eine Frage ließ mich nicht los:
Wo war Harry?
Ich hatte vieles erwartet, was passieren würde, nachdem wir zurückkehrten, doch nicht, dass er für mehrere Tage spurlos verschwinden würde.
Mom war gestern wieder nach Hause gefahren, nachdem ich sie davon überzeugen musste, auch die letzten zwei Wochen hierbleiben zu dürfen. Aufgrund des Sturmes hatte sie mit Anne gesprochen und die Zwillinge durften eine Woche länger bleiben. Somit würden wir noch zwei Wochen hier auf dem Hof verbringen.
Ich schlenderte über das Kopfsteinpflaster, die Hände in den Taschen meiner Jeans vergraben und genoss die frische Luft. Die Sonne schien auf mich herab und vertrieb die letzte Kälte des davongezogenen Unwetters. Zum Glück hatte ich nicht mehr als eine etwas dichte Nase und morgendliche Halsschmerzen davongetragen. Noch in der Hütte hatte ich die Befürchtung gehabt, bis zum Semesterbeginn krank zu sein.
»Hallo, Louis!«, rief Gemma mir zu. Sie stand am Putzplatz und wusch eines der Schulpferde.
Lächelnd ging ich zu ihr rüber. Wir hatten seit dem Vorfall nur einmal kurz gesprochen, weil es so viel zu tun gab. »Hey.«
»Du, ich wollte eh noch einmal mit dir reden.« Schuldbewusst schürzte sie die Lippen und schaltete das Wasser ab. »Ich hätte es besser wissen sollen. Das Unwetter war schon seit Tagen angekündigt und ich dachte trotzdem, dass wir es schaffen, rechtzeitig zurückzukehren. Es tut mir so leid, was passiert ist. Das wollte ich nicht.«
»Mach dir keinen Kopf. Mir geht’s gut«, beschwichtigte ich sie.
»Wäre Harry nicht sofort losgeritten, wärst du wahrscheinlich gestorben. Wie soll ich mir da keinen Kopf machen? Es ist meine Schuld!«
Ich legte meine Hände auf ihre eingesackten Schultern und schüttelte sie leicht. »Es ist alles gut, Gemma. Ich mache dir keine Vorwürfe, okay?«
»Aber es hätte so viel Schlimmeres passieren können«, hauchte sie aufgelöst und sah mich an. »Ich hätte mir das nie verzeihen können.«
»Ich bin hier, Gems. Ich lebe, und das ist alles, was zählt. Bitte, hör auf, dir Vorwürfe zu machen.«
Ein kleines Lächeln zwang sich auf ihr Gesicht und sie nickte, bevor sie einen undefinierbaren Laut von sich gab und mich in eine feste Umarmung zog. »Ich bin so froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist.«
»Glaub mir, ich auch. Ich sag es nicht gern, aber ich bin froh, dass Harry mich so schnell gefunden hat.« Ich schob sie sanft wieder von mir und sah ihr in die Augen. »Es ist alles gut, okay?«
Sie nickte und wischte sich unterm Auge lang. »Okay«, hauchte sie mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen.
Ich strich ihr noch einmal über den Oberarm, ehe ich mich umdrehte und in den Stall ging. Ich wusste nicht genau, warum, aber ich verspürte den seltsamen Drang, herzukommen. Als ich durch die Stalltür trat, sah ich Prince in seiner Box stehen.
Der Hengst zuckte mit den Ohren, als ich an seine Boxentür herantrat und meine Arme auf die Metallkante legte. »Hallo, Kumpel.«
Schnaubend begrüßte er mich und kam mit gesenktem Kopf zu mir herüber. Sein warmer Atem kitzelte angenehm auf meiner Haut, als er an meinen Händen schnupperte. Ich öffnete eine Hand und hielt ihm die kleine Karotte hin, die ich eben aus der Sattelkammer geholt hatte.
Genüsslich mampfend ließ er mich seine Stirn kraueln. Das weiche Fell fühlte sich gut unter meinen Fingern an. Ich versank in Gedanken und hörte die forschen Schritte, die sich mir schnell näherten, nicht. Erst, als Prince den Kopf von mir wegzog und einen Schritt nach hinten machte, wurde ich stutzig.
Ich drehte mich um, um zu sehen, was los war, und meine Augen trafen auf zwei grimmig dreinblickende Smaragde. Er stand keinen halben Meter von mir entfernt, das Gesicht so düster wie bei sieben Tagen Regenwetter.
Mein Magen kribbelte aufgeregt bei dem unerwarteten Anblick. Ich hatte nicht gedacht, ihn so plötzlich wiederzusehen. »Was ist?«
»Geh von der Box weg«, brummte Harry tief. In seinen Augen schimmerte es gefährlich.
»Was hast du denn jetzt für ein Problem?«, fragte ich völlig irritiert und stieß mit dem Rücken gegen die Boxentür, als ich einen Schritt von ihm zurückweichen wollte, um ein wenig Raum zwischen uns zu bringen.
Er folgte mir mit einem großen Schritt. Seine Hand legte sich um meine Kehle und er presste mich fest gegen die Tür. Prince hinter mir schnaubte aufgebracht und ich hörte ihn unruhig mit den Hufen aufstampfen. »Ich sagte: Geh von der Box weg.«
»Das habe ich schon verstanden.«
»Und warum tust du denn nicht einmal, was man dir sagt?«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Trotzig reckte ich das Kinn und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, was sein kontrollierender Griff um meinen Hals mit mir machte. »Weil ich mir von dir gar nichts sagen lasse. Jedenfalls nicht in diesem Ton. Ein „Bitte“ würde manchmal nicht schaden.«
Ohne ein weiteres Wort lösten sich seine Finger, was mich aufatmen ließ. Doch im nächsten Moment keuchte ich auf, als er mich fest an den Schultern packte und zur Seite stieß. Überrascht riss ich die Augen auf und taumelte einige Meter nach rechts. Gerade rechtzeitig konnte ich mich abfangen, bevor ich beinahe in die Schubkarre mit zwei Futtersäcken und Eimern gefallen wäre.
Scheiße, das hätte sicher wehgetan.
Entsetzt hielt ich mich an den Gitterstäben fest, die mich vor dem sicheren Fall bewahrt hatten. Dann drehte ich mich mit offenem Mund herum.
»Sag mal, geht’s eigentlich noch?« Wut kochte in mir hoch und ich bedachte Harry eines abfälligen Blickes. »Was zum Teufel sollte das?«
Er antwortete mir nicht, was mich nur noch wütender machte. Ich ließ den Metallstab los und trat entschlossen auf ihn zu. Er hatte die Boxentür zu Prince‘ Box geöffnet. Der Hengst tänzelte hin und her und riss den Kopf hoch, als Harry ihm das Halfter aufsetzen wollte.
»Jetzt komm schon«, knurrte der und griff nach oben, aber Prince wich auf seinen Paddock aus. Harry fuhr sich durch die Haare. Von hinten packte ich ihn am Kragen und riss ihn zurück. »Was zum-«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, da holte ich aus und ließ meine Hand auf sein Gesicht zu sausen. Ich war noch nie ein Fan von Gewalt gewesen, hatte sie noch nie gegen eine andere Person angewendet, aber dieser Kerl machte mich rasend. Und wie ich fand, hatte ich das Recht dazu, ihm eine zu verpassen, nachdem er mich durch die Gegend geschupst hatte wie einen Flummi.
Meine Faust traf auf seine Wange und wir zischten zeitgleich auf. Meine Knöchel schmerzten und ich schüttelte meine Hand, während Harry sich mit aufgerissenen Augen an die Wange fasste. Die Stelle, an der ich ihn getroffen hatte, wurde bereits rot. Aber ich bereute es nicht. Er hatte nichts anderes verdient.
»Du kleiner-«, begann er und überbrückte erneut den Abstand zwischen uns, bevor ich mich auch nur rühren konnte. Ich versuchte, mich zu wehren, als er mich mit festem Griff um den Arm mit sich zog.
// Ich bin noch nicht zu spät :)
Was meint ihr, wo Harry war?
Findet ihr Louis' Gedankengang nachvollziehbar?
Und was denkt ihr über Harrys Verhalten?
Bis dann,
Lea
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