Kapitel 4

Der nächste Tag ist ein Montag, ich hasse Montage, aber trotzdem stehe ich auf und mache mich fertig, immerhin will ich nicht zu spät kommen. Die Ausbildung zur Notfallsanitäterin ist auch um einiges interessanter als Schule und deswegen freue ich mich jeden Tag aus neue, hin zu gehen und etwas zu lernen.

Nach dem Frühstück fahren mein Bruder, mein Vater und ich los, ich habe Glück das die beiden heute Schichtbeginn haben, wenn ich Ausbildungsbeginn haben und sie mich deswegen mitnehmen. Auf dem Weg fahren wir durch eine paar kleine Seitenstraßen und als wir um die Ecke biegen, sehen wir einen schwarzen Mann den Gehsteig entlang laufen, als plötzlich ein weißer Mann aus einer Nische auftaucht und eine Waffe auf den Schwarzen richtet. Mein Vater bremst und stiegt aus, mein Bruder ebenso und auch ich steige aus. Der bedrohte Mann hat währenddessen die Arme hochgenommen um zu zeigen, dass er unbewaffnet ist. Der weiße Mann hat uns noch nicht bemerkt, er ist zu sehr damit beschäftigt, den armen Mann zu beleidigen, den ich beim näheren hin schauen als unseren lieben, alten Nachbarn Mr. Lenai erkenne, mit seinem grauen Dreitagebart, der Glatze und dem breiten Körperbau. „Hey, nehmen Sie die Waffe runter und lassen Sie den armen Herr in Ruhe!", ruft mein Vater und der weiße Mann dreht sich zu ihm um. „Wieso sollte ich, er hat mich gedroht, mir etwas anzuhängen, was ich nicht getan habe", entgegnet der Mann. „Das ist Quatsch, Mr. Lenai ist ein lieber Mensch, so etwas würde er nicht tun", mischt sich mein Bruder nun auch ein. „Na ja ist auch egal, was er getan hat oder nicht, sterben muss er trotzdem", murmelt der Mann und ohne mit der Wimper zu zucken, schießt er Mr. Lenai in die Brust.

Da ich im Gegensatz zu meinem Bruder und meinem Vater im Schatten der Häuser hinter einem Vorsprung stehe, ich hatte mich nicht getraut, mich dem weißen Mann zu zeigen, ziehe ich mein Handy hervor und rufe den Notdienst, sowie die Polizei. Dann eile ich zu Mr.Lenai, darauf bedacht, leise zu sein und vor allem nicht auf die vielen Glasscherben zu treten, die überall rumliegen, Mr. Lenai ist wohl zwei Flaschen Milch kaufen gewesen, denn diese ist auch überall verteilt. Hoffentlich hat mich der weiße Mann nicht bemerkt.
Unser Nachbar liegt auf dem Boden, er stöhnt und er atmet unregelmäßig, die Kugel hat ihn genau in die Brust getroffen.

Ich nehme seine Hand und der alte Herr schlägt mühevoll seine Augen auf. „Oryana...", bringt er mühsam hervor, als er mich erkennt. „Sagen Sie nichts, schonen sie ihre Kräfte", sage ich und drücke seine Hand. Nach außen hin versuche ich ruhig zu sein, doch innerlich bin ich das reinste Chaos, mein Herz rast und ich habe Angst, Angst dass der Mann meiner Familie und mir auch etwas antut. Vorsichtig werfe ich einen Blick zu meinem Vater und meinem Bruder und dem, der geschossen hat, er richtet die Waffe mittlerweile auf die beiden. Ich ziehe scharf die Luft ein und will schon etwas schreien, um den Typen abzulenken, als ich wieder Mr. Lenais schwache Stimme vernehme:„ Bitte ... sag Alisha, da..,dass  ich sie lieb habe." Ich nicke, das würde ich natürlich tun, ich würde Mr. Lenais Tochter  sagen, dass ihr Vater sie geliebt hat. Allein schon durch die Wortwahl meiner Gedanken zucke ich zusammen, das hört sich so an, als wäre er schon tot. „Sie müssen durchhalten, der Rettungswagen ist sicherlich gleich da, sie schaffen das, sie wollen doch ihre Tochter wiedersehen."

Aus Mr. Lenais Kehle kam nur ein Röcheln, doch dann verstand ich folgende Wörter: liebe Alisha, gehe geliebten Frau. Dann tut Mr. Lenai seinen letzten Atemzug und sein Kopf fällt zur Seite. Ich lasse seine Hand los und muss tief einatmen, versuche den Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken, doch stattdessen steigen mir die Tränen in die Augen und mir wird erst so richtig bewusst, was eben geschehen ist, ich habe mitangesehen, wir unsere unbewaffneter, lieber Nachbar erschossen wurde und ich bin die, die seine letzten Worte gehört und seine Hand gehalten hat, als er gestorben ist.
*** 08.07.2020 683 Wörter

Die nächsten Stunden sind einfach an mir vorbeigezogen, ich habe zwar alles wahrgenommen und auf Fragen geantwortet, doch ansonsten komme ich mir vor wie betäubt, ich rede nicht, ich bewege mich kaum, an mir zieht einfach alles vorbei. Ein paar Minuten nach Mr. Lenais Tod ist der Krankenwagen, sowie die Polizei eingetroffen. Der Mann wird in gewahrsam genommen, die Notfallsanitäter nehmen die Leiche mit und mein Vater, mein Bruder und ich werden auf das Revier mitgenommen und müssen getrennt voneinander unsere Aussage mache. Ich erzähle den Leuten genau, was passiert ist, doch glaube ich nicht, dass es etwas bringen wird, denn für gewöhnlich wird niemand für Mord auf der Straße hinter Gittern gebracht, was auch daran liegen könnte, das es eigentlich nie Zeugen gibt.

Nachdem wir alle unsere Aussage getätigt haben, fahren wir zu unserem eigentlichen Ziel, mein Vater und mein Bruder haben Glück, kurz vor Schichtwechsel ist noch ein schwerer Notfall reingekommen, die die Nachtschicht noch übernommen hat und da danach das Fahrzeug sauber gemacht und neu gefüllt worden musste, ich will nicht wissen, wie schwer der Notfall gewesen sein muss, ist es nicht so schlimm, dass sie Rund zwei Stunden zu spät sind. Ihre Kollegen, die deswegen Überstunden machen mussten, sind zwar nicht sonderlich glücklich, doch als sie den Grund erfahren, sind sie sehr Verständnisvoll.

Schnellen Schrittes mache ich mich auch auf dem Weg zu unserem Ausbildungsraum und klopfe an die Tür. „Herein", ertönt die Stimme unseres Ausbilders. Er ist ein freundlicher Mann, Anfang dreißig und ebenfalls Notfallsanitäter, was man aber ihm ersten Moment auf Grund seines schmächtigen Aussehens nicht vermuten würde, hätte ich ihm einen Job zu teilen müssen, auf Grund seines Aussehens wäre es ITler gewesen.
„Ah Guten Morgen, Fräulein Maragolys kommen Sie nun auch, Sie sind nur knappe zwei Stunden zu spät", begrüßt er mich, nachdem ich den Raum betreten habe. Ich husche schnell zu meinem Platz, bevor ich ihn antworte: „ Ihnen auch einen guten Morgen, bitte entschuldigen Sie die Verspätung, ich war bis eben bei der Polizei um eine Zeugenaussage zu machen." Mein Ausbilder zieht fragend eine Augenbraue hoch, nickt dann aber und setzt seinen Unterricht fort. Meine Freundin Sanam stößt mich an und fragt flüsternd:„ Was ist passiert?" Ich antworte leise, dass ich es ihr später erzählen würde und wende dann meine volle Konzentration auf den Unterricht.

Als es zur Mittagspause klingelt, machen Sanam und ich uns auf den Weg zu Kantine und ich erzähle ihr knapp, was heute morgen passiert. „Okay, das ist krass, der arme Mr.Lenai, er hat mich immer so freundlich gegrüßt wenn ich zu euch gekommen bin und wir uns begegnet sind", meint sie bedrückt und streicht sich eine ihrer schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht, bevor sie meine Hand nahm und fragt:„ Meinst du kannst das verarbeiten, wenn du reden willst, ich bin für dich da." „Es geht schon", winke ich ab, meine Devise ist im Moment verdrängen und nicht daran denken, was passiert ist.
Von ihrer Art erinnert mich Sanam häufig an meine Cousine Saavik, ach wie sehr ich sie vermisste und gerne wissen würde, wie es ihr geht oder ob sie überhaupt noch am Leben ist. Vor einem Jahr sind mein Onkel Erwaen, der Bruder meines Vaters, meine Tante Darja und meine Cousine Saavik in der Nacht verschwunden, wir haben seit dem nichts mehr von ihnen gehört. Ich denke oft an sie und vermisse meine Cousine wirklich dolle, sie ist wie meine beste Freundin.
   *** 09.07.2020 - 567 Wörter

Zurück zu Hause frage ich mich, ob Alisha schon Bescheid weiß und wann ich ihr die letzten Worte ihres Vaters sagen soll. „Was meinst du Moma weiß Alisha schon Bescheid?" „Da bin ich mir ziemlich sicher Schatz, die Sanis haben ihr diese schrecklich Nachricht bestimmt überbracht, nachdem sein Tod offiziell festgestellt worden ist, oh das arme Mädchen", antwortet meine Mutter und sie seufzt traurig.

Einige Stunden später sehe ich ein schwarzes Auto in die Einfahrt von Mr.Lenais Haus fahren und Alisha steigt aus, trotz des großen Abstandes, sieht man, dass sie geweint hat, ihre Augen sind rot und verquollen. Bevor ich die Tür öffnen kann, ist meine Mutter schon da und bittet Alisha herein. „Du solltest jetzt nicht alleine sein. Willst du was essen oder etwas trinken?", meint meine Mutter fürsorglich. Alisha nickt dankbar, doch etwas zu essen lehnt sie ab, verständlich meiner Meinung nach, in so einer Situation würde ich auch keinen Bissen runterbekommen.

Wir setzten uns im Wohnzimmer auf die Couch und meine Mutter und ich jeweils auf einer Seite von Alisha uns versuchen sie mit unserer Anwesenheit zu trösten. Währenddessen überlege ich, wie ich Alisha die letzten Worte ihres Vater sagen sollte, sollte ich erst etwas vorwegsagen oder sollte ich einfach mit diesen Worten beginnen. Ich beiße mir auf die Lippe und überlege und dann breche ich das Schweigen, um Alisha endlich die letzten Worte ihres Vater zu sagen, ob sie sie trösten weiß ich nicht, doch ich hoffe es.
„Kurz vor seinem Tod wollte dein Vater, dass ich dir sage, dass er dich lieb habe. Er hat dich lieb gehabt Alisha, denk immer daran."

Alisha ringt sich ein Lächeln ab und sagt dann mit belegter Stimme: „Danke, ich habe meinen Vater auch geliebt, ich hoffe er hat das gewusst, bevor er starb und jetzt ist er bei meiner Mama und da wird er auch geliebt. „Da bin ich mir sicher Liebes, dein Vater hat gewusst, dass du ihn lieb hast", meint meine Mutter sanft und ich umarme Alisha. Sie ist so alt wie mein Bruder und ganz allein, ihr Eltern sind beide Tod, ihr Vater starb heute, weil ein weißer Mann ihn einfach erschoss, weil er etwas gesehen hat, was er nicht sehen sollte und ihre Mutter starb als sie vierzehn an Krebs. Es war hart gewesen, für Alisha und Mr.Lenai mit ihrem Tod irgendwie zurecht zu kommen, aber vor allem für Mrs.Lenai die einen aussichtslosen Kampf gekämpft hat, um noch etwas für ihre Lieben da sein zu können und trotz ihrer Bemühungen ist sie gestorben.

Die Haustür fällt laut ins Schloss und man hört meinen Bruder und meinen Vater reden und den Flur entlang gehen, dann beteten sie das Wohnzimmer. Die beiden umarmen Alisha und entrichten ihr aufrichtiges Beileid. „Über was habt ihr eben so laut geredet?", will meine Mutter dann wissen. „Die Polizei hat den Täter einfach wieder auf freien Fuß gelassen. Er ist ebenfalls Polizist, dass er gesagt hat, Mr. Lenai müsste so oder so sterben, egal was er getan habe, hat die gar nicht interessiert", macht Yaris seinem Ärger Luft,„ ich wette Mr.Lenai hat gesehen, wie der Typ Drogen vertickt hat oder so was und damit er ihn nicht verrät, hat er ihn erschossen. Ich frage mich immer noch, welche Geschichte er seinen Kollegen erzählt hat, das sie ihm glauben, den Mr. Lenai hatte nicht dabei, was auch nur ansatzweise wie eine Waffe aussah." Während er das gesagt hat, ist die arme Alisha in Tränen ausgebrochen und er nimmt er sie in den Arm.
Ich hole tief Luft, ich habe sie unbewusst angehalten, während Yaris erzählt hat. Der Mörder, würde vermutlich nicht bestraft werden, die obligatorische Gerichtsentscheidung steht zwar noch aus, doch obwohl es dieses Mal sogar Zeugen gibt, ist die Chance, dass der Täter zu Rechenschaft gezogen wird, so gering wie immer, da er ein Polizist ist. So ist es immer, entweder gibt es keine Zeugen oder der Täter ist ein Polizist und diese werden nie zur Rechenschaft gezogen, weil es kann ja wirklich sein, dass ein Schwarzer den Beamten beleidigt und angegriffen hat. Die meisten trauen sich zwar nicht mal mehr, einen Polizisten überhaupt anzusehen, doch der Polizist hat niemals falsch gehandelt. Ich könnte mich stundenlang darüber aufregen, doch helfen tut das auch nicht, ich müsste etwas tun, um etwas zu
ändern, doch das traue ich mich nicht.
***10.07.2020 - 723 Wörter
Insgesamt: 1973 Wörter

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